Warum die Bauernproteste uns alle angehen
Wer wach über das Land fährt, kann sie seit einigen Jahren wahrnehmen: Grüne Kreuze stehen an den Feldrändern. Sie machen auf das Bauernhofsterben aufmerksam und zeigen der Bevölkerung: »Nein, eure Ernährung ist nicht mehr sicher!« Sie mahnen, dass die Produktionsbedingungen für Lebensmittel in Deutschland in eine Sackgasse geraten sind.
In Deutschland, Europa und weltweit hat die Unbeständigkeit der Märkte, die Volatilität der Preise für Energie, Dünger, Futtermittel für viele Bauern ein kalkulierbares Wirtschaften dramatisch erschwert. Die Unsicherheit hinsichtlich der politischen Regulierung hat, genauso wie die Bürokratie, nachgewiesenermaßen deutlich zugenommen. Der technische Fortschritt in Digitalisierung und Robotik, aber auch in anderer Agrartechnik wie modernste Traktoren, fordert von den Landwirten immer mehr Investitionen, für die gleichzeitig immer weniger Geld da ist. Dazu kommen die sich immer schneller verändernden Konsumentengewohnheiten und Erwartungen an ein gesundes, klimaschonendes, regionales, aber kostengünstiges Essen.
Die urbanen Mitbürgerinnen verstehen die Bauern nicht mehr. Sie haben kein gutes Verhältnis mehr zu denen, die auf dem Land und mit ihm wirtschaften. Aus ihrem städtischen Bewusstsein heraus sprechen sie vorwurfsvoll von der »Vermaisung« der Landschaft, die sie als ihr Naherholungsgebiet ansehen. Sie haben mit Ärger vielerorts zur Kenntnis genommen, dass die Trinkwasserpreise steigen, weil der Aufwand an Klärung von Pestizid- und Antibiotikarückständen aus der Landwirtschaft so teuer geworden ist. Sie haben Angst davor, dass die Landwirtschaft bis zu 30 Prozent der klimaschädigenden Gase emittieren soll und die Vielfalt in Flora und Fauna vernichtet. Daraus folgt eine wachsende gesellschaftliche Missachtung des Bauernstandes, der das Ernährungssystem praktisch auf seinen Schultern trägt.
Die Bauern, die sich nach den Erwartungen der Gesellschaft gerichtet haben, z. B. mit massiven Ertragssteigerungen, sind von dem ihnen entgegengebrachten Unverständnis schockiert. Sie haben seit Jahrzehnten für fallende Lebensmittelpreise ihre Produktionsverhältnisse optimiert. Sie haben die politisch gewollten Umweltschutzbedingungen eingehalten. Sie verbessern das Tierwohl in ihren Ställen und auf ihren Weiden. Und dennoch werden sie nicht wertgeschätzt, erzielen im Durchschnitt kein gutes Einkommen und werden häufig als alleinige Schadensverursacher gebrandmarkt.
»Landwirtschaft ist ein gesellschaftliches Lernfeld dafür, mit knappen und teurer werdenden Ressourcen klüger umzugehen.«
Von all dem sind die Bauern mittlerweile so sehr in die Enge getrieben, dass sie seit Januar 2024 mit zunehmender Härte, Intensität und Verzweiflung demonstrieren. Die vermehrt gezeigte Gewaltbereitschaft offenbart unter anderem, dass bei LandwirtInnen Wut, Zorn, Enttäuschung und eben auch Verzweiflung wachsen. Die Angst, Hof und Land zu verlieren, und die viermal so hohe Burn-Out-Rate bei Landwirten im Vergleich zum bundesdeutschen Bevölkerungsdurchschnitt sind offenbar nicht länger zu ertragen. Dazu kommen die Sorgen wegen der klimatisch immer schwierigeren Bedingungen und um die weitere Finanzierbarkeit der Schulden, die die Mehrheit der Betriebe aufgrund der gestiegenen Zinslast in Deutschland umtreibt.
Diese Sorgen und Nöte gehen aber uns alle an. Die protestierenden Bauern und Bäuerinnen zeigen, wie sehr das gesellschaftliche Verhältnis zur Natur hinsichtlich der Befriedigung des Grundbedürfnisses der Nahrung gestört ist. 70 Jahre beschleunigter technischer Entwicklungen haben dazu geführt, dass immer weniger Bauern immer mehr Menschen satt machen können. Sie haben aber auch dazu geführt, dass heutzutage mehr und mehr in die weiträumige Transformation der Biosphäre in eine Technosphäre investiert wird, so dass möglichst bald mittels reaktorgestützter Produktion von Eiweiß- und Fettzellen sowie mit Präzisionsfermentation eine postlandwirtschaftliche Ernährungsweise realisiert wird. Von »Milch ohne Tiere« ist da die Rede, von Protein aus Hefezellen, von In-vitro-Fleisch.
Nur in dem immer noch kleinen Segment der ökologischen Landwirtschaft wird mit einem Naturverständnis bei der Erzeugung von Nahrung gewirtschaftet, das die technischen Eingriffe in die Kreisläufe des Lebendigen so gering wie möglich halten will. Hier wird vom Eingebettetsein in das Ganze der Natur ausgegangen, mit mittlerer Technologie gearbeitet, die biologisch in größtmöglicher Hinsicht zuträglich sein soll. Im ökologischen Landbau sind Felder keine Fließbänder und Tiere keine Maschinen. Böden sind keine Nährlösung und Landschaften mehr als Wirtschaftsräume.
