Den Kern des Lebens erfahren
Schon mit 16 Jahren begann Johanna Klug, sich mit Sterben und Tod auseinanderzusetzen. Diese existenzielle menschliche Erfahrung und wie wir damit umgehen, ließ sie nicht mehr los. Sie begründete einen Studiengang mit und schreibt erfolgreiche Bücher, die zeigen, was wir im Leben gewinnen, wenn wir das Sterben nicht verdrängen.
evolve: Was hat dich dazu gebracht, dich so jung mit Sterben, Tod und Sterbebegleitung zu beschäftigen?
Johanna Klug: Ja, für viele scheint das ungewöhnlich, aber letztendlich finde ich es viel ungewöhnlicher, dass wir uns bis zum Ende unseres Lebens nicht mit dem Thema auseinandersetzen. Ich habe mit 16 neben der Schule angefangen im Altenheim zu arbeiten. Das hat mir so gut gefallen, dass ich für zwei Jahre geblieben bin. Dabei war ich immer wieder mit heftigen Situationen konfrontiert, aber auch mit sehr schönen. Oft gab es eine nahbare und herzliche Wärme im Kontakt mit den Menschen. Und natürlich sind dort auch Menschen verstorben. Am nächsten Tag war das Zimmer leer oder neu belegt. Das Sterben wurde »totgeschwiegen«. Still und heimlich kamen die Bestatter und haben den Verstorbenen einfach mitgenommen, es wurde gar nicht thematisiert. Das fand ich merkwürdig, denn jeder Mensch hat einen Wert, aber wir tun so, als wäre er nie da gewesen.
Ich habe dann mit 18 mein Studium angefangen, saß in meinem ersten Auslandssemester in den Niederlanden vor Hausarbeiten und dachte: ›Wieso mache ich das?‹ Da kam mir auf einmal der Gedanke, dass ich sterbende Menschen begleiten möchte. In so einer Zeit, wo man sich von den Eltern ablöst, wo man so viele Optionen hat, aber auch so viel Selbstzweifel, war ich mir hundertprozentig sicher. Ich habe dann begonnen, auf der Palliativstation auszuhelfen, und diese Arbeit lässt mich seitdem nicht mehr los.
e: Was ist es an der Begleitung von Sterbenden, das dich nicht mehr loslässt?
JK: Wenn ich mit den Menschen bin, entsteht ein heiliger Raum. Da geht es nicht darum, besser zu sein als der andere. In unserer Gesellschaft werden so oft die Ellenbogen ausgefahren, um den anderen zu übertrumpfen. In der Begegnung mit Sterbenden kann ich einfach so sein, wie ich bin. Wenn ich wieder in die normale Gesellschaft zurückgehe, sehe ich, wie viele Masken wir aufsetzen, um nicht unseren Kern zu zeigen. Auf der Palliativstation habe ich den Kern der Menschen erlebt. Es geht um alles, es ist die letzte Lebensphase, und da darf alles da sein, auch Gefühle, die lange weggedrückt wurden. Ich habe es immer als Geschenk empfunden, mit den Menschen zu sein und für sie diesen Raum zu halten, in dem all das passieren darf. Manchmal sind es Gespräche über das Wetter und manchmal geht es ganz schnell und wir sind beim Jenseits und der Frage: »Was kommt nach dem Tod?« Manchmal erzählen die Menschen auch einfach nur von ihrem Leben, geben mir Tipps: »Mach es anders, heirate nicht so früh, lebe dein Leben.« Das sind Weisheiten, die einem die älteren Menschen mitgeben.
e: Wie erlebst du es mit anderen jungen Menschen, wenn du mit ihnen darüber sprichst? Ist das für sie ungewöhnlich oder inspirierend, dass du dieses Thema so in den Mittelpunkt stellst?
JK: Zuerst dachte ich, dass ich es mit niemandem teilen will, weil ich nur auf Unverständnis stoße und die Leute sagen: »Ach, du bist doch noch so jung, geh doch lieber auf eine Party und feiere, lebe dein Leben.« Aber das Thema ist mit der Zeit immer intensiver geworden. Neben meinem Master habe ich einen Kurs in Sterbebegleitung gemacht. Ich habe ein kleines Mädchen begleitet und darüber in dem Masterstudiengang Journalismus geschrieben, und ich war in Südafrika in einem Hospiz. Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich so viel erfahren habe und mir zutraue, darüber in ein Gespräch mit engeren Freundinnen zu gehen. Ich habe gesehen, dass ich den Raum für dieses Thema halten kann. Egal ob jung oder alt, ganz eng oder ferne Bekannte, da geht ein Raum auf, und die Menschen teilen Geschichten über den Tod und das Sterben, weil jeder Mensch irgendwie schon mal damit in Berührung gekommen ist.
