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Bayo Akomolafe fordert unsere Annahmen über Weisheit heraus. Der nigerianische Psychologe und Dichter hinterfragt unseren menschlichen Anspruch auf Weisheit und lädt die Welt ein, uns zu erschüttern. Ein Gespräch über Beziehungen, eine Welt, die uns nicht in Ruhe lässt und die Fragen künstlicher Intelligenz.
evolve: Wir leben in einer Zeit, in der wir mehr oder weniger orientierungslos sind und die globale Zivilisation in einer Krise steckt. Es scheint, als wüssten wir nicht, wohin wir gehen. Wie können wir in dieser Situation Weisheit finden?
Bayo Akomolafe: Lass mich zunächst über Wissen sprechen. Wenn wir an Wissen denken, stellen wir uns das oft als ein stabiles inneres Subjekt vor, das ein stabiles äußeres Objekt repräsentiert. Und je mehr diese Repräsentation dem Bild des Ganzen, das jenseits des Subjekts liegt, nahekommt, desto mehr wissen wir. Die wissenschaftliche Methode basiert auf dieser Idee der Repräsentation und der Trennung zwischen Subjekt und Objekt. Diese Vorstellung von Wissen setzt voraus, dass wir unabhängig sind, dass also der Wissende vom Gewussten getrennt ist und dass wir einfach durch die Welt navigieren und sie repräsentieren, archivieren und kategorisieren können. Wir können sie in ein Korsett packen und das war’s. In diesem Sinne ist das Wissen materiell gestaltend. Wir »repräsentieren« die Welt nicht einfach nur auf eine unbeteiligte unschuldige Weise, sondern wir gestalten sie und formen sie durch die Art und Weise, wie wir sie »wissen«. Aber: Veränderung geschieht dann, wenn die Welt sich zu wehren beginnt.
Walter Benjamin schreibt über den »Engel der Geschichte«, der mit der Vergangenheit konfrontiert wird. Und dort ereignet sich eine Explosion, und diese Explosion ist die Zeitlichkeit. Der Engel der Geschichte versucht, diese Explosion einzudämmen, aber die Explosion treibt ihn zurück und gestaltet die Zukunft.
In gewisser Weise explodiert die Welt tatsächlich. Die Welt wehrt sich gegen unsere Formen des Wissens, die das Anthropozän hervorgebracht haben. Denn die Art und Weise, wie wir unser Wissen von der Welt angewendet haben, ist zutiefst kolonial geprägt. Und dort, wo die Welt sich wehrt, wo sie antwortet, liegt die Weisheit. Die Weisheit ist der Rückstoß. Die Weisheit ist der Schritt an die Kante des Abgrunds, die rohe Gewalt einer Welt, die unter den Stiefeln unserer sogenannten Exklusivität nicht stillhalten wird.
Weisheit kann nicht entdeckt werden, sie trifft uns, begegnet uns und nimmt uns in ihren Dienst. Wir wissen, wie man weiß. Wir wissen, wