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Wir als Menschheit tun etwas, was eigentlich niemand will: Wir zerstören die Erde, unsere einzige Heimat. Jonathan Rowson setzt sich als Philosoph und metamoderner Denker intensiv mit der gegenwärtigen Metakrise auseinander und fragt, wie wir die Verluste unserer Lebenswelt spüren und gleichzeitig wirksam handeln können.
evolve: Die Verleugnung des Todes ist in der westlichen Kultur weit verbreitet. Wir wollen ewig jung und immun gegen den Tod sein. Aber auf ökologischer Ebene hat unsere Kultur das Gegenteil bewirkt. Wir verursachen Artensterben in einem unvorstellbaren Tempo, und wir stehen vor vielen ökologischen Kipppunkten – und es ist ungewiss, was noch kommen wird. Wir verdrängen den Tod und versuchen, ihn hinter verschlossenen Türen zu halten, eine rein sentimentale Beziehung zu ihm zu pflegen oder uns in Wunschdenken zu flüchten. Glaubst du, dass es einen Zusammenhang zwischen der Verleugnung des Todes und den ökologischen Krisen gibt, mit denen wir konfrontiert sind?
Jonathan Rowson: Diejenigen, die das ökologische Dilemma klar sehen, können einen beginnenden Tod darin spüren. Sie können wahrnehmen, dass dies die allmähliche Entfaltung eines tödlichen Prozesses ist, durch den wir unsere einzige Heimat zerstören. Wir wissen auch, dass es in der Natur der Gesundheit liegt, dass man ein gewisses Maß an Kraft braucht, um Krankheiten zu überstehen. Ab einem bestimmten Punkt, an dem die Krankheit zu weit fortgeschritten ist, kann man sich nicht mehr wehren. Auf die gleiche Weise erreicht die Erde jetzt einen kritischen Punkt, an dem ihr die entscheidenden Fähigkeiten fehlen werden, um sich selbst zu regenerieren. Das ist eine große Verwerfungslinie. Diejenigen, die die Erde als ihren weiteren Körper erleben, empfinden die Situation als eine Art Todesbedrohung. Aber die Verleugnung des Todes in unserer Kultur hindert uns daran, die ökologische Zerstörung klar zu erkennen, weil sie auf den Tod unseres Körpers im weiteren Sinne hinweist, dem wir uns nicht stellen wollen.
Es ist nicht wie die individuelle Konfrontation mit dem Tod, dass also diese sterbliche Hülle stirbt und ich nicht weiß, was mit mir passiert, ob ich in eine andere Welt eingehe oder wiedergeboren werde oder einfach ganz verschwinde oder in meinen Kindern weiterlebe oder was auch immer. Nein, wir spüren den Tod der schönen und lebensspendenden Erde.
Unsere Tragik
e: In spirituellen Kontexten ist oft die Rede davon, dass wir die Realität des Todes akzeptieren müssen. Aber es gibt eine Art von Todesakzeptanz, in die wir nicht geraten wollen, wenn es um die Widerstandsfähigkeit des Planeten geht, der so gefährdet ist.
JR: Die spirituelle Weisheit, den Tod zu akzeptieren, basiert auf der Erkenntnis, dass der Tod ein Teil des Lebens ist. Das Gegenteil von Tod ist nicht Leben, das Gegenteil von Tod ist Geburt. Das Leben wird trotzdem weitergehen. Das Leben ist das Muster, das die Beziehung zwischen Geburt und Tod enthält, die sich im Kontext dieses Lebens fortsetzt. Das Leben ist das kostbare Heiligtum, das es zu schützen gilt – dass wir enorm gesegnet sind, daran teilzuhaben und bewusste, empfindungsfähige Wesen zu sein. Dass dies kosmologisch überhaupt möglich ist, ist verblüffend. Wenn man den Kontext des Urknalls und des Universums betrachtet, ist diese winzige blaue Perle, die in diesem dunklen Himmel des Weltalls leuchtet, ein Wunder. Und wir alle sind individuell Teil dieses Wunders. Und wir haben das Gefühl, dass wir für diese Erde sorgen sollten, sie behüten sollten.
e: In deiner Arbeit zu einer Antwort auf die vielschichtigen Krisen, in denen wir uns befinden, unterscheidest du zwischen einer prä-tragischen, einer tragischen und einer post-tragischen Haltung. Dies sind unterschiedliche Arten, diese Bedrohung der Widerstandsfähigkeit der Erde wahrzunehmen und zu erleben. Kannst du erklären, wie sich diese Haltungen unterscheiden?
»Wie kann es sein, dass wir so dumm sind, die Lebensfähigkeit unserer einzigen Heimat zu zerstören?«
JR: Diese Sichtweise verdanke ich in erster Linie der Arbeit von Zak Stein und Marc Gafni. Sie haben eine nuancierte Sichtweise formuliert, zum Beispiel verstehen sie die prä-tragische, die tragische und die post-tragische Haltung als »Stationen des Selbst« und sehen sie eher als existenzielle Empfindungen denn als Entwicklungsstufen.
Es ist nicht falsch, wenn ein kleines Kind aus einer prä-tragischen Haltung lebt, es kann sogar ein Segen sein. Und es ist nicht falsch, das Leben als tragisch zu empfinden und sogar in der Tragödie verloren zu sein, z. B. intensiv über den Verlust eines geliebten Menschen zu trauern und das Gefühl zu haben, das Leben sei vorbei oder zumindest auf Eis gelegt. Die Tragödie sollte nicht zwingend sein, aber sie entsteht, weil wir Dinge lieben und uns um sie sorgen, die zerbrechlich und vergänglich sind. Um es rhetorisch und auf der Makroebene auszudrücken: In der Tragödie halten wir alles für hoffnungslos und glauben, dass wir wirklich dumm genug sind, unser einziges Zuhause zu zerstören. Uns fehlen die Mittel, um den mächtigen Interessen entgegenzutreten. Der ökologische Druck wird zu weiteren Unwettern führen, die Krankheiten hervorrufen, Eigentum zerstören, zu Massenmigration und Kriegen führen, und wir sind dem Untergang geweiht. Das ist das tragische Empfinden.
Die prä-tragische Sensibilität spürt die tragische Perspektive überhaupt nicht und hält sie für völlig übertrieben. Die Menschen waren noch nie so erfolgreich, so reich, so frei und so weiter. Wir vertrauen auf all die Dinge, die uns hierher gebracht haben, einschließlich der Wissenschaft und des Fortschritts, des Prozesses von Versuch und Irrtum, der Zivilisationen zum Aufblühen bringt.
Für den reflektierten Menschen steckt in beiden Sichtweisen eine gewisse Wahrheit, aber keine von ihnen ist als ganzheitliche Lebenseinstellung völlig zutreffend. Durch diese Erkenntnis entwickelt sich eine post-tragische Sensibilität. Dabei geht es nicht darum, dass die eine Haltung besser ist als die andere. Die post-tragische Haltung, Disposition oder Sensibilität kann und sollte nicht erzwungen werden, aber ich sehe sie als ein Verständnis der Tragödie, die das Leben wirklich ist: zu wissen, dass es dunkel und schrecklich sein kann. Aber es geht darum, sich durch dieses Verständnis nicht entmutigen zu lassen. Die post-tragische Haltung bringt die Handlungsfähigkeit der prä-tragischen Haltung in einer sinnvollen Tätigkeit zurück, die durch das Verständnis des Tragischen geprägt ist. Die posttragische Perspektive ermöglicht es uns, sinnvoll und zielgerichtet zu handeln und gleichzeitig zu verstehen, dass das Leben düstere und schwierige Dinge bereithält.
Die Zerstörung unserer Heimat
e: Welchen Zusammenhang siehst du zwischen der Verleugnung des Todes und unserer Reaktion auf die planetarische Krise? Und wie hängt dies mit unserem Gefühl einer tragischen Entwicklung zusammen?
JR: Seit ich vor zehn Jahren begonnen habe, mich mit dem Klimawandel zu beschäftigen, hatte ich immer das Gefühl, dass die Verleugnung des Todes zum Kern des Problems gehört. Zwar stirbt nicht der Planet als solcher, aber die Widerstandsfähigkeit des Lebensraums, den die Menschen kennen und lieben gelernt haben. Unsere Vorstellung von einer großzügigen, wohltätigen Natur stirbt. Ein lebensspendender und lebensbejahender Planet, der all unsere Bedürfnisse erfüllt, liegt im Sterben. Er wird zunehmend zu einem Ort voller Zerstörung und negativer sich gegenseitig verstärkender Effekte, bei denen ein zerstörerisches Ereignis eine weitere Zerstörung nach sich zieht: Waldbrände, die Kohlenstoffsenken niederbrennen, das Aussterben von Arten, das sich auf die Weltmeere auswirkt und diese wiederum daran hindert, Kohlenstoff zu absorbieren.
Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, diesen Verlust an Widerstandsfähigkeit zu betrachten. Aber unsere Wahrnehmung, dass die lebenswichtigen Systeme des Planeten sterben, ist für jeden, der darauf achtet, deutlich spürbar. Und für diejenigen, die eher empirisch veranlagt sind, gibt es planetare Grenzen und damit verbundene Risiken, die wir kontinuierlich überschreiten.
Das ist die Makroebene der Analyse unseres Ökosystems Erde. Aber dann stellt sich die Frage: Was bedeutet das für uns? Viele Menschen haben das Gefühl, dass die Erde der größere Körper ist, von dem wir ein Teil sind. Mit dem Internet, dem Smartphone und den rund um die Uhr verfügbaren Medien erleben wir den ganzen Planeten als unseren Lebensraum. Obwohl ich nur ein winziger Teil davon bin, kann ich mich nicht von ihm trennen. Denn alles, was mit irgendetwas auf diesem Planeten geschieht, geschieht auch mit mir. Deshalb spüren wir den Tod der Resilienz, den Tod der positiven Rückkopplungsschleifen und die zunehmende Zahl negativer Effekte so deutlich. Das ist der Kontext, in dem wir diese tragischen Entwicklungen erleben: Wie kann es sein, dass wir so dumm sind, die Lebensfähigkeit unserer einzigen Heimat zu zerstören?
Globale Dynamiken
e: Es ist schwer, sich diese Zerstörung überhaupt nur vorzustellen. Wie können wir dieser tragischen Entwicklung begegnen?
JR: Jeder, der spürt, dass er auch für über ihn selbst hinausgehende Probleme verantwortlich ist, wird darüber nachdenken. Sie zu ignorieren oder zu leugnen, kommt nicht in Frage. Man muss sich hineinfühlen, und das bedeutet, sich der Tragödie zu stellen. Aber dies ist eine besondere Art der Tragödie, die sich heute im 21. Jahrhundert abspielt, sie ist anders als im 20. Jahrhundert.
Wir sind nicht die erste Generation, die das Gefühl hat, dass Menschen ein finsteres Herz haben und dass schreckliche Dinge passieren. Man denke nur an die Roten Khmer, Stalin, Hitler oder den absoluten Wahnsinn des Ersten Weltkriegs. Als Menschen begehen wir völlig absurde, selbstzerstörerische Taten in großem Ausmaß. Das ist der Zustand der Menschheit seit vielen Jahrhunderten.
Aber was heute geschieht, hat eine etwas andere Qualität. Früher waren tragische Ereignisse lokal begrenzt. Das galt selbst dann, wenn beispielsweise die alliierten Streitkräfte Bomben auf Dresden oder auf Hiroshima und Nagasaki abwarfen – mit vielen Tausenden von Menschenleben, die als entbehrlich angesehen werden, um den Krieg zu beenden.
»Die Tragödie ist, dass wir wissen, was zu tun ist, aber wir können es nicht umsetzen.«
Aber die ökologische Dimension, in der sich das Problem heute zeigt, hat etwas unverwechselbar anderes. Denn es geht nicht so sehr um einzelne Ereignisse, sondern um einen zugrunde liegenden Prozess. Das verändert unsere Einstellung dazu. Bei einem einzelnen lokalen Problem kann man einen Akteur ausfindig machen, der sich anders hätte verhalten sollen. Aber jetzt nehmen wir einen sich weltweit abspielenden Prozess wahr, an dem wir beteiligt sind.
Gleichzeitig ist es aber nicht wahr, dass alle Menschen gleichermaßen dafür verantwortlich sind. Die Unternehmen, die fossile Brennstoffe verwerten, oder die Regierungen, die sie subventionieren, die Medienbarone, die sie unterstützen, oder die Wähler, die für diese Regierungen stimmen, wollen ihre Lebensweise beibehalten. Die armen Menschen in der Welt, vor allem im globalen Süden, tragen viel weniger zu dem Problem bei, leiden aber viel stärker unter dessen Folgen. Wenn ich also sage, dass der gesamte Planet betroffen ist, bedeutet das nicht, dass die Verantwortung gleich verteilt ist. Nichtsdestotrotz gibt es dieses allgemeine Phänomen, das alle betrifft.