»Wenn ich mit den Menschen bin, entsteht ein heiliger Raum.«
Natürlich habe ich auf der Palliativstation auch vieles erlebt, das mich sehr berührt hat. Und dann waren da wieder heilige und schöne Momente. Meine öffentliche Beschäftigung mit dem Thema ging dann so weit, dass ich einen Studiengang mit aufgebaut habe, der sich mit Sterben und Tod befasst.
e: Was ist das für ein Studiengang?
JK: Ich habe 2019 nach meinem Master den Studiengang »Perimortale Wissenschaften« an der Universität Regensburg mit konzipiert und dort als wissenschaftliche Mitarbeiterin gelehrt. Nach zwei Jahren habe ich mich entschieden, den Job dort zu kündigen und freiberuflich zu arbeiten. In den Anfängen haben wir viel mit Kunst und Medien gearbeitet, in denen Sterben und Tod thematisiert wird, haben es aus palliativmedizinischer oder juristischer Sicht betrachtet, inklusive eines Praxissemesters.
e: Und was ist jetzt der Schwerpunkt deiner Arbeit?
JK: Ich bin weiterhin ehrenamtlich in der Sterbebegleitung tätig. Aktuell arbeite ich auch an zwei Buchprojekten und einer Kinderbuchreihe. Gleichzeitig bilde ich mich weiter in ganzheitlicher Körperarbeit und in Ernährungsberatung.
Ansonsten vertraue ich meiner Intuition, wo es für mich weitergeht. Ich glaube, die haben wir alle, wenn wir auf die Welt kommen, kennen sie als »Bauchgefühl« und bekommen sie auch wieder, wenn wir sterben. Im Erwachsenenleben verlieren wir diese Verbindung zu uns selbst leicht und suchen danach mit Achtsamkeitsübungen oder im Coaching. In der Konfrontation mit dem Sterben finden wir diese Intuition auf ganz natürliche Weise wieder.
e: Was könnten wir als Gesellschaft lernen, wenn wir dem Sterben mehr Aufmerksamkeit schenken würden?
JK: Wir würden im Miteinander sehr viel gewinnen, weil wir uns wirklich sehen würden. Jeder Mensch möchte gesehen werden in all dem, was er oder sie ist. Den anderen nicht in Schubladen einordnen oder mit Vorurteilen behaften, sondern ihm das Gefühl geben: Du bist wichtig für den Moment, jetzt hier, wie wir sind.
Das ist genau das, was wir auch als Gesellschaft brauchen: dass wir uns einfach mehr sehen und nicht so sehr nur bei uns sind. Ich habe das Gefühl, wir werden immer mehr ichbezogen, aber nicht im Guten. Der ganze Konsum bürdet uns noch mehr Ballast auf, der uns wegbringt von dem, was wir eigentlich sind. Wenn ich mich selber nicht sehe und im Konsum versinke, wie soll ich dann im Miteinander mit anderen Menschen etwas ins Fließen bringen?
e: Du erlebst als jüngerer Mensch in der Sterbebegleitung viele ältere Menschen. Da ergibt sich auch eine Form von Gespräch zwischen den Generationen. Wie erlebst du diese Begegnung?
JK: Ich bin so aufgewachsen, dass man Respekt vor den Älteren haben sollte. Diesen Respekt habe ich mitgenommen. Als ich anfing im Altenheim zu arbeiten, habe ich gemerkt, dass es nicht nur darum geht, als jüngerer Mensch dem Älteren Respekt entgegenzubringen, sondern es muss von beiden Seiten kommen. Eine Begegnung auf Augenhöhe ist entscheidend, das Alter ist nicht so wichtig, das ist nur eine Hülle. Das Entscheidende ist der Geist, der uns am Leben hält. Mit dieser Haltung bin ich immer zu den älteren Menschen gegangen. Ich habe eine sehr gute Freundin, die ist dieses Jahr 90 geworden, und eine andere, die 9 geworden ist. Ich habe nicht das Gefühl, dass uns irgendetwas trennt, weil wir aus einer anderen Generation sind. Es kommt darauf an, wie offen die Menschen miteinander sind.
Wenn es zu Konflikten zwischen Alt und Jung kommt, dann will jeder auf seinem Standpunkt beharren. Aber es geht für mich nicht darum, eine Diskussion loszubrechen und meinen Standpunkt zu vertreten, sondern darum, dass ich einfach da bin. Und wenn man mit sich selbst verbunden ist, dann kann man sich auch mit anderen Menschen verbinden, egal wie alt sie sind.