Prozesse, die uns für das Leben öffnen
Physiker, Bewusstseinsforscher, Ritualgestalter – Thilo Hinterberger bringt Gegensätze zusammen und erforscht bewusstseinstheoretisch und ganz lebenspraktisch die Wirkung und Bedeutung von Ritualen.
evolve: Ich finde es spannend, mit dir als theoretischem Bewusstseinspraktiker über Rituale zu sprechen. Ich möchte mit einer grundlegenden Frage beginnen: Wo siehst du den Unterschied zwischen Gewohnheiten und Ritualen?
Thilo Hinterberger: Gewohnheiten werden oft wenig bewusst vollzogen, weil sie sehr gut automatisiert sind. Ein Ritual kann zwar auch gewohnheitsmäßig wiederholt werden, aber es bleibt durch eine bewusste Bedeutungszuweisung gehalten. Vielleicht ist es ein Ritual-Paradoxon: Ein oft wiederholtes Ritual läuft Gefahr, an Bedeutsamkeit zu verlieren, weil es zur Gewohnheit wird. Gleichzeitig hat das Wiederholen eines Rituals den Sinn, die Bedeutung aufrechtzuerhalten, es zu bekräftigen und zu mehren.
Es gibt also einerseits das Abklingen von Bedeutung mit der Wiederholung, andererseits das Ansteigen der Bedeutung durch den bewussten Akt, das Ritual durchzuführen und mit Bedeutung anzureichern. In einem guten Ritual ist die Komponente, die wiederholt wird, nur die Hülle, eine Form, in welche durch die Präsenz und Einzigartigkeit des rituellen Geschehens die Bedeutsamkeit hineingegossen wird. Das Ritual lebt davon, dass es etwas gibt, das über die festgefügte Form hinausgeht.
Man kann das am Beispiel einer Teezeremonie veranschaulichen: Ich kann mir einen Tee kochen und eine Pause daraus machen. Das kann eine Gewohnheit werden. Wenn ich diese Gewohnheit anreichere mit bedeutsamen Aspekten, den Handlungen dabei etwas Symbolhaftes verleihe, in eine Kontemplation eintrete und eine Ausrichtung auf das größere Ganze darin zelebriere, dann erhält das Teetrinken eine Offenheit, wird einzigartig und damit zum Fest. Dann kann jedes Teetrinken zu einem bedeutungsvollen Akt werden.
Erkenntniskraft der Teilhabe
e: Bei der japanischen Teezeremonie sehen wir eine starke Kultivierung dieses Aktes, der unleugbar bei etwas Wesentlichem landet. Und vielleicht liegt die Kraft des Rituals in der Wiederholung auch darin, dass es die Dinge in ihrer Symbolhaftigkeit von einer beiläufigen Handlung zu einer wesentlichen Handlung macht, die außerhalb der Beiläufigkeit steht. Das Wesentliche ist nicht der Zeit unterworfen, es bewährt sich in der Zeit, steht aber außerhalb der Zeit.
TH: Ja, ein Ritual nutzt das sichere Gehaltensein in einem relativ wohldefinierten Ablauf, Setting und Ausrichtung. In der Ritualforschung hat man den Begriff der Performanz geprägt. Man kann ein Ritual unterteilen in eine Vorbereitungsphase, eine Einführungsphase, die einzelnen Ritualhandlungen, eine Ausleitung und eine Integrationsphase. Wie in einer Choreografie wird damit ein Spannungsbogen aufgebaut. Gleichzeitig wird durch diese Form eine Art heiliger Raum geschaffen, und hier gefällt mir tatsächlich der Begriff des Heiligen, in dem sich etwas Transzendentes ereignen kann. Das Wesentliche bei der Ritualgestaltung ist also, dass die Inhalte eine Offenheit ermöglichen, die unseren Geist in eine dem Ritual eigene Welt eintreten lässt und uns so weit über die Grenzen unseres Alltagsbewusstseins hinausträgt. Und hierfür sind Symbole wichtige Instrumente.