Welches Wir?
e: Wie können wir darauf reagieren?
JR: Wir müssen zunächst untersuchen, was wir mit »Wir« meinen. Ich habe angefangen, über das »unverständliche Wir« und seine Bedeutung für eine post-tragische Haltung zu sprechen. Das unverständliche Wir ist das Wir, das wir beschwören, wenn wir sagen: »Wir müssen etwas gegen den Klimawandel tun«, oder »Wir müssen uns mit der Metakrise auseinandersetzen«, oder »Wir müssen unser Bewusstsein auf eine höhere Ebene entwickeln, um damit umzugehen«. Das »Wir« in diesen Aussagen ist unzureichend spezifiziert und mehrdeutig.
Einerseits ist das verzeihlich, weil wir in Sprachen wie Englisch oder Deutsch nicht wirklich eine andere Möglichkeit haben. Außer der Unterscheidung in ein inklusives oder exklusives Wir haben wir keine sprachliche Form des Ausdrucks, die deutlich macht, wen man meint, wenn man »wir« sagt. Aber es ist auch problematisch, weil es so schwierig ist zu wissen, wozu man aufruft, solange man das »Wir«, den Agenten, die Entität der kollektiven Handlungsfähigkeit nicht verständlicher beschreiben kann. So werden wir wahrscheinlich nicht die nötige Kraft oder Klarheit mobilisieren können, die wir brauchen.
Das ist das Dilemma dieser tragischen Entwicklung: Die Menschheit zerstört ihre einzige Heimat, während sie nicht in der Lage ist, den Ort des Handelns zu bestimmen, der es uns erlauben würde, eine notwendige Reaktion darauf zu finden und angemessen zu handeln. Die Menschheit als Ganzes scheint die Lebensfähigkeit und Widerstandsfähigkeit ihres einzigen Lebensraums zu zerstören. Das wird durch die Tatsache verschlimmert, dass die einzelnen Menschen Schwierigkeiten haben, den Ort des kollektiven Handelns auszumachen, der es uns erlauben würde, damit aufzuhören. Wir können uns darüber beschweren, dass wir uns ändern müssen, aber solange dieses »Wir« so unklar und unzureichend spezifiziert bleibt, ist es schwer, die erforderliche Handlungskraft und Veränderung zu mobilisieren.
Deshalb muss ein Teil unserer Arbeit darin bestehen, dass wir unseren eigenen Handlungsort für uns selbst verständlicher machen. Wenn wir Lösungen vorschlagen, müssen wir präziser angeben, wovon wir sprechen. Das ist Teil einer reifen Reaktion auf die schwierige Lage, in der wir uns befinden.
Eine scheiternde Spezies
e: Es scheint, dass wir dazu die besondere Natur der Tragödie des 21. Jahrhunderts verstehen müssen. Denn sie unterscheidet sich von der, wie sie im 20. Jahrhundert oder davor in der Menschheitsgeschichte auftrat.
JR: Ja. Manche Tragödien kehren immer wieder, wie zum Beispiel der Tod eines Kindes. Solche Schicksalsschläge sind Teil des menschlichen Daseins. Im 20. Jahrhundert hingen die Tragödien meistens mit Krieg und Ideologien zusammen, angefangen mit dem Wahnsinn des Ersten Weltkriegs, dem Zweiten Weltkrieg, der Ermordung von Intellektuellen durch Maoisten, dem Massenmord der Roten Khmer. Im 20. Jahrhundert können wir eine ideologische Vereinnahmung und Eskalation aufgrund von Konflikten um Landeroberung und ideologischen Ideen feststellen. Doch jetzt, im 21. Jahrhundert, zeigt sich eine etwas andere Dynamik.
Die beiden treibenden Kräfte unserer Zeit sind Technologie und Ökologie. Die Technologie ist ungleich verteilt, und so entstehen Machtunterschiede zwischen denen, die über die Technologie verfügen, sie kontrollieren und ausüben können, und denen, die sie nicht besitzen oder nicht ausüben können. Die Ökologie wird zur bestimmenden Größe, weil wir dabei sind, etwas so unglaublich Wertvolles wie die Erde und ihre natürlichen Systeme zu zerstören, die sich in einem fragilen Gleichgewicht befinden und uns ermöglichen, unser Leben in Wahrheit, Schönheit, Güte, Sinn und Bedeutung zu leben.
