Unsere Gefährten des Lebens
Mit Artensterben und Massentierhaltung bringen wir Menschen den Tod in die Welt. Was bedeutet das für uns? Für unser Herz? Und wie können die Risse im Gewebe des Lebens heilen?
Guam-Flughund, Gelbstirn-Waldsänger, Guambrillenvogel, Schuppenkehlmoho, Weißwangen-Kleidervogel. Das sind Tiere, die im letzten Jahr ausgestorben sind. Hinter diesen merkwürdigen, manchmal poetischen Namen, die wir diesen Lebewesen gegeben haben, verbirgt sich jeweils eine Lebensform, die für immer verschwunden ist. Ein kleines Loch im Gewebe des Lebens. Ein Riss. Für mich erfordert es ein Innehalten, ein Atmen mit diesen Namen, hinter denen vergangene Wesen stehen, um zu fassen, was hier geschieht: Leben, das sich in den verzweigten Wegen der Evolution in absolut überschwänglicher Fülle entfaltet hat, stirbt. Wegen uns. Denn wenn wir so weiterleben wie bisher, werden wir viele weitere Lebewesen für immer verlieren, werden immer mehr Löcher ins Lebensgewebe gerissen. Neuen Studien zufolge sind weltweit zwei Millionen Tier- und Pflanzenarten gefährdet, in Europa sind ein Fünftel aller Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben in den kommenden Jahrzehnten bedroht. Die Ursachen liegen in der wirtschaftlichen Nutzung der Böden und Meere, wodurch Lebensräume verlorengehen. Hinzu kommen die Übernutzung biologischer Ressourcen und Extremwetterlagen durch den Klimawandel.
Das Gewebe des Lebens stirbt. Wir übersäen es mit Rissen, die kaum zu schließen sind. Diese Risse gehen auch durch uns. Wir sind vollkommen eingewoben in das Netz des Lebendigen. Jedes Mal, wenn eine Lebensform ausstirbt, und sei es noch so weit entfernt, stirbt auch etwas in uns. Wir werden und sind Menschen nur durch unser Eingebundensein in den größeren Kreis der Wesen. Wie wir mit ihnen umgehen, zeigt uns, wer wir sind: Vernichter des Lebens oder Hüter des Lebens. Manchmal ist es möglich, Risse auch wieder zu schließen oder drohende zu verhindern. Wir haben uns gezeigt, dass wir es können. Durch Schutzmaßnahmen konnten sich in Deutschland früher gefährdete Arten wieder ausbreiten: Schwarzstorch, Seeadler, Wanderfalke, Uhu, Fischotter. Mit ihrem Dasein heilen auch Risse in uns.
Viele Menschen spüren, dass es sie selbst betrifft, wenn Tiere leiden, aussterben, geschlachtet werden. Eine Sensibilität wächst. Das Wissen, dass wir uns des Menschseins nicht würdig erweisen, wenn wir andere Lebewesen quälen. Deshalb sinkt der Fleischkonsum, aber trotzdem werden mehr sogenannte Nutztiere geschlachtet, weil mehr Hühnerfleisch gegessen wird. In Deutschland werden pro Jahr circa 760 Millionen Tiere geschlachtet, davon sind 703 Millionen Hühner, Puten und Enten, 52 Millionen Schweine, Rinder, Schafe, Ziegen und Pferde. Eine unvorstellbare Zahl, und hinter jeder steht ein fühlendes Wesen. Die meisten dieser Tiere leben in den Fleischfabriken der Massentierhaltung, die hinter den glänzenden Verpackungen im Supermarkt nicht zu sehen sind. Aber wir fühlen sie. Denn wenn Tiere solch ein würdeloses Leben führen und nur als Schlachtobjekt für Profit gesehen werden, leidet auch etwas in uns. Viele Menschen spüren das, trotz aller Versuche der Industrie, uns das vergessen zu lassen. Das menschliche Herz fühlt mit diesen Wesen und löst sich langsam aus seiner Taubheit. Dieses Bewusstsein zeigt sich in zunehmenden Versuchen, dem Tierwohl mehr Bedeutung zu geben.