»Was sich an Wirkung vollzieht, ist immer ein innerer Bewusstseinsprozess.«
e: Könnte man Performanz auch so verstehen, dass sich die Erkenntniskraft eines Rituals in der Teilhabe zeigt?
TH: Ja, genauso wie das Bewusstsein nur in der Verkörperung, der Innenperspektive, der Teilhabe im Menschsein erlebt werden kann und keiner äußeren Betrachtung zugänglich ist, so ist der äußere Rahmen des Rituals objektiv betrachtet nur eine Form. Ein Gottesdienst ist von außen betrachtet wirkungslos. Was sich an Wirkung vollzieht, ist immer ein innerer Bewusstseinsprozess. Teilhabe bedeutet, dass wir im Ritual leben. Der heilige Raum im Ritual ist der heilige Raum in uns, und der physische Raum ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein wirkmächtiges Symbol für unser essenzielles Erleben. Dieses Erleben im Ritual erzeugt die Kraft und übersteigt letztendlich den Rahmen des Rituals. Das subjektive Erleben ist also entscheidend.
Nun leben wir aber in einer Zeit, in der wir ja einiges über das Bewusstsein gelernt haben und wissen, wie wichtig diese Erlebensprozesse sind. Gleichzeitig werfen wir in einer »aufgeklärten« Kultur die jahrtausendealte Anwendung von Ritualen über den Haufen, so als wären sie nutzlos. Womöglich, weil lediglich auf den äußeren Rahmen geschaut wird, der ja aus der Außenperspektive keine Wirkung bietet.
Placebo-Rituale
e: Ist der Grund dafür nicht auch, dass unsere Kultur nur ein kognitives Verständnis von Erkenntnis erlaubt? Teilhabe oder Erleben als Erkenntnisform wird in den Hintergrund gedrängt.
TH: Viele Menschen sind Suchende und Optimierende, und das Angebot ist vielfältig, da hilft die Rationalität ganz gut. Gleichzeitig kann das orientierungslos machen, was dazu führen kann, dass man sich auf das Konkrete stützt. Ein Beispiel: Ein wichtiges Ritual im Bereich der Heilung ist ja »Ich gehe zum Arzt, bekomme ein Medikament, verhalte mich entsprechend und gehe davon aus, dass ich wieder gesund werde.« Es gibt eine ausgiebige Placebo-Forschung, die belegt, dass der Placeboeffekt manchmal sogar ein dominierender Effekt bei Medikamenten ist und selbst offen verabreichte Placebos wirksam sind. Es ist interessant zu sehen, wie sich hier Rationalität mit der rätselhaften Kraft des Rituals mischt.
e: Der Placeboeffekt und der weiße Kittel in der Schulmedizin wirken. Da stellt sich die Frage: Wie können wir in einer bewusstseinsbewussten aber aufgeklärten Weise über die Natur und Chancen des Rituals sprechen, um das, was wir in diesen Ritualen unbewusst tun, in einer bewussten Art und Weise zu gestalten?
TH: Wir müssten Forschung zur Optimierung des Placeboeffektes betreiben. Und da landen wir letztendlich bei den Wirkmechanismen ritueller Praktiken, weil die hervorragend dazu geeignet sind, den Placeboeffekt zu maximieren. Gleichzeitig wäre zu überlegen, wie zeitgemäße Rituale aussehen könnten. Wir brauchen eine hohe Glaubwürdigkeit, sonst können wir den Ritualen keine Bedeutung geben. Wir können daher nicht einfach schamanische Praktiken durchführen, denn unser Weltbild ist ein anderes geworden. Ich bin davon überzeugt – weil ich es selbst so praktiziere –, dass moderne Rituale in ein wissenschaftliches Weltbild integriert werden können und gleichzeitig den Raum jenseits des Faktischen weit öffnen.
»Wenn wir ein Symbol betrachten, dann kommen wir dadurch in eine Deutungsoffenheit.«
Wir haben vorher von den Symbolen gesprochen. Heutzutage gehen wir intensiv mit Zeichen um, aber Zeichen sind noch keine Symbole. Unser Bewusstsein ist überladen mit Zeichensprache, weil die Welt so abstrakt geworden ist. Diese Zeichen stehen für sehr präzise Dinge, sie geben kaum Interpretationsspielraum. Symbole hingegen gehen in ihrer Bedeutung weit über diese funktionale Geschlossenheit hinaus und können daher in einem Ritual ungleich kreativer verwendet werden.