Im 21. Jahrhundert erkennen wir uns selbst immer mehr als planetare Kultur. Weniger als eine Welt, die sich im Krieg befindet, sondern eher als eine Menschheit, die von Wahnvorstellungen überflutet wurde und die nicht in der Lage zu sein scheint, sich auf institutioneller und kultureller Ebene ausreichend mit ihrem Wahn auseinanderzusetzen. Die Tragödie ist, dass wir wissen, was zu tun ist, aber wir können es nicht umsetzen. Wir stehen uns als Menschheit selbst im Weg. Wir können uns selbst nicht davon abhalten, etwas zu tun, was wir ganz offensichtlich eigentlich nicht tun wollen. Es liegt in niemandes Interesse, unsere einzige Heimat zu zerstören. Und doch sind die institutionellen Strukturen, die Marktlogik und unsere staatlichen Regierungssysteme so beschaffen, dass es keine ausreichende Gegenkraft zu geben scheint, um dies zu verhindern.
e: Ein Aspekt unserer Tragödie scheint zu sein, dass wir die Erde beherrschen wollen. Wir wollen ein bequemes Leben führen, das uns die Moderne ermöglicht. Wir weigern uns, die zerstörerischen Aspekte unseres Lebensstils im Überfluss zu erkennen.
JR: Ja, das hat auch mit Verleugnung zu tun. Wir leugnen zwar meist nicht, dass diese Dinge passieren, aber wir vermeiden die Konfrontation, dass wir davon betroffen sind und uns verändern müssen. Der Neurowissenschaftler Thomas Metzinger schreibt, dass wir uns mit der weiteren Verschlimmerung des menschengemachten Klimawandels zunehmend als scheiternde Spezies sehen werden, weil uns die kognitiven und emotionalen Fähigkeiten fehlen, mit dem größten kollektiven Handlungsproblem unserer Zeit umzugehen. Die Frage ist also: Was sind unsere kognitiven und emotionalen Fähigkeiten, und wie können wir sie verbessern? Das ist ein starkes Argument für Bildung und menschliche Entwicklung, die nötig sind, um auf diese Situation wirklich reagieren zu können.
Die Tragödie des 21. Jahrhunderts besteht darin, dass viele Millionen Menschen sehen können, was geschieht, und offensichtlich nicht in der Lage sind, es aufzuhalten. Viele versuchen es. Auf dem jüngsten COP-Weltklimagipfel gab es zum Beispiel eine beeindruckende Reihe junger Aktivisten, die den Mächtigen die Wahrheit sagten. Aber auch sie scheinen nicht in der Lage zu sein, die Kräfte zu mobilisieren, um grundlegende Verhaltensmuster tatsächlich zu ändern.
Der Soziologe Bruno Latour wies darauf hin, dass Politik durch die Grenzsituation zwischen denjenigen bestimmt wird, die sich der Erde, wie sie ist, mit all ihren Beschränkungen und Verwundbarkeiten stellen, und denjenigen, die diese Beschränkungen und Verwundbarkeiten effektiv leugnen und versuchen, so weiterzumachen wie bisher. Und er sagte, dass wir das erstaunliche Ausmaß der Beispiellosigkeit der Situation nicht verstehen. Er meinte damit nicht nur die ökologische Realität mit dem Artensterben oder den steigenden Temperaturen und so weiter, sondern auch die politische Realität. Wir müssen uns der Wahrheit stellen, dass wir unsere einzige Heimat zerstören – und dass einige das in Kauf nehmen und andere nicht. Und hier sind wir wieder bei unserer Beziehung zum Tod.
Die Welt wiederherstellen
e: Und das bedeutet auf persönlicher und kultureller Ebene eine Konfrontation mit dem Tod und seiner Absolutheit.
JR: Ja, es ist vergleichbar mit dem posttraumatischen Wachstum. Menschen, die einen Unfall, eine lebensbedrohliche Krankheit oder den Verlust eines geliebten Menschen erlitten haben, ändern oft die Prioritäten in ihrem Leben ganz grundlegend. Sie orientieren sich weniger an Äußerlichkeiten wie Status, Geld oder Erfolg, sondern mehr an dem intrinsischen Wert von Kreativität und Beziehungen. Am deutlichsten wird dies bei Menschen, die ein Trauma oder eine Tragödie erlebt haben. Das gilt besonders für Nahtoderfahrungen. Menschen, die fast gestorben sind, erkennen, dass es an der Zeit ist, ihr Leben zu ändern.
