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Die Moderne stirbt. Wir können dafür sorgen, dass dieser Prozess würdevoll vonstattengeht. Vanessa Machado de Oliveira untersucht, wie das möglich werden kann und wie wir dazu beitragen können.
evolve: Du hast ein Buch mit dem Titel »Hospicing Modernity« geschrieben, was beides interessante Begriffe sind. Könntest du zunächst einmal zusammenfassen, was du unter der Moderne verstehst?
Vanessa Oliveira: Die Moderne ist eine lebendige Geschichte, die durch verschiedene Merkmale gekennzeichnet ist. Sie ist eine einzigartige Erzählung über den Fortschritt, die Entwicklung und die Zivilisation, die in uns lebendig ist. Und sie ist so wirkmächtig, dass sie die Art und Weise bestimmt, wie wir uns zur Welt verhalten, wie wir denken, uns etwas vorstellen, hoffen, Emotionen und Traumata verarbeiten, und die unsere Möglichkeiten konditioniert, miteinander in Beziehung zu treten oder andere Zukünfte zu gestalten und zu ermöglichen.
Ich beschreibe die Moderne als ein Haus auf einem Planeten, das die Grenzen des Planeten überschreitet. Damit sind die planetarischen Grenzen gemeint, die wir bereits erreicht haben. Dieses Haus hat auch eine sehr spezielle Architektur. Es ist auf einem Fundament der Trennung errichtet, die eine anthropozentrische Trennung zwischen den Menschen und dem von ihnen bewohnten Land hervorbringt, die wiederum weitere Trennungen erzeugt: Menschen sind von anderen Spezies, Kulturen von anderen Kulturen, Individuen von anderen Individuen getrennt.
Es ist eine eingeprägte Wahrnehmung von Trennung, denn in Wirklichkeit sind wir nicht getrennt. Wir sind mit dem Planeten verwoben und verflochten. Aber dieses eingeprägte Empfinden von Trennung bildet das Fundament des Hauses, das dann diese Rangordnungen und Hierarchien zwischen Spezies, Kulturen, Völkern und Individuen schafft. Und es gibt zwei tragende Wände in diesem Haus. Die eine ist der moderne Nationalstaat, von dem wir glauben, er sei dazu da, die Menschen zu schützen. Aber die Geschichte zeigt, dass er die Menschen nur so lange schützt, wie er auch Eigentum und Kapital schützt. Die andere tragende Wand ist die Geschichte von Fortschritt, Entwicklung und Zivilisation, die sich als eine universell gültige Geschichte präsentiert. Und weil eine militärische Macht hinter ihr steht, vernichtet sie – indem sie sich durch internationale Entwicklung und Bildung durchsetzt – all die anderen Geschichten und Möglichkeiten. Das Haus hat auch ein Dach, und das ist der globale, algorithmische Shareholder-Value-Kapitalismus, der sich aus dem industriellen Kapitalismus entwickelt hat.
Das Haus zerfällt
e: Wie würdest du den heutigen Zustand des Hauses der Moderne beschreiben?
VO: Die Moderne befindet sich in einem Zustand des Zerfalls, weil sie die Grenzen des Planeten überschritten hat. Um weiterexistieren zu können, muss dieses Haus den Planeten weiterhin ausbeuten. Deshalb gibt es in diesem Haus übermäßigen Konsum und eine Überproduktion von Abfall. Wir zerstören den Planeten sowohl in seiner eigenen Existenzgrundlage als auch als Lebensraum für andere Menschen, die nicht in diesem Haus leben. Für sie erzeugen wir Elend, Enteignung, Genozid und Ökozid.
Jetzt sind wir mit diesem System an einem Punkt angelangt, an dem das Haus der Moderne voller Krisen ist: soziale Krise, Krise der seelischen Gesundheit, ökologische Krise, Krise der Demokratie, Krise der Beziehungen und eine zunehmende Polarisierung innerhalb der Gesellschaft. Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem wir uns fragen müssen, was wir tun können, wenn dieses Haus nicht mehr lebensfähig ist und im Sterben liegt. Wie können wir dieses Sterben hospizlich begleiten und herausfinden, wie es weitergehen kann? Aber es wird uns nicht gelingen wahrzunehmen, was wir als Nächstes tun können, ohne die Lektionen verstanden zu haben, die uns der Zerfall dieses Hauses erteilt. Denn erst dann verstehen wir die Fehler, die wir gemacht haben und noch machen – damit wir in Zukunft andere Fehler machen können.
»Was können wir tun in einer Zeit, in der das Vertraute stirbt?«
e: Ist es das, was du mit der hospizlichen Sterbebegleitung für die Moderne meinst?
VO: Ja. Was können wir tun in einer Zeit, in der das Vertraute stirbt? Diese Vertrautheit mit dem Haus der Moderne erzeugt eine Menge Angst davor, mit seinem Sterben die gewohnten Puffer und den Schutz zu verlieren, den wir genossen haben. Der Verlust des Vertrauten ist etwas, worauf uns unsere moderne Erziehung in diesem Haus nicht vorbereitet hat.
Die hospizliche Sterbebegleitung verändert die Beziehung zum Tod. Das Haus wurde errichtet, um Tod, Trauer und Verlust zu beherrschen und eine bestimmte Bevölkerungsgruppe zu schützen. Es versprach zwar, alle zu beschützen, aber letztendlich schützte es eine ganz bestimmte Bevölkerungsgruppe vor Veränderungen und dem, was als Naturgewalt empfunden wurde. Es versuchte, Menschen eine Position zu verleihen, die durch Dominanz und Kontrolle geprägt ist. Die Geschichte der Moderne handelt von der Konstruktion einer perfekten Gesellschaft – mithilfe von Wissenschaft und Technologie.
Aber dabei haben wir vergessen, dass es nicht nur Wissenschaften und Technologien für den Bau und die Entwicklung von Objekten gibt, sondern auch für den Umgang mit den Dingen. Das sind die Wissenschaften und die Technologien, die viele Indigene Gemeinschaften bewahren und behüten, wenn sie in einer verantwortungsvollen Beziehung zu ihrem Land leben. Viele Indigene Völker haben die Indigenen Wissenschaften und Technologien der Beziehung, des Respekts, der Ehrfurcht und der wechselseitigen Austauschbeziehung des Gebens und Nehmens zum Land, zu den anderen Wesen und untereinander zu einem fortgeschrittenen Entwicklungsstand weiterentwickelt.
Diese Indigenen Beziehungsfähigkeiten lehren uns, dass es kein gut gelebtes Leben ohne einen gut gestorbenen Tod geben kann. Direkt vom Zeitpunkt unserer Geburt an sehen wir dem Tod ins Auge. Unsere Indigenen Mitmenschen verstehen Erziehung vom Tag der Geburt an als Vorbereitung der Menschen darauf, sowohl gute Älteste als auch gute Vorfahren für alle mit uns in Beziehung stehenden Wesen zu werden. Mit diesem Wissen wenden sie sich der Ältestenschaft und dem Tod zu. Um das Wunder des Lebens wahrzunehmen, muss der Tod ein Teil davon werden.
In der hospizlichen Sterbebegleitung geht es darum, das Sterben mit Integrität und Würde zu begleiten. Das Haus der Moderne hat gerade derzeit so viele Geschichten zu erzählen und so viel Wut und Angst im Zusammenhang mit dem Sterbeprozess zu verarbeiten, dass wir uns gar nicht die benötigte Ruhe nehmen, uns mit den Geschichten auseinanderzusetzen und die Lektionen daraus zu lernen. Stattdessen drehen wir uns weiter im Kreis.
Die hospizliche Sterbebegleitung ist eine Einladung, dem, was in uns und um uns herum stirbt, eine palliative, umsorgende Zuwendung anzubieten – damit dieses Sterben in Würde und Integrität stattfinden kann. Und diese Würde und Integrität hängen davon ab, wie wir die Geschichten verarbeiten, die genau an diesem Punkt des Sterbens erzählt werden.
Gleichzeitig bedeutet hospizliche Sterbebegleitung auch, dass durch das Sterben Energie und Zeit freigesetzt werden und ein Teil dieser so entstehenden Ressourcen als vorgeburtliche Begleitung für das verwendet werden kann, was geboren werden will, jedoch ohne es mit Projektionen und Idealisierungen zu ersticken. Anstatt uns bereits das Neue vorzustellen, lernen wir durch das, was stirbt, das Ereignis von etwas Unvorstellbarem geschehen zu lassen.
Ein Akt der Liebe
e: Etwas stirbt, und man möchte wissen, was als nächstes kommt. Und doch ist das, was sterben muss, auch zugleich die Grundlage dessen, was in die Entwicklung und den Fortschritt der Zukunft eingebracht werden kann.
VO: Ja. Denn wenn wir nur das Haus an sich umbauen oder uns neu vorstellen, können wir uns lediglich ein anderes Haus mit demselben Komfort und denselben Annehmlichkeiten vorstellen, wie wir sie vorher hatten, weil unsere Wünsche bereits in die Fänge dieses Hauses geraten sind. Zuerst müssen wir uns von diesen Wünschen verabschieden, weil wir verstehen müssen, dass das Haus im Sterben liegt.
»Wir müssen in der Lage sein, Ungewissheit anzunehmen und uns von ihr durchdringen zu lassen.«
Und es liegt in unserer Verantwortung, das zu tun. Aber oft verstehen wir Verantwortung als eine Last, dabei ist sie auch ein Akt der Liebe. Es geht darum, ganz in der Welt und im eigenen Leben und Sterben zuhause zu sein, aber nicht in einer Identität gefangen zu bleiben, die ein menschliches Konstrukt ist, sondern in ein Leben hineinzuwachsen, das durch die Nabelschnur genährt wird, die uns mit dem Planeten verbindet.
Aber natürlich dürfen wir nicht vergessen, dass wir es hier mit verschiedenen Ebenen der Komplexität zu tun haben. Es gibt die Nabelschnur und es gibt die tatsächlich geschehenen Geschichten, die von Konflikten, Dissonanzen, Ausbeutung und Gewalt geprägt sind. Für diese Dinge bin ich immer noch verantwortlich. Es handelt sich um eine menschliche und eine nicht-menschliche intergenerationelle Verantwortung. Das bedeutet, sich der Verantwortung gegenüber den Vorfahren, die vor einem da waren, und den Nachfahren, die noch kommen werden, bewusst zu sein. Wie ehren wir das Leben und die Opfer unserer Vorfahren, während wir gleichzeitig ihre Fehler anerkennen? Und wie werde ich eine gute Älteste und ein guter Vorfahre für die Nachfahren, die noch kommen werden?
e: Welche Haltungen und Einstellungen repräsentiert die hospizliche Sterbebegleitung für uns selbst und für unsere Kultur?
VO: Wir müssen bestimmte Vorstellungen loslassen, die das Haus der Moderne konditioniert hat, und einige Fähigkeiten reaktivieren, die aus dem Haus verbannt wurden. Dieses Loslassen ist am Anfang schmerzhaft. Was beispielsweise losgelassen werden muss, ist der starke Wunsch nach Gewissheit. Wir müssen in der Lage sein, Ungewissheit anzunehmen und uns von ihr durchdringen zu lassen, uns mit dem Wandel zu verbinden und mit ihm zu tanzen. Wir müssen auch den Wunsch unterbrechen, Dinge zu konsumieren, ohne sie zu verdauen. Wir konsumieren so vieles, nicht nur Dinge, sondern auch Wissen, Informationen, Kritik, Geschichten, aber wir lassen sie nicht verdauen. Deshalb entsteht eine enorme Verstopfung durch Dinge, die unverarbeitet geblieben sind und die sozusagen eine »kontrollierte Diarrhö« brauchen, um sich weiterbewegen zu können. Und dann muss diese »Ausscheidung« kompostiert werden. Wir müssen in der Lage sein, uns den schmerzhaften Dingen, die geschehen sind und nach wie vor geschehen, zu stellen, aber auf eine Art und Weise, in der sie kompostiert, also zu Humus werden.
Kompostieren bedeutet, dass wir diese Dinge auf eine regenerative Weise verarbeiten und sie dabei in neue Erde verwandeln, ohne in Schmerz, Traurigkeit, Ärger, Frustration oder Groll zu ertrinken.
e: Kannst du mehr zu diesem Kompostierungsprozess sagen?
VO: Dieser Prozess hat vier Dimensionen. Die erste ist emotionale Besonnenheit. Dazu müssen wir lernen, auf etwas zu reagieren, ohne uns von unseren Zwängen steuern zu lassen. Denn oft reagieren wir aus einem Raum von Trauma, Unsicherheit, Ego oder anderen Dingen, die wir noch nicht verarbeitet haben. Bei der emotionalen Besonnenheit geht es darum, ruhig und gelassen an etwas Schwieriges heranzugehen.
»Anstatt uns bereits das Neue vorzustellen, lernen wir durch das, was stirbt.«
Der zweite Aspekt ist die Beziehungsreife. Damit ist die Fähigkeit gemeint, Beziehungen einzugehen, die auf Vertrauen, Respekt, Gegenseitigkeit, Einverständnis und Verantwortlichkeit beruhen. Wir tun, was erforderlich ist, statt uns nur vom Willen unseres Egos leiten zu lassen.
Der dritte Aspekt ist intellektuelle Einsichtsfähigkeit. Sie erfordert ein Upgrade der Systeme, die das Haus bisher für den Verstand verwendet hat. So benötigen wir zum Beispiel anstelle des universellen Denkens ein flexibles Denken. Wenn man beim universellen Denken auf Schichten der Komplexität stößt, lässt der Drang nach Universalität alle Schichten kollabieren, stülpt dem Ganzen ein Narrativ der Kohärenz über, schneidet das heraus, was nicht in dieses Narrativ passt, und kontrolliert die Grenzgebiete. Die Menschen entwickeln dann einen Tunnelblick und versuchen, alles passend zu machen. Aber das ist unmöglich, weil es viele verschiedene Möglichkeiten, Perspektiven und Dinge gibt, die uns gar nicht bewusst sind. Bei den derzeitigen Polarisierungstendenzen in der Gesellschaft sehen wir, dass uns das Gewicht dieser Komplexitätsschichten das Genick bricht. Wenn es uns nicht gelingt, all diesen Schichten Raum zu geben und auf flexible Weise zu denken, werden wir extrem ängstlich und frustriert sein. Wenn Menschen dann versuchen, mit dieser Angst und Frustration in einem universellen Rahmen umzugehen, werden sie in dogmatische Perspektiven, Verteidigung und Polarisierung verfallen. Sobald sie lernen, die Perspektiven und Paradoxien auszuhalten, verschwindet diese Angst.
Und die vierte Dimension ist die generationenübergreifende Verantwortung, über die wir bereits gesprochen haben.
e: Du sprichst von Bildung und Erziehung in einer Zeit, in der alles zu Ende geht, was vertraut ist – als Vorbereitung auf die Endzeit der Welt, wie wir sie heute kennen. Ist das eine Art hospizliche Bildung?
VO: Ja, es geht um die Vorbereitung auf eine hospizliche Sterbebegleitung, aber auch auf eine vorgeburtliche Begleitung, die der Erde zurückgegeben werden muss. Viele Leute denken, dass wir etwas gebären werden. Ich denke, wir müssen viel bescheidener sein und sagen: »Wir helfen bei der Geburt von etwas, das das Land, die lebendige Intelligenz des Planeten, hervorbringen will.« Es geht darum, dem Land zu erlauben, ein zentraler Partner bei diesem Prozess zu sein und es durch uns träumen zu lassen und dadurch zuzulassen, von dem Land, das wir sind, gestaltet zu werden. Unser Körper ist unser Land. Wir sind bereits miteinander verbunden und verwoben. Unsere Aufgabe ist es, die Ströme dieser Verbindung wieder frei fließen zu lassen.
Author:
Dr. Elizabeth Debold
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