In die Größe wachsen
e: Diese Unterscheidung zwischen Zeichen und Symbol erscheint mir zentral zu sein. Ein Symbol eröffnet eine Teilhabe an dem, was es symbolisiert. Wenn man sich im Ritual auf das Symbol einlässt, nimmt dich das Symbol mit in die Wirklichkeit dessen, was es symbolisiert – eine Madonnenstatue, Licht, eine Kerze, eine Teezeremonie.
TH: Ja. Das Symbol steht anstelle von etwas, was hinter dem Symbol gemeint ist. Wir schauen durch das Symbol auf etwas, das nicht genau definiert ist, sondern etwas Größeres ist als dieses Symbol. Wenn wir ein Symbol betrachten, dann kommen wir dadurch in eine Deutungsoffenheit, und das Symbol kann sehr viel reicher an Bedeutungen werden als der bloße Gegenstand, den wir als Symbol verwenden. Diese innere Öffnung lässt uns an dem teilhaben, was hinter dem Symbol steht. Und das ist eine größere Wirklichkeit, die auch einen größeren Zusammenhang bildet als das Materielle.
e: Dieses Größere hat zwei Dimensionen. Es ist weiter und bedeutsamer. Es wird als eine Kraft des Wesentlichen wahrgenommen, weil es sich bedeutsamer zeigt.
TH: Auch das Ritual selbst hat diese Symbol-Eigenschaft, dass es für etwas steht. Wenn wir irgendeinen heiligen Akt ausführen, beispielsweise ein Initiationsritual, dann steht dieser Akt für den Übergang von der Jugend ins Erwachsenenalter. So begreife ich im Vollziehen dieses Rituals in konzentrierter Form wichtige Aspekte meines gesamten Werdensprozesses. Oder: Bei einem Hochzeitsritual feiern wir die Vereinigung von zwei Menschen und deren Wunsch, gemeinsam durchs Leben zu gehen. Dieses symbolische Verbinden vollzieht sich dann in einem größeren Kontext des Lebens. Das Ritual steht sinnbildlich für eine Lebensphase. Eine Ehe ist eine Angelegenheit von Jahren, manchmal auch der Prozess, bis man überhaupt so weit ist, heiraten zu können. Ein Ritual kann diese Größe verdeutlichen und damit Kraft in diesen umfassenden Werdensprozess geben.
Leben in die Sichtbarkeit bringen
e: Das Ritual bringt etwas in die Sichtbarkeit wie Adoleszenz oder Ehe, das vorher in seiner Ganzheit nicht sichtbar war. Wenn ich die Ganzheit wahrnehme, kann ich eine sinnhafte Beziehung dazu aufnehmen. Das Ritual erlaubt mir, mit der Adoleszenz, die ich hinter mir lasse, oder in der Ehe, die ich eingehe, eine sinnhafte Beziehung einzugehen.
TH: Wir haben für unsere Kinder ein Lebensfestritual kreiert und überlegt: Wie könnte so ein Ritual aussehen? Was möchten wir den Kindern mit auf ihren Lebensweg geben? Und wir haben gemerkt, es gibt diese Phase im Grundschulalter, in der man lernt, sich auf wesentliche Werte des Lebens auszurichten. Für diese Werte haben wir Symbole gefunden und ein Kartenset kreiert. In der Natur haben wir einen Ritualplatz gefunden und gestaltet, wo die Kinder diese Symbole, die mit Texten unterlegt waren, einsammeln konnten. Das Ganze begleitet mit Klängen, Gong, Musik und Liedern. Am Ende hatten sie ein kleines Schatzkästchen, in dem einzelne Begriffe der Ausrichtung aufgehoben sind wie Geborgenheit, Zuversicht, Liebe, Freude, Freundschaft und so weiter.