Hier wird auf regionale Wertschöpfung geachtet, die das Geld in der Region hält, so dass möglichst viele davon profitieren können, wie zum Beispiel lokale Handwerker. Häufig wird hier unter direkter Einbeziehung der Kundinnen, zum Beispiel bei der Finanzierung von Entwicklungen wie einer handwerklichen Käserei oder einem Dorfmarkt, solidarisch gewirtschaftet.
Die ökologische Landwirtschaft wird von vielen als ein lebendiges Labor angesehen, in welchem neue, klimaresiliente, den Boden und die Gewässer schonende Praxen erprobt werden. Sie soll helfen, den auf der Landwirtschaft insgesamt liegenden hohen Transformationsdruck konstruktiv zu kanalisieren. Die Gesellschaft erwartet, dass die Landwirtschaft die durch ihre Produktion für die Allgemeinheit entstehenden Kosten in Höhe von bis zu 90 Milliarden Euro pro Jahr (so eine Studie der Boston Consulting Group) verringert. Diese Kosten fallen bei den Steuerzahlenden für die Beseitigung von Umweltschäden an, die die intensiv-industrialisierte Landwirtschaft mit sich gebracht hat – zum Beispiel für die Gewässerklärung, bei der Schädigung des Klimas durch Methan, Diesel- und andere Abgase und bei den der Landwirtschaft zugerechneten Verlusten an biologischer Vielfalt.
Ja, der ökologische Landbau kann hier Wege weisen. Aber er ist sehr voraussetzungsvoll. Nur wenn wir Bürger in hoch industrialisierten Gesellschaften alle unsere Konsum- und Verhaltensweisen transformieren und beispielsweise weniger Produkte tierischen Ursprungs zu uns nehmen sowie deutlich weniger Lebensmittel verschwenden, wird eine ökologische Land- und Lebensmittelwirtschaft alle sättigen können.
Weisen uns die Nöte der Landwirtinnen nicht darauf hin, dass wir alle – und am besten gemeinsam – lernen müssen, innerhalb der planetaren Grenzen zu wirtschaften und einer »planetary health diet« folgen sollten? Landwirtschaft ist deshalb ein gesellschaftliches Lernfeld, in dem wir alle erkunden können, mit knappen und teurer werdenden Ressourcen klüger umzugehen.
»Klima-, Boden- und Artenschutz nur mit den Bauern!« So stand es auf einem Plakat bei einem der jüngsten Bauernproteste. »Und nur mit uns allen gemeinsam«, müsste auf dem Plakat noch ergänzt werden, also mit den Kundinnen der deutschen und europäischen Landwirtschaft. Sowie mittels eines politischen Rahmens, der dies ermöglicht und befördert. Wir alle brauchen wieder Boden unter den Füßen. Die Proteste der Bauern lassen uns in einen Spiegel schauen: Wir sehen unsere eigenen Ängste, wie wir oder spätestens die Generation unserer Enkel auf nachhaltige Weise noch satt werden können. Wie werden wir unsere Grundbedürfnisse noch befriedigen können, wenn uns der Weltmarkt einmal nicht mehr sättig, weil Kriege, Handelsschranken, Starkwetterereignisse, Bienen- und Insektensterben, Mikroplastik in den Böden und Gewässern existenzbedrohend geworden sind? Was passiert mit den energieintensiven Bioreaktoren, die für die High-Tech-Revolution der Nahrungsversorgung oder einer »zellulären Ernährungswirtschaft« stehen, wenn die Energienetze einmal als kritische Infrastruktur angegriffen werden sollten?
Gesellschaftlich wären wir gut beraten, so viel Produktionswissen und Können in Deutschland zu erhalten, dass die Selbstversorgung einigermaßen gesichert bleibt. Darüber hinaus bedarf es mehr Ernährungsbildung auf allen Ebenen der Gesellschaft. Ernährungskompetenz zu fördern, das wäre auch eine Maßnahme, die auf die Anerkennung des Könnens der Bauern einzahlt.
Ein Bewusstseinswandel ist dort erlebbar, wo regional oder lokal gemeinsam an Lösungen gearbeitet wird. Bei runden Tischen zu Themen der biologischen Vielfalt, des Klimaschutzes oder der Bodengesundheit, bei Mitmach-Konferenzen, die in verschiedenen Regionen in Deutschland von Stiftungen und anderen regionalen Trägern organisiert werden, in Ernährungsräten auf kommunaler Ebene entstehen Projekte, die Hoffnung machen. Und auch die Zukunftskommission Landwirtschaft (ZKL), die vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft eingesetzt wurde, hat es geschafft, die Anliegen der Landwirte nach mehr Anerkennung, fairen Preisen und einer praxisnahen Politik politisch umsetzbaren Lösungen entgegenzuführen. Und zwar für alle Landwirtinnen, gleich ob sie konventionell oder ökologisch wirtschaften. Sowie zusammen mit dem Natur-, Tier-, Umwelt- und Verbraucherschutz.
Die integrierende Perspektive ist klar: Eine regionale Lebensmittelversorgung braucht eine regionale Land- und Verarbeitungswirtschaft. Ein neues Miteinander ist anzustreben unter dem Motto, das über einer der vergangenen Demonstrationen stand: »Gemeinsam gegen das Höfesterben!« Wenn das Bewusstsein des großen volks- und betriebswirtschaftlichen Nutzens einer »Ökologie der kurzen Wege« zwischen Stadt und Land gestärkt wird, dann entsteht eine neue, zeitgemäße Agrar- und Ernährungskultur.