Der Kosmos in uns

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

January 12, 2015

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Ausgabe 05 / 2015
|
January 2015
Vom Körper den wir haben zum Leib der wir sind
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Die Geschichte des Lebens in unserem Körper


Die Entwicklung, die den Kosmos, das Leben und unseren Körper hervorgebracht hat, lebt in uns weiter. Eine Reise durch unsere Entstehungsgeschichte, die heute in uns über sich nachdenkt.

„Wir alle sind aus Sternenstaub“, singt die Band „Ich+Ich in ihrem Song „Vom selben Stern“. Die wissenschaftliche Erkenntnis, dass die Elemente unseres Körpers in einer Supernova entstanden sind, hat Einzug in die Popkultur gehalten. Die Wissenschaft zeigt aber auch, dass alle biologischen Prozesse, die in uns wirken, im unvorstellbar langen Lauf der Evolution entstanden sind. Die Frage ist berechtigt: Was bedeutet das eigentlich für uns – abgesehen von einer poetischen Verwandtschaft von Mensch und Stern oder Mensch und Natur? Vielleicht verstehen wir ja unser Menschsein und damit auch unser Körpersein erst wirklich, wenn wir uns als eingebettet in einen Prozess sehen, der weit über uns hinausgeht und durch uns hindurchläuft – und sich in uns seiner selbst bewusst wird.

Im All geboren

Also, wie ist das nun mit dem Sternenstaub? Um eine sehr sehr lange Gesichte sehr sehr kurz zu machen: In der gigantischen Explosion des Urknalls vor 13,7 Milliarden Jahren entstanden nur zwei Elemente, Wasserstoff und Helium. Diese Elemente verbanden sich etwa 200 Millionen Jahre später unter dem Einfluss der Schwerkraft zu Sternen und in der Folge entstanden Galaxien. In den Sternen, die vor allem aus Wasserstoff bestehen, wird durch Druck uns Hitze mehr Helium produziert. Dabei entsteht Energie, die den Stern leuchten lässt. Wenn der gesamte Wasserstoff zu Helium umgewandelt wurde, verringert sich der Druck in seinem Inneren. Der Stern kann der Schwerkraft nicht mehr standhalten, wird zusammengedrückt und dichter und heißer. Nur unter diesem Druck und dieser Hitze können die schweren Elemente entstehen, aus denen unser Körper und die gesamte materielle Welt besteht. Der sterbende Stern explodiert als Supernova und schleudert die Elemente ins All, aus denen viele Milliarden Jahr später Planeten wie unsere Erde entstehen.

„Deine Augen, dein Gehirn, deine Knochen – alles an dir ist aus Schöpfungen eines Sterns zusammengefügt.“
Brian Swimme


Jetzt, wenn Sie diese Zeilen lesen, tun Sie es in einem Körper und einer Welt, deren Ursprung in diesen kosmischen Explosionen liegt. Der Kosmologe Brian Swimme schreibt: „Das Wasser, das wir trinken, die Luft, die wir atmen, die Nahrung, die wir essen, die Moleküle, aus denen unser Körper besteht – sie alle gehen auf eine Sternenexplosion zurück. … Schau dir deine Hand an. Jedes Element wurde in Temperaturen geschmiedet, die millionenfach heißer sind als geschmolzenes Gestein, jedes Atom wurde in lodernder Sternenhitze geformt, deine Augen, dein Gehirn, deine Knochen – alles an dir ist aus Schöpfungen eines Sterns zusammengefügt. Du bist dieser Stern, in eine Lebensform gebracht, die es dem Leben ermöglicht, sich selbst zu erkennen.“
Aber bis dahin war es noch ein langer Weg.

Wir sind Natur

Vor 4,5 Milliarden Jahre war die Bildung unserer Erde abgeschlossen, ein fester Planet mit einer Temperatur, in der Wasser flüssig bleibt. In den Ozeanen dieses Planeten tat das Univerum einen weiteren unergründlichen Schritt, dem wir unser Leben verdanken und wohl nie ergründen werden. Nicht umsonst nennt ihn der Ökologe Holmes Rolston III den zweiten Urknall: Das Leben kommt in die Welt. Erst sind es Einzeller, dann mehrzellige Organismen. Vor 2,5 Milliarden Jahren entstanden Bakterien, die die Erdatmosphäre umbauten, um die Luft zu ermöglichen, die wir heute atmen: durch Photosynthese konnten sie Sauerstoff bilden. In der nun folgenden Evolution bildete das Leben eine Innovation nach der anderen, denen wir heute unser Leben verdanken: genetischer Code, Sexualität, Immunabwehr, Blutkreislauf, zentrales Nervensystem, Lungenatmung, beidäugig koordiniertes Sehen.

„Wenn man genau hinschaut, dann zeigen sich fast alle Körper als Muster von Verbindung und Überlagerung.“
Andreas Weber


Die neue evolutionäre Entwicklungsbiologie (EvoDevo) zeigt, dass dies nicht einfach nur ein „dummer“ Prozess von Versuch und Irrtum war, sondern eine komplexe Interaktion zwischen jedem Lebewesen und seiner Umwelt und sich verändernder Bedingungen. Die Evolution verläuft nicht blind, sondern „sehend“, vielleicht sogar „intelligent“. In dem Sinne, dass Evolution durch eine wie auch immer geartete Wahrnehmung der Umwelt geschieht, auf die mit Anpassung reagiert wird. Diese Abstimmungsprozesse finden seit Milliarden von Jahren in jeder Zelle, in jedem Lebewesen, in jedem Grashalm, in jeder Schnecke statt – auch in diesem Moment. Ein Spaziergang durch die Natur in diesem Bewusstsein kann uns ein Gefühl dafür geben, in welchem Wunder wir eigentlich unterwegs sind: Die Natur und damit unser Körper ist damit im wahrsten Sinne des Wortes ein intelligentes Netz werdender Lebendigkeit.
In der Integration und Verfeinerung der evolutionären Erfindungen hat unser menschlicher Körper eine nie da gewesene Komplexität erreicht. Nicht nur durch den aufrechten Gang, durch den wir uns als Spezies anschickten, einen anderen Weg als alle anderen Tiere einzuschlagen. Vor allem die Ausprägung unseres Gehirns zum komplexesten Organ der Schöpfung versetzte uns in die Lage, die zu sein, die wir heute sind: selbstbewusste Wesen.
Dabei tragen wir in unserem Gehirn die Geschichte des Lebens in uns: Der Hirnstamm, der die grundlegenden Reflexe und Überlebensfunktionen wie Atmung und Verdauung steuert, das Mittelhirn, das wir mit allen Säugetieren gemein haben und schließlich der Neokortex, der unser selbstreflexives Bewusstsein ermöglicht.
Und dieser Prozess ist nicht abgeschlossen. In der Tat ist der Körper selbst ein ständiger Prozess: Ständig nehmen wir Luft auf und geben sie wieder ab, nehmen Nahrung auf und geben die Abfallprodukte wieder ab und viele Zellen des Körpers werden ständig erneuert. Zwischen zehn und fünfzig Millionen Körperzellen pro Sekunde baut der menschliche Körper ab und ersetzt sie durch neue Zellen.

Lebensfeuer

Dieser kleine Abriss zeigt schon, dass unser Körper mit all seinen fein abgestimmten Systemen ein Werk der Evolution ist – ein wahres Wunderwerk. Und die Lebendigkeit, die wir im Körper spüren, ist der Puls des Lebens selbst. Denn was hat die Evolution des Lebens vorangetrieben? Es war der Imperativ des Überlebens, ein unbedingtes Ja zum Leben. Für alle Tiere ist das Überleben der höchste Wert. Nun kann man natürlich sagen, dass es hier nur um die Weitergabe der Gene geht. Aber vielleicht ist dieses Lebensfeuer selbst noch mehr.
Für den Lebensdrang, den wir in der Evolution der Natur wahrnehmen, hat der Biologe Andreas Weber drei „Gesetze der Sehnsucht“ formuliert. Das erste Gesetz der Sehnsucht besagt, dass „alles, was lebt, mehr Leben will“. Allen Wesen ist ihr eigenes Leben wichtig und sie empfinden sich „als Körper unter Körpern“. Das zweite Gesetz der Sehnsucht besagt, dass sich die Macht des Verlangens nach Leben im lebenden Leib zeigt. „Lebewesen sind deshalb keine Maschinen. Sie sind Werkzeuge der Sehnsucht.“ Das dritte Gesetz der Sehnsucht lautet: „Nur im Spiegel anderen Lebens können wir uns selbst verstehen.“ Weber weiter: „Alles Leben ist Geflecht. Blattadern, Baumkronen, die Kapillargefäße in der Hand des Säuglings: Wenn man genau hinschaut, dann zeigen sich fast alle Körper als Muster von Verbindung und Überlagerung.“

„Die Evolution liegt nicht hinter uns. Sondern wir haben den Gang der Evolution in uns.“
Wolfgang Welsch


Die Sehnsucht nach Leben hat dabei nicht nur zum Überleben geführt, sondern auch zur Entwicklung höherer Lebensformen mit immer komplexeren Organen der Wahrnehmung und Interaktion. Das Leben wurde immer intelligenter. Im Menschen hat sich mit dem Auftreten des Selbstbewusstseins ein Quantensprung vollzogen, die Lebendigkeit des Lebens wird sich seiner selbst bewusst. Rolston bezeichnet es als den dritten Urknall unserer Evolution.