Interessanterweise dürften wir ja bereits wissen, dass wir sterben werden! Aber es gibt einen Unterschied zwischen dem rein rationalen, propositionalen Wissen und dem gelebten, teilhabenden, partizipativen Wissen. Abstrakt zu denken, dass ich eines Tages sterben werde, ist nicht dasselbe wie zu wissen, wie es sich anfühlt, dass meine Tage gezählt sind. Dann werde ich mit diesem tief verinnerlichten, spürbaren, verkörperten Wissen leben. Eine ernsthafte spirituelle Praxis kann uns einen Zugang zu dieser Erfahrung vermitteln, sie kann uns auf verschiedene Weise durch einen Prozess des Sterbens führen.
e: Das hat mit der existenziellen Kraft ernsthafter spiritueller Praxis zu tun, dass man mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert wird oder in gewisser Weise mit dem Gegenteil – der Nicht-Endlichkeit des eigenen Selbst.
JR: Der buddhistische Autor Stephen Batchelor macht einen Unterschied zwischen Grund und Platz. Die Welt fixiert dich auf deinen Platz im Leben, womit deine Persönlichkeit, dein Status, deine Leistung gemeint ist. Aber dein existenzieller Grund ist die Tatsache, dass du hier bist – die Grundgegebenheiten von Geburt und Tod und endlicher Existenz. In der spirituellen Praxis geht es immer um deinen Grund und nicht um deinen Platz im Leben. Es ist völlig gleichgültig, ob du Arzt, Anwältin, Mechaniker oder Lastwagenfahrerin oder was auch immer bist. In der spirituellen Praxis geht es um deinen Grund und darum, wie du dich mit dem Sinn der menschlichen Existenz auseinandersetzt.
Das kann man in jeder der drei Perspektiven tun, die wir besprochen haben, der prä-tragischen, tragischen oder post-tragischen Haltung. Aber es ist wertvoll, sich der post-tragischen Ebene bewusst zu sein, denn wenn man sich in einem der beiden anderen Stadien befindet, gibt es eine Einschränkung oder einen blinden Fleck. Wenn man sich in der prä-tragischen Phase befindet, kann es sich wie eine echte Bedrohung anfühlen, die Tragik unserer gegenwärtigen Situation an sich heranzulassen. Es gibt viele oberflächlich fröhliche Menschen, die die schlechten Nachrichten einfach nicht hören wollen. Sie wollen bei der Positivität oder dem Techno-Optimismus bleiben. Techno-Optimisten glauben zum Beispiel, dass alles besser wird und immer besser werden wird, und dass diejenigen, die etwas anderes behaupten, Schwarzseherei betreiben oder Angst vor der Technik haben.
»Unsere Tränen sind ein Hinweis auf das Wesentliche.«
Aber es ist auch wahr, dass Menschen, die völlig von der Tragödie überwältigt werden, in ihrer Depression feststecken können. Sie können sich so sehr in ihrem Kummer und ihrer Verzweiflung verlieren, dass sie nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen und nicht wirklich im Leben bestehen können. Keine der beiden Positionen ist falsch, sie sind teilweise wahr und sind in bestimmten Kontexten angemessen. Aber es ist wichtig, sich des weiteren Bezugsrahmens einer post-tragischen Haltung bewusst zu sein, in der man nicht zwischen den guten oder schlechten Seiten des Lebens, zwischen Hoffnung oder Verzweiflung wählen muss.
Es gibt ein großartiges Zitat von Adrienne Rich, das mir gerade in den Sinn gekommen ist: »Mein Herz ist gerührt von all dem, was ich nicht retten kann: So viel ist zerstört worden, dass ich mein Los mit denen teilen muss, die Zeitalter für Zeitalter tragischerweise und ohne außergewöhnliche Kraft die Welt wiederherstellen.« Das bedeutet, dass man sein Vertrauen in alltägliche Handlungen setzt, um die Welt wiederherzustellen, sei es, dass man seine Kinder ernährt, zur Arbeit geht, freundlich ist, einfach die Dinge am Laufen hält, weil man an etwas glaubt, einem etwas wichtig ist.