»Teilhabe bedeutet, dass wir im Ritual leben.«
Damit haben wir in einer Do-it-yourself-Mentalität versucht, eine zeitgemäße und sinnvolle Zeremonie zu kreieren. Und es war wirklich ein Fest. Das Wichtige dabei ist wie gesagt, dass es mit Bedeutung gefüllt wird, dass die Kinder wissen, es ist nicht nur den Eltern wichtig, sondern auch für sie und ihren Lebensweg. Wir haben deshalb versucht, viele Symbole aufzugreifen, die dem Ganzen etwas Heiliges, etwas Wertvolles verleihen.
e: Es scheint, dass die Eltern eine seelische Verbindung zu etwas Wesentlichem brauchen, um ein Ritual zu gestalten, das dieses Wesentliche anspricht. Dadurch öffnet sich das Verständnis des Wesentlichen. Wie können wir in einer freien, eigenständigen Weise in einer offenen Gesellschaft dem Ritual neue Bedeutung geben?
TH: Es braucht auf jeden Fall eine ganz tiefe Zustimmung zum Inhalt von denen, die das Ritual organisieren und ausführen. Dabei können wir uns daran orientieren, wie das seit Jahrtausenden abgelaufen ist. Es gibt immer einen Ritualmeister, der die Würde in sich trägt, das Ritual mit vollster Überzeugung durchführen zu können. Das heißt, unter Umständen ist es nicht jedermanns Sache, so ein Ritual durchzuführen. Deswegen ist diese Do-it-yourself-Mentalität tatsächlich anspruchsvoll. Es war auch früher nicht jedermanns Sache, sondern man hatte ganz besondere Menschen, die die Rituale glaubwürdig durchführten, so dass die anderen mitgehen konnten.
Wenn wir uns in eine solche Situation begeben, sollten wir wirklich schauen, womit wir uns identifizieren können. Welche Symbole haben für uns noch Kraft? Die Vorbereitung auf dieses Ritual war eine sehr wichtige Sache für uns. So haben wir zum Beispiel ein paar Wochen vor dem Ritual die Kinder eine Lebenskerze gestalten lassen. Da hat jedes Kind sich eine Kerze bemalt oder auch mitgestaltet, und zwar mit Symbolen, die es für sich erkannt hat. Auch haben wir ein Amulett machen lassen, eine Halskette mit einem Symbol darauf, das sie für sich aussuchen konnten. Diese Kette lag im Zentrum des Ritualplatzes. Am Ende haben sie hierfür dann ein Schatzkästchen gefunden.
e: Was ist das Wichtigste, wenn man selbst solche Rituale gestalten will?
TH: Es ist wichtig, diese heilige aber gleichzeitig heitere, lockere und schöne Atmosphäre zu schaffen. Die Stimmung der Natur kommt einem da manchmal gut entgegen. Das Ritual hat eine magische Komponente, die darf sein, und ich möchte ein Ritual nicht auf eine Placebowirkung reduzieren. Wir kommen im Ritual nicht drumherum, diese innere Sichtweise zu kultivieren, dass das, was wir im Ritual erleben, sinnbildlich für etwas Größeres steht, und dieses Größere damit sozusagen magisch aufladen.
Auch die Placebowirkung scheint nicht begrenzt auf die Einbildungskraft, sondern da scheint noch etwas Tieferes und Umfassenderes zu wirken, das auch nicht-lokal größere Prozesse mit anstoßen kann. Immer wieder hört man von Berichten, dass man im Kleinen ein Ritual durchgeführt hat und irgendwo anders etwas passiert, was damit zusammenhängt. Wie auch immer das gedeutet wird, es entzieht sich letztendlich der wissenschaftlichen Zugänglichkeit. Aber deswegen brauchen wir es nicht zu leugnen oder auszuschließen. Im Ritual tragen wir die Präsenz von etwas Numinosem, Unsagbarem, Größerem und Umfassenderem im Bewusstsein und nehmen an, dass dieser größere Zusammenhang unbegrenzt von unserer wissenschaftlichen Denkweise seine Wirkung entfalten darf.