Mensch und Welt

Was bedeutet es für uns als verkörperte Menschen, wenn wir uns als Teil der Evolution erfahren? Wie wir gesehen haben, reicht unser Körper weit in die Geschichte zurück – oder andersherum, die Geschichte des Universums ist in unserem Körper präsent. Für den Philosophen Wolfgang Welsch ist diese „evolutionäre Prägung des Menschen“ ein Schlüssel für ein neues Verhältnis zwischen Mensch und Welt. Er sagt: „Die Evolution liegt nicht hinter uns. Sondern wir haben den Gang der Evolution in uns.“
Für Welsch könnte diese Erkenntnis der Schritt über die „Denkform der Moderne“ hinaus sein, die gekennzeichnet ist von der Trennung zwischen Mensch und Welt, Geist und Körper. Vereinfacht gesagt hat die Moderne den Menschen ins Zentrum des Erkennens gestellt. Diderot sagte schon 1755: „Der Mensch ist der einzigartige Begriff, von dem man ausgehen und auf den man alles zurückführen muss.“ In der Folge, so beobachtet Welsch, hat sich die westliche Denktradition in verschiedenen Ausformungen an die primäre Stellung des Menschen gehalten. Im Erkennen unserer evolutionären Natur sieht Welsch einen anderen Blickwinkel auf den Menschen: „Lebt der Kosmos nicht in uns fort? Sind wir nicht gar kosmische Wesen? … – Vielleicht hatte Herder Recht, als er sagte, das Verständnis des Menschen müsse vom Kosmos seinen Ausgang nehmen.“

„Das Leuchten der Materie geht über in das Gold des Geistes, um sich in der Glut des Universal-Personalen zu vollenden.“
Teilhard de Chardin


Als Folge dieser Überlegungen entwirft Welsch eine philosophische Ganzheitsperspektive, in der Mensch und Welt aufs Innigste zusammengehören. Auch unsere kognitiven Fähigkeiten sieht er zurückreichen bis in die Tiefen der Evolution, bis zurück zu den ersten Bakterien und ihren „sensorischen und informationsleitenden Strukturen in der Zellmembran“. Welsch versucht nachzuvollziehen, wie uns solch eine Verbundenheit mit der Welt verändern würde. Er gibt dafür ein Bild: „Er geht wochenlang an der Küste entlang. Mit der Zeit verändert sich sein Verhältnis zu Wasser und Strand, zu Felsen, Tieren und Wolken. Immer mehr gewinnt er den Eindruck, als wären dies nicht Dinge von wirklich anderer Art als er selbst, sondern als wären diese Dinge und er weithin gleichartig. Nach Monaten wird es ihm zur Evidenz: Wir Menschen sind Gefährten, Verwandte und Partner, Zeit- und Schicksalsgenossen all dieses anderen Seienden, wir und es sind von der gleichen Art, sind aus dem gleichen Stoff.“

Körper Kosmos

Viele von uns kennen solche „evolutionären Einheitserfahrungen“. Im Lichte unserer evolutionären Geschichte werden sie verständlich als ein Wiedererkennen, als ein beglückendes, dankbares Wiedererkennen. Brian Swimme beschreibt dieses Wiedererkennen im Hinblick auf unsere „Sternennatur“ so: „Sie haben Bilder von sich selbst als kleines Kind gesehen, wenn Sie dieses Kind anschauen, dann betrachten Sie sich selbst. Dann wird sich aber dieses Kind seiner eigenen Schönheit bewusst. Sind Sie nicht die Weiterentwicklung dieses Kindes? Natürlich, aber das Kind scheint auch anders zu sein als Sie. Aber genau so ist es mit den Sternen. Wir wissen, dass wir eine Weiterentwicklung des Sterns sind, aber wir wissen, dass wir anders sind als der Stern. Der Stern entwickelt sich durch den menschlichen Geist zum selbstflexiven Bewusstsein seiner Schönheit und kreativen Tätigkeit.“ Und weiter: „Wenn wir unser Bewusstsein für die einfache Wahrheit vertiefen, dass wir nur durch die Kreativität der Sterne hier sind, dann spüren wir Dankbarkeit. Wenn wir darüber reflektieren, wie viel Arbeit in die Entwicklung des Lebens gegangen ist, dann spüren wir Ehrfurcht. Und in unserem tiefsten Herzen verbinden wir uns mit unserer eigenen Kreativität.“
In unserem Körper und in unserem Geist sind wir Erben der unaufhaltsamen Kreativität des Universums. Wenn wir unseren Körper als Ausdruck dieses Werdens erfahren, dann wird die Lebendigkeit, die wir darin spüren, transparent für die Lebendigkeit des einen Lebens des Ganzen. Wir spüren unseren Körper nicht mehr als getrenntes Ding, sondern vielmehr als Organ eines viel größeren Leibes: des Kosmos. Wenn wir uns dieser Lebendigkeit mehr und mehr bewusst werden, sie mit Gewahrsein durchdringen und in Liebe umarmen, dann kommt in uns der Kosmos zu sich selbst. Der große Mystiker der Evolution Teilhard de Chardin sagte über diese Aufgabe unseres Menschseins: „Im Herzen der Materie erscheint ein purpurnes Leuchten, in dem sich die Bestimmung des Kosmos ankündigt, in Liebe vollendet zu werden. Das Leuchten der Materie geht über in das Gold des Geistes, um sich in der Glut des Universal-Personalen zu vollenden.“

Author:
Mike Kauschke
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