Es ist unübersehbar: Unsere Gesellschaften polarisieren sich zunehmend. Für diesen Zustand werden regelmäßig die sozialen Medien verantwortlich gemacht. Wenn man an die 1930er Jahre im Vorkriegsdeutschland zurückdenkt, war es das Radio, oder während der religiös motivierten Bürgerkriege zu Zeiten der Reformation war es der Buchdruck.
Können wir wirklich den Medien die Schuld geben? Ja und nein.
Gesellschaften sind sehr komplexe Systeme, die eine Vielzahl von Menschen mit unterschiedlichen und oft gegensätzlichen Interessen zusammenhalten. Meistens gibt es einen sozialen Klebstoff, der die Bevölkerung zusammenhält, das heißt Gemeinschaftsinstitutionen, denen alle vertrauen. Es gibt ein tragfähiges gemeinsames Narrativ, so dass die Menschen den gesellschaftlichen Institutionen vertrauen und ihre Differenzen mit Hilfe der Politik und anderer Mittel in einem gemeinsamen Rahmen austragen können. In Zeiten zivilisatorischer Übergänge bricht das Vertrauen in solche gemeinsamen Institutionen jedoch zusammen.
Dabei gibt es zwei Szenarien, und nur in einem davon spielen die Medien die entscheidende Rolle. Komplexe Gesellschaften aufrechtzuerhalten kostet viel Geld. Das Vertrauen der Bevölkerung hängt in hohem Maße von öffentlichen Dienstleistungen ab, die vom Staat oder von gut funktionierenden und regulierten Märkten erbracht werden. Was aber geschieht, wenn die betreffende Gesellschaft nicht mehr den notwendigen Überschuss erwirtschaften kann, um solche Institutionen zu erhalten, die dieses Wohlergehen gewährleisten?
In einem solchen Moment beginnt sich der soziale Klebstoff, der die Gesellschaft zusammenhält, aufzulösen, und es kommt zur Fragmentierung. Paradoxerweise führt gerade diese Fragmentierung zur Polarisierung. Menschen suchen innerhalb ihrer Gruppen nach einem gemeinsamen Nenner.
»Gesellschaften sind sehr komplexe Systeme, die eine Vielzahl von Menschen mit unterschiedlichen Interessen zusammenhalten.«
Das andere Szenario ist nicht durch einen Verlust von Ressourcen geprägt, sondern von einer Zunahme der Komplexität, und hier kommen die Medien ins Spiel. Die Krise in Europa, die im 14. Jahrhundert begann, wurde eindeutig durch die Rolle des Buchdrucks beeinflusst. Dieser Prozess erhöhte die Komplexität und die Geschwindigkeit der Verbreitung »ketzerischer« Ideen in einem solchen Ausmaß, dass die ideologische Kontrolle der katholischen Kirche zusammenbrach.
Heute, in unserer aktuellen Polykrise, treten beide Effekte gleichzeitig auf. Wir leben in einer Zeit schwindender Ressourcen, und die wachsende Wirtschaftsmacht Chinas hat zur Folge, dass die Extraktionsmöglichkeiten des Westens abnehmen. Gleichzeitig haben das Internet und die sozialen Medien die Fragmentierung von Meinungen vorangetrieben, das Vertrauen in die Institutionen ist so gering wie nie zuvor. Die Polarisierung nimmt heute die Form eines Kulturkriegs an, einer Spaltung zwischen den gebildeten Städtern, d. h. den »Nowheres« oder den »Virtuals« einerseits, und den »Somewheres« und den »Physicals« anderseits. Der Kulturkampf um die Werte einer progressiven Identitätspolitik und die Gegenreaktion darauf in Form von Populismus sind der aktuelle Ausdruck dieses Konflikts.
Wo wird das enden? Auch hier gibt es zwei Hauptszenarien.
Das eine Szenario ist der Abstieg, die Entwicklung der Gesellschaft hin zu einer geringeren Komplexitätsstufe, die über weniger Mittel verfügt, um die früheren Institutionen aufrechtzuerhalten. Aber eine Gesellschaft kann sich auch aufwärts, hin zu einer höheren Form der Komplexität entwickeln, die die Elemente des früheren Konflikts »transzendiert und integriert«. Denken Sie daran, was nach der Reformation geschah. Im Wesentlichen wurde die Religion in die Privatsphäre verlagert, wo sie frei ausgeübt werden konnte, aber im öffentlichen Bereich durch die Zivilreligion um den Monarchen und die Hinwendung zur Wirtschaft ersetzt. Der kapitalistische Markt und der Nationalstaat überwanden den Religionskonflikt und erhöhten das Komplexitätsniveau sogar noch. Das ist auch die Wahl – wenn es denn eine Wahl ist –, vor der wir heute stehen. Unsere Gesellschaften können in eine wesentlich primitivere Form zusammenfallen, oder sie können sich aufwärts in eine neue Integration hineinbewegen.
Peter Pogany erklärt in seinem Buch »Rethinking the World«, dass der Weg in die Zukunft in der Verallgemeinerung des Gesellschaftsvertrags auf die gesamte Weltbevölkerung, in der Schaffung starker globaler Institutionen zum Schutz des Lebendigen und der begrenzten Ressourcen sowie in einer neuen Art von Vertrag zwischen der Menschheit und dem Gewebe des Lebens liegt.
Meine persönliche Einschätzung ist, dass solche Institutionen der Allmenden, die auf der systematischen Gegenseitigkeit von Versorgungssystemen beruhen, dabei Ressourcen und Energie sparen und gleichzeitig komplexe Dienstleistungen aufrechterhalten, der Schlüssel zu einem aufwärts gerichteten Übergang sein werden.