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Joe Brewer spricht sehr viel über den globalen Kollaps. Seiner Meinung nach besteht einer unserer Fehler darin, zu denken, dass der globale Kollaps ein einzelnes katastrophales Ereignis ist. Für ihn ist es vielmehr ein lang andauernder Prozess, in dem wir uns bereits befinden. Wenn Joe Brewer davon spricht, mit diesem Zusammenbruch umgehen zu können, meint er etwas völlig anderes, als wir erwarten würden
evolve: Sie sprechen von unserem Umgang mit dem planetaren Zusammenbruch. Was meinen Sie damit?
Joe Brewer: Das Wort »Umgang« ist eine Provokation, denn wir können mit diesem Kollaps nicht umgehen. Deshalb müssen wir lernen, wie wir mit unseren eigenen Gefühlen umgehen können, wenn wir uns etwas stellen, das nicht zu bewältigen ist. Für diesen Umgang mit etwas, das wir nicht bewältigen können, sind eine Art von Achtsamkeitsmeditation sowie emotionale und soziale Fertigkeiten notwendig. Der deutsche Psychologe Dietrich Dörner erforschte, wie Menschen Entscheidungen treffen, wenn sie mit Komplexität zu tun haben. Er beobachtete, dass in den Entscheidungen katastrophale Fehler auftauchten, wenn die Menschen aufhörten, Fragen zu stellen. Der Schlüssel im Umgang mit Komplexität ist also, in einer forschenden Haltung zu bleiben und einem statischen Denkmodell zu widerstehen. Wir müssen in einer forschenden Haltung bleiben, weiter Fragen stellen, weiter lernen, beweglich und offen sein, neugierig und wissbegierig, demütig und nicht überheblich.
Eine authentische Beziehung mit der Welt
e: Sie sagen, dass der Kollaps bereits stattfindet; wir müssen also zusammen weise Lösungen finden, egal, wie schwierig und herausfordernd die Situationen sind.
JB: Ein Aspekt bei der Akzeptanz des Zusammenbruchs steht damit in Beziehung, wie wir mit Trauer und Trauma umgehen. Aus der Erforschung des Trauerprozesses haben wir gelernt, dass es ein frühes Stadium gibt, in dem der Mensch emotional überwältigt ist, er ist verwirrt, wütend, ängstlich, panisch, er zieht sich in eine Ablenkung oder Täuschung zurück und kann die Wirklichkeit nicht akzeptieren. Wenn er im Trauerprozess weitergeht, kommt er zu einer Akzeptanz, und daraus verändert sich die Beziehung zur eigenen Geschichte. Wenn ich um meine Mutter trauere, dann akzeptiere ich, dass ich jemand bin, dessen Mutter gestorben ist. Wenn ich diese neue Beziehung zur Wirklichkeit akzeptieren kann, dann kann ich mit der Welt realistischer umgehen.
Wenn wir den Kollaps akzeptieren, verstehen wir, dass es Dinge gibt, die wir nicht verändern können. Aber wenn wir uns ehrlich den Ereignissen stellen, können wir in einer authentischen Beziehung mit uns selbst sein. Dies ermöglicht eine authentische Beziehung mit der Welt. Von diesem Ausgangspunkt aus wird ein Umgang mit dem Zusammenbruch möglich. Vorher sind wir nicht dazu in der Lage, weil wir nicht in einer authentischen Beziehung mit der Welt und mit uns selbst sind.
Das Berührende daran ist, dass es sehr menschlich ist. Es erinnert uns daran, dass wir als Menschen Körper haben; unsere Körper haben Emotionen und unsere Emotionen formen unsere Werte; unsere Werte formen unser Verhalten – und all das ist miteinander verbunden. Die Antwort auf die Situation des Planeten beginnt mit unserer Beziehung zu unserem eigenen Körper. So wird unser Körper zu dem Instrument, mit dem wir uns durch die Situation navigieren. Wenn wir auf unseren eigenen Körper achtgeben, können wir präsent sein und intelligent auf unsere Umgebung antworten. Das ist die Grundlage für den Umgang mit der Komplexität der Welt.
e: Das finde ich sehr interessant und überraschend: Wir beginnen mit der Komplexität der Welt, die wir rational verstehen können, aber Sie sagen, die Antwort ist der Körper.
JB: Die größte und grundlegende Erkenntnis der Erforschung des menschlichen Geistes ist, dass der menschliche Geist ein Prozess des Körpers ist. Verstand und Körper sind nicht voneinander zu trennen. In den Kognitionswissenschaften wird dies als Embodiment, Verkörperung, bezeichnet, womit gemeint ist, dass wir in einer dynamischen Beziehung zwischen unserem Gehirn, unserem Körper und unserer Umgebung leben. Wir entdecken, dass der Körper unserer Umgebung den Sinn gibt und daraus entsteht unser Bewusstsein. Es gibt verschiedene Ebenen der Komplexität in der Wirkung des menschlichen Geistes, aber im Grunde ist der Verstand ein körperlicher Prozess.
Wenn wir eine authentische Beziehung zu unseren Emotionen und unserem Körper als lebendigem System entwickeln, das mit unserer Umgebung in Beziehung steht, können wir auch die Aspekte dieser Umgebung neu betrachten. Das ist eine erstaunliche Erkenntnis, denn dadurch können wir beispielsweise erkennen, dass sich unser Finanzsystem in einer Weise verhält, welche die Prinzipien des Lebens verletzt. So wird eine Neugestaltung möglich. Wir können ökonomische Gegebenheiten so gestalten, dass sie auf lebendigen Systemen beruhen.
Die Illusion der Trennung von Geist und Körper ist genau dieselbe wie die Illusion einer Trennung des Menschen vom Rest der Natur. Wir haben unwissentlich die Umwelt zerstört, weil wir eine Geschichte der Getrenntheit geschaffen haben, die wir in unserer modernen industriellen Welt ausleben und die auf einer fundamentalen Unwahrheit basiert.
Was ist die ökologische Krise? Sie ist eine schlecht bewältigte Beziehung des Menschen mit dem Rest der Natur. Wir können diese Beziehung korrigieren, indem wir uns zuerst selbst als körperliche Wesen erfahren. Ein Aspekt unserer körperlichen Existenz ist, dass unser Körper Nahrung braucht, er benötigt Wasser, Energie, Nährstoffe; alle diese Dinge verbinden uns mit jedem anderen Lebewesen auf der Erde.
Die Antwort auf die Situation des Planeten beginnt mit unserer Beziehung zu unserem eigenen Körper.
Beim Menschen gibt es auch einzigartige Aspekte: Wir haben ein besonderes soziales Bedürfnis, wir wollen Teil einer sozialen Gruppe sein. Wir brauchen eine Identität, welche mit einer Gruppe verbunden ist; wir brauchen eine gemeinsame Sprache und Kommunikation, um uns mit anderen Menschen emotional zu verbinden. Die Heilung, die wir benötigen, um die Gesundheit unseres Planeten wiederherzustellen, ist die Heilung, die wir zwischen uns selbst und dem Rest der Menschheit erfahren. Unsere Beziehung mit dem Rest der Menschheit kommt aus dem Verstehen, dass die Menschheit ein Teil der Natur ist – und unsere Menschlichkeit zeigt sich in unseren sozialen Interaktionen von einem Menschen zum anderen.
Teilhabe am Lebendigen
e: Es erscheint, dass wir unser Verständnis von »Nicht-Trennung« vertiefen müssen.
JB: Ja, wir müssen diese Nichtgetrenntheit körperlich einüben. Dieser Übungsweg hat etwas mit Partizipation zu tun. Partizipa - tion bedeutet die Teilhabe an etwas, das größer ist als wir selbst. Wir entwickeln eine Unterscheidungs- und Entscheidungsfähigkeit, damit wir in unserer Teilhabe in der Lage sind, Entscheidungen zu treffen und zu handeln. Wir sind im Körper präsent, unsere Emotionen und unsere Motivation sind verbunden; und wir sind mit etwas verbunden, das mehr ist, als wir selbst.
Als Menschheit befinden wir uns in einer Krise der Verzweiflung, Angst und Depression. Wenn wir uns mit dem Wunsch des Körpers nach Lebendigkeit verbinden, dann verbinden wir uns auf die kraftvollste Art wieder mit Sinn und Absicht. Wir können üben, mit unseren Körpern am Wunsch nach Lebendigkeit teil - zuhaben. Der beste Weg, dies zu tun, ist die Entwicklung einer körperbasierten Übungsmethode, wie z.B. Yoga, Gartenarbeit, Improvisationstheater oder etwas anderem. Wir lernen, uns auf die Welt zu beziehen, indem wir in unseren Körpern teilhaben an allem, was um uns herum geschieht.
Wir können üben, mit unseren Körpern am Wunsch nach Lebendigkeit teilzuhaben.
e: Auf der einen Seite fordern Sie uns auf, zurück in unser verkörper - tes Leben zu kommen, andererseits erschaffen wir abstrakte digitale Systeme, deren Algorithmen zunehmend unser Leben bestimmen. Wie können wir diese zwei Dimensionen zusammenbringen?
JB: So wie wir auf der persönlichen Ebene unseren eigenen Körper zur Teilhabe nutzen, müssen wir systematisch an einem kollekti - ven Körper arbeiten, der ebenso spürbar ist wie unser physischer Körper. Der physische Körper, mit dem wir uns in Beziehung set - zen müssen, ist die Landschaft. Die Landschaft einer Wasserschei - de, eines Waldes oder einer Bergkette. In den Versuchen, auf die globale Krise zu antworten, fehlt oft folgende Dimension: Wie können wir uns organisieren, um systemische Auswirkungen zu erreichen. Der kraftvollste Weg, um systemische Auswirkungen zu erreichen, besteht darin, uns auf der Ebene der Landschaften neu zu organisieren.
Um ein Beispiel zu geben: Eine der stärksten Zerstörungskräfte in der Welt ist die industrielle Landwirtschaft. Industrielle Landwirtschaft ist die Art, wie Menschen sich auf eine Landschaft beziehen, indem sie einer Denkweise von Tod und Kontrolle folgen. Wir töten alle Pflanzen- und Tierarten, die wir nicht wollen, wir verwenden Pestizide, roden Wälder – das sind Todesaktivitäten. Dann nutzen wir Maschinen und kultivieren speziell eine Pflanzen- oder Tierart, wie Mais, Rinder oder Schweine.
Was könnte hier eine systemische Lösung sein? Eine systemische Lösung ist die »Regenerative Landwirtschaft«. Regenerative Landwirtschaft ist ein Umgang mit dem Land, eine Beziehung zum Boden, bei der die Heilung des Bodens im Mittelpunkt steht. Wir berücksichtigen verschiedene Tier- und Pflanzenarten, wodurch unser systematischer Umgang mit dem Land einem komplexen Ökosystem gleicht. Wir wenden in einem Feuchtgebiet Techniken der Permakultur an, welche die Nährstoffe filtern, sodass wir keinerlei Verschmutzung verursachen. Wir wenden einen abgestuften Feldwaldbau an, was bedeutet, dass wir Bäume und Büsche pflanzen, die sich gegenseitig dabei unterstützen, Kohlenstoff aufzunehmen und aus der Atmosphäre herauszuholen. In solch einem Lebensraum gedeihen mehr Blumen und damit mehr Blüten und damit auch mehr Insekten, wodurch die Komplexität der Beziehungen im lebendigen System erhöht wird. Wir tun dies, um Nahrung für den Menschen anzubauen, aber es wird auch zur Nahrung für nicht-menschliches Leben. Wenn wir die Landwirtschaft auf der Grundlage einer Regeneration von Ökosystemen verstehen, dann wird die Landschaft zu einer Möglichkeit, uns neu zu organisieren.
Wie handle ich also, um das Leben zu unterstützen und zu fördern, aus einer Haltung heraus, die den Tod akzeptiert?
Tod in neues Leben umwandeln
e: Ich finde Ihre Antwort wieder sehr interessant und überraschend. Ich befragte Sie über systemische Realitäten wie das globale Finanzsystem oder das Internet und seine Algorithmen, welche zunehmend unser globales Leben dominieren. Ihre Antwort auf meine Frage zu einem solchen algorithmischen, globalen technischen System ist die Landschaft.
Nach dieser Perspektive ist der Globus eine Landschaft von Landschaften, in der die Landwirtschaft, unser Finanzsystem und sogar digitale Systeme wie das Internet enthalten sind. Die Perspektive verändert sich jedoch völlig, wenn ich es als eine lebendige, organische Landschaft verstehe.
JB: Unser Finanzsystem ist pathologisch, weil die Art, wie wir Wert und Tausch verstehen, der Biologie und Ökologie der Landschaften zuwiderläuft. Die Korrektur des Finanzsystems liegt darin, ökologische Maßstäbe ins Finanzsystem zu bringen. Wir können die Wertmaßstäbe und das Monitoring so verändern, dass sie ökologisch werden, damit wir ökologische Maßstäbe als unsere finanziellen Maßstäbe verwenden können. Dann würde das finanzielle System genauso wie ein lebendiges System funktionieren – mit dem Fluss von Energie und Nährstoffen für menschliche Gesellschaften als ein Teil des Ökosystems.
Um auf unsere Frage zurückzukommen, wie wir mit dem Zusammenbruch umgehen können: Es ist das Gleiche, als würden wir unseren Küchenabfall kompostieren. Aktuell haben wir ein globales System, welches stirbt und auf einer Logik des Todes gründet. Wir müssen dieses System kompostieren und seinen Tod in neues Leben umwandeln. Wenn ich akzeptiere, dass der Kollaps stattfindet, finde ich eine neue Quelle für Teilhabe und Ermutigung. Meine Beziehung verändert sich von der Frage »Wie kann ich den Kollaps vermeiden?« zu einer Haltung, die sagt: »Zusammenbrüche sind natürlich und geschehen, aber ich möchte das Leben unterstützen und fördern. Wie handle ich also, um das Leben zu unterstützen und zu fördern, aus einer Haltung heraus, die den Tod akzeptiert?« Jetzt bin ich in einer reifen Haltung, aus der ich an der Regenerierung von Landschaften teilhaben kann. Das ist genau das, was die Menschheit braucht, um mit dem Zusammenbruch umgehen zu können und in Zukunft einen Zustand der planetaren Gesundheit zu erreichen.
Author:
Dr. Thomas Steininger
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