»Die Tiere sind keine Rohstoffe für uns, sie sind Geschenke des Lebens an sich selbst.«
Artensterben, Massentierhaltung, Pelztierproduktion, Tierversuche sind ein globaler Todesstrom, den wir als Menschen verursachen. Und den wir meist verdrängen. Aber damit betäuben wir etwas in uns: Mitgefühl, Empathie, Fürsorge. Und wenn wir diese Empfindungen nicht gegenüber Tieren spüren, besteht dann nicht die Gefahr, dass wir sie früher oder später auch gegenüber unseren Mitmenschen verlieren?
Die Tiere sind keine Rohstoffe für uns, sie sind Geschenke des Lebens an sich selbst. Unsere Menschwerdung geschah und geschieht nur durch die Verwobenheit mit anderen Wesen. Und natürlich gehört dazu, dass wir von ihnen leben, uns von ihnen ernähren. So ist das Gewebe des Lebens auch beschaffen. Aber es liegt an uns, wie wir es tun und in welchem Maße. Oder ob wir uns freiwillig entscheiden, auf Fleisch zu verzichten. Und dabei geht es nicht nur um die Belange der Tiere, sondern auch um uns und im Eigentlichen um das Leben selbst. Das Leben ist ein Geschenk, das wir gemeinsam mit den unzähligen anderen Wesensgeschwistern erhalten haben. Wie wir damit umgehen, zeigt, ob wir den Segen dieses Geschenks annehmen. Oder uns ihm verweigern. Aber dann verlieren wir auch das Leben. Erst das Innenleben der Seele und dann auch das materielle Überleben. Wenn das Gewebe des Lebens zu viele Risse hat, dann wird es letztendlich zerreißen, und auch wir fallen heraus.
Aber wir alle können Risse im Lebensnetz heilen, können es wieder verweben. Können zunächst den geschwisterlichen Blick lernen, den unser Herz kennt, wenn es in die Augen eines anderen Wesens schaut. Wenn ich diesem Blick standhalte, ihm nicht ausweiche, spüre ich, dass ich verwandt bin, in einer unergründlichen Tiefe zugehörig zu diesem Wesen. Und wir beide zu einer größeren Familie des Lebens. Wenn ich Tieren so begegne, dann kann ich sie nicht mehr als Rohmaterial oder Nahrungsmittel betrachten. Dann sind es lebendige, leidende, liebende Wesen, denen ich mich verbunden, verantwortlich, verpflichtet fühle. Ein Tier zu essen, ist dann von einer tiefen Dankbarkeit erfüllt, durch die keine Risse entstehen, weil uns dann wichtig ist, wie das Tier gelebt hat und getötet wurde.
Der geschwisterliche Blick gibt aber nicht nur den anderen Lebewesen ihre Würde zurück, wir schenken sie uns dadurch auch selbst. Erweisen uns würdig, in der Gemeinschaft der fühlenden Wesen zu sein. Wir treten ein in den Innenraum des Lebens, der übervoll ist mit Beziehungen, Begegnungen, Verflechtungen, die unser Leben bereichern, verzaubern. Eigentlich erst lebenswert machen. Die anderen Wesen, die unsere Geschwister sind, machen unser Leben zu einem Fest der Verbundenheit. Wenn ich ein Reh, einen Esel, eine Kuh, eine Kohlmeise, eine Amsel, einen Hund sehe, beobachte, ihnen in die Augen schaue, mich mit ihrem Wesen verbinde, dann wird mein Inneres weiter und wacher. Ich habe am Leben teil. Trete ein in den Gesang, der alles ist. Werde aus dieser einmaligen wunderbaren Begegnung heraus dem Leben zugehörig. Trennung und Taubheit heilen. Ich kann wieder sehen, spüren. Das Wunder, das das Leben ist. Das jedes Leben ist. Und sage aus dieser inneren Tiefe heraus das einzige Wort, das hier zählt: danke. Danke, dass du bist, danke, dass du mit mir bist. Dieser Dank kann alles verändern. Kann uns als Menschen verwandeln. Uns zu Gefährten und Hütern des Lebens werden lassen.