Manchmal hört man von Leuten, dass sie unbedingt eine post-tragische Haltung entwickeln wollen, und ich glaube, das geht am Wesentlichen vorbei. Eine solche Weitung der Perspektive eröffnet sich in der Entfaltung des eigenen Lebens. Man muss sich die Tragödie nicht wünschen. Es reicht, wenn man sieht, dass es sie in der Welt gibt, und sich in sie hineinfühlt.
Zärtlichkeit & Dankbarkeit
e: Das ist eine tiefe Kontemplation über das Geheimnis, das allem zugrunde liegt, und auch über die Endlichkeit des eigenen Lebens und aller Lebenszyklen. Man kann in die post-tragische Phase eintreten durch eine tiefe Kontemplation darüber, wo wir sind, was wir tun. Aber das ist kein intellektueller Prozess, sondern er führt auf den existenziellen Grund, auf den du hingewiesen hast.
JR: Und dazu gehört die Begegnung mit dem eigenen Tod. Es beinhaltet das Wissen, dass deine Tage gezählt sind. Es gibt ein buddhistisches Sprichwort: »Der Schlüssel zum Verständnis der Erleuchtung ist, dass dieses Glas, das ich in der Hand halte, bereits zerbrochen ist.« Das bedeutet nicht, dass ich es nicht wertschätze, es bedeutet nicht, dass es nicht real ist, aber es ist unbeständig und kann zerbrechen. Diese unbeständige, zerbrechliche Qualität haben wir in unserem Verständnis der Welt verinnerlicht, aber genau das macht sie so schön und wertvoll.
e: Das ist eine wunderbare Formulierung einer post-tragischen Haltung. Und ich höre dich sagen, dass ein post-tragisches Gefühl unsere Zärtlichkeit und Liebe für die Zerbrechlichkeit öffnet, von der wir ein Teil sind und die wir sind.
JR: Zärtlichkeit ist vielleicht die entscheidende Eigenschaft. Das Gefühl, das entsteht, wenn die Lippen zittern, wenn man spürt, wie die Emotionen in einem aufsteigen und man Freudentränen weinen möchte. Diese Gefühle haben etwas Post-tragisches an sich. Unsere Tränen sind ein Hinweis auf das Wesentliche. Und sich zu erlauben, sie zu fühlen, ist ein ganz wichtiger Teil eines guten Lebens.
e: Und du sprichst nicht von Tränen der Rührung. Du sprichst von Ergriffenheit, Zärtlichkeit, dem Erkennen der eigenen existenziellen Lage, dem drohenden Verlust eines geliebten Menschen, aber der Schönheit in seinem letzten Atemzug. Diese Erfahrungen sind erschütternd schön. Und in dieser Bewusstheit zeigt sich eine post-tragische Haltung.
JR: Bei diesen Fragen erlebe ich, dass es sehr selten einen Ruhepunkt im Verständnis gibt, der sich völlig stabil anfühlt. Wenn man zum Beispiel dem Tod als eine Art spirituelle Praxis oder als etwas begegnet, das man einladen sollte, kann es passieren, dass man sich auf den Tod fixiert. Das kann Angst und Furcht vor dem Leben hervorrufen.
In der prä-tragischen Perspektive sagen wir entweder: »Ich werde überhaupt nicht sterben« oder »Ich werde leben, bis ich über 100 bin« oder »Ich werde die richtige Technologie finden und unendlich lange leben«. In der tragischen Perspektive sind wir uns bewusst, dass der Tod jederzeit eintreten kann, so dass es keinen Sinn hat, etwas zu tun. In der post-tragischen Perspektive sehen wir, dass der Tod das Leben belebt.
Der Tod ist die Grenzbedingung und der kreative Zwang, der uns die Möglichkeit eröffnet, voll zu leben. Er gibt unserer Endlichkeit einen Sinn, ohne die es nur eine unendliche Folge von Versuchen geben würde. Dies lenkt Herz und Verstand darauf, intensiv und gut zu leben. Das ist also etwas, wofür man dankbar sein sollte, was nicht heißen soll, dass es nicht auch zum Verlust von geliebten Menschen, zum vorzeitigen Verlust von kleinen Kindern führt. Auch das ist ein Teil des Lebens. Wir sehen Leben und Tod nicht als Gegensätze, sondern erkennen das Leben als das größere Ganze, in dem sich Geburt und Tod abspielen.
Author:
Dr. Elizabeth Debold
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