Gott ist immer
Sheikh Hassan und ein Weg, der nie endet
April 30, 2024
Seit einigen Jahren wächst das Interesse an neuen Formen von Ritualen, die Menschen als sinnvoll erleben, um Schwellenereignisse zu passieren. Bleiben das Randphänomene oder werden Rituale auch im Mainstream der Kultur wieder wichtiger? Wir haben sechs Menschen, die sich mit rituellen Prozessen beschäftigen, gefragt:
Holger Heiten
Als Selbstschutz haben wir gelernt, Instrumente feinster Wahrnehmung, die uns allen zu eigen sind, angesichts einer lauten und hoch getakteten Werkwelt auf stumpf zu schalten. Rituale, die durch einen klar gesetzten Anfang und ein solches Ende einen fest umrissenen Zeitraum als sakral aus dem profanen Alltag hervorheben, erschaffen als sicher empfundene Räume. In ihnen erlauben wir uns, jene Wahrnehmungsinstrumente wieder auf Empfang zu stellen, und erleben plötzlich eine Welt voller Wunder und komplex verwobener Zusammenhänge. Hier von Magie zu sprechen wäre vermessen, erleben wir so doch eine Wirklichkeit, die ja im Grunde immer so ist.
Die Erfahrung solcher Räume indes, die Selbsterfahrung, die wir in ihnen machen können, erinnert uns daran, wer wir ureigentlich sind, welche Potenziale in uns schlummern und welche Antworten auf unsere großen Fragen bereits in uns angelegt sind. So erinnern Rituale uns an eine fast vergessene Souveränität und zugleich an unser Verwoben-Sein mit allem Leben. Kein Wunder also, dass Rituale eine Renaissance erleben und als Gegengewicht zu einer Leistungsgesellschaft an Bedeutung gewinnen, in der wir glauben, jenes Selbstbewusstsein dem Funktionieren unterordnen zu müssen.
Obwohl wir inzwischen so viele Kolleg*innen ausbildeten, wächst die Nachfrage nach modernen Übergangsritualen in der Natur (zum Beispiel Visionssuchen) nach 25 Jahren stetig weiter.
Sara Topsøe-Jensen
Innerhalb des Theaters und der darstellenden Künste war das Ritual schon immer ein zentrales Element. Das Theater war in seinem Ursprung die Ritualisierung (nachgespielte und choreografierte Darstellungen) von Spiel und Gottesdienst. Es scheint jedoch ein Bedürfnis und eine Sehnsucht danach zu geben, die Sinnhaftigkeit und Heiligkeit von Ritualen wiederzuentdecken.
Im Theater zeigt sich das im Bereich der immersiven und publikumsbeteiligenden Formate, die das Publikum innerhalb eines künstlerischen Rahmens dazu einladen, an kollektiven Aktionen teilzunehmen – oft mit einer Form von Ritual. Im Theater herrscht (wie in allen Kunstformen) eine gewisse Freiheit, da ein Teil des Zwecks des Theaters darin besteht, zu experimentieren – es ist »nicht real«. Daher ist es ein perfekter Ort, um Rituale neu zu entdecken, neu zu definieren und sich mit ihnen auf eine Weise zu verbinden, die sich weniger gefährlich anfühlt, weil es »nur etwas ist, das wir spielen«. Aber wenn sie mit einer tiefen existenziellen Untersuchung und einem Sinn für das Heilige einhergehen, können die Rituale real und lebendig werden. Und es kommt zu einer Wiederentdeckung der inhärenten Bedeutung von Ritualen – nicht nur als ein Spiel.
Cornelius Plache
Ich glaube, dass sich viele Menschen wieder Ritualen zuwenden, weil sich dort eine Sehnsucht nach mehr Verbindung und Lebendigkeit erfüllt. Es ist einfach Nahrung für die Seele, sich über den Rand der erklärbaren Welt auszuweiten und in das unfassbare Lebensgeflecht einzutauchen. Wir sind tief eingewoben, aber die Wunde unserer Trennung ist groß. Rituale kommen wieder, weil sie gebraucht sind. Sie binden uns in die ursprünglichen Kreise des Lebens ein. Das bringt uns nach Hause – als Mitglieder einer großen Lebensgemeinschaft, die gerade so viele Verluste zu beklagen hat!
Wie können wir denn inmitten von so viel Zerstörung herzoffen und handlungsfähig bleiben?
Die wachsende Zahl großer Trauerrituale zeigt mir, wie wichtig rituell eingebettete Räume sind, in denen wir uns mit unserem Schmerz begegnen können, um unsere Trauer zu bewegen. Das stiftet tiefe Verbundenheit und gibt uns neue Kraft, für das Leben da zu sein. Nur – was genau kann ich tun, um sinnvoll dem Leben zu dienen? Die Ahnung, wie mein ureigener Beitrag bedeutsam für die Gemeinschaft wird, entspringt auch den Tiefen des Mysteriums, dem wir uns im Ritual öffnen.
Ich denke, wir werden von den Ritualen gerufen, uns zu erinnern. Vielleicht sind wir nirgendwo so sehr Mensch wie im Ritual. Sie sind unsere älteste Sprache.
Marietta Schürholz
Ja, und sie kommen aus einer archaischen Tiefe, wenn das Leben nach ihnen ruft. Denn Rituale sind, was eine Kultur bildet. Und wenn sich eine neue Kultur herausbildet, sind neue Rituale deren notwendige Bildekraft, ein Parallelprozess, ein Ausdruck des gleichen Schöpfungsimpulses. Was dann erscheint, hat nichts mit der ›Renaissance‹ des Alten und ehemals geübten Formen zu tun.
Was jetzt nach Verwirklichung ruft, erinnert sich an den Urgrund eines Rituals. Es antwortet auf Notwendigkeit! Rituale markieren zum Beispiel Schwellen, akzentuieren den Abschied des Vergangen und den Beginn von etwas qualitativ Anderem. Dabei bedient sich ihre Sprache aus dem breiten Horizont aller gelebten kulturellen Ausformungen, als ob Anthropologen, Völkerkundler, Weltenbummler einer globalen Kultur und spiritueller Aufbruch in den letzten ca. 50 – 70 Jahren ein Quellfeld zusammengetragen hätten. Aus ihm und einem Darüberhinaus taucht – im besten Fall – auf, was im jeweiligen Augenblick, für die jeweilige Notwendigkeit funktionieren kann, und das heißt, was die Kraft besitzt, der Seele ein Bild zu schenken, in dem sie sich selbst neu begreifen und dadurch Vergangenheit und Zukunft mitgestalten kann.
Bei jungen, bewussten Menschen erlebe ich eine intrinsische Notwendigkeit, Rituale für das eigene Erwachsenwerden zu finden. Ob sie sich dabei evolutionär wirklich in eine neue Ära von Verantwortung katapultieren, hängt ganz entscheidend von dem Grad ihres wachen Fühlens und der Präsenzfähigkeit von Zeugen beziehungsweise RaumhalterInnen ab. Häufig verlangt es werdende »Erwachsene« in Abgrenzung zu einem sie einschränkenden Bildungssystem nach Ritualen, welche ihrer Lust auf Lebendigkeit und Selbstermächtigung Stimme geben.
Marko Pogačnik
Wenn ich die erste Frage mit »ja« beantworte, dann möchte ich sofort sagen, dass ich nicht an eine Wiederholung der traditionellen Rituale denke, sondern erstens an Rituale die im täglichen Leben spontan ausgeführt werden, und zweitens an »kreative« Rituale. Mit den alltäglichen Ritualen meine ich die vertiefte Aufmerksamkeit die immer mehr Menschen den Kraftphänomenen in der Natur schenken, indem sie zum Beispiel bei Bäumen einen Moment stehen bleiben, die Augen schließen und sich von der Präsenz des Baumes berühren lassen.
Ich selber arbeite bei meiner geomantischen Praxis mit den kreativen Ritualen. Dabei wird ein Ritual speziell für einen bestimmten Platz vorbereitet, so dass, wenn mit einer Gruppe ausgeführt, etwas Bestimmtes am Ort bewirkt wird. Es kann sich um Kraftausgleich handeln oder den Abbau bestimmter Blockaden.
Es handelt sich um Rituale, die sehr nah an Kunst anzusiedeln sind, bei denen bestimmte Tanzschritte gewählt oder verschiedene Töne angewandt werden. Meine Erfahrung zeigt, dass Menschen immer mehr daran interessiert sind, durch bewusst kreierte Ritualformen mit den elementaren und kosmischen Welten in Kommunikation zu kommen.
Die Rhythmik der freien Ritualarbeit weckt im Menschen Liebesbeziehungen zu anderen Wesenheiten, mit denen wir das Leben auf Erden teilen. Damit so ein liebendes Miteinander zustande kommen kann, ist wichtig, dass die neuen Rituale nicht so wie zum Beispiel Performance nur für menschliche Zuschauer gedacht sind. Vielmehr kann eine Ritualsprache entwickelt werden, aufgrund derer sich auch andere Wesenheiten der Natur wie Elementarwesen angesprochen fühlen, beim Ritual mitzuwirken. Dabei sollte berücksichtigt werden, dass so eine Mitwirkung nur möglich ist, wenn im Ritual eine vertiefte Friedensatmosphäre aufrechterhalten wird.
Isabell Neu
Als anthropologische Konstante sind Rituale auch in unserer säkularen Gesellschaft nie verschwunden. Gleichzeitig gibt es seit den 80er-Jahren ein zunehmendes Interesse, von Schaman*innen und Heiler*innen anderer Kulturen zu lernen, und in meinem Arbeitsfeld beobachte ich eine verstärkte Nachfrage nach bewusst erlebten und begleiteten Übergangsritualen, bei persönlichen Krisen, beruflichen Umbrüchen oder klassischen Lebensübergängen, wie dem Erwachsenwerden. So ist beispielsweise der »walk a way«, ein Initiationsritual für Jugendliche, zur festen Tradition für Abschlussklassen einer Freien Schule geworden.
Der Ethnologe Arnold van Gennep gliederte Übergangsrituale in Trennungs-, Schwellen- und Angliederungsphase, die häufig als Tod, Umwandlung und Wiedergeburt rituell dargestellt werden. Demnach ist das Zurückkommen von Übergangsritualen die logische Folge des globalen Wandels. Die Welt, wie wir sie kennen, befindet sich in einem Sterbeprozess. Individuelle und kollektive Prozesse sind eng miteinander verflochten. In unserem Leben bricht Altes weg, das Neue ist noch nicht greifbar und wir bewegen uns »zwischen den Welten«. Diese von Chaos, Kontrollverlust und Nicht-Wissen gekennzeichnete Schwellenphase bringt eine große Unsicherheit mit sich und wirft existenzielle Fragen auf.
Genau an dieser Stelle brauchen Menschen Rituale als transformative Prozesse, da sie Halt und Sinn geben, resilienzfördernd und vertrauensstärkend wirken und das Empfangen von Lösungen jenseits veralteter Konzepte ermöglichen, bezeugt von der Ritualgemeinschaft. In rituellen Räumen können wir das Verbundensein aller Wesen erfahren und begreifen, dass wir Weltenbürger*innen, Teil der Natur und eines größeren Ganzen sind und folglich Verantwortung für unseren Planeten übernehmen und dem Netz des Lebens dienen.
Bedingt durch den Verlust unserer europäischen rituellen »Wurzeln«, gibt es seit den 80er Jahren eine regelrechte Sehnsucht, von Schaman*innen und Heiler*innen anderer Kulturen zu lernen. Geschieht dies mit Wertschätzung und Respekt für die Tradition und unter Einbezug des kulturellen Kontextes aus dem die Zeremonien kommen, und mit einem wachen Blick dafür, an welchen Stellen wir in eine Ethnoromantik oder Exotisierung rutschen, können wir Wertvolles von anderen Traditionen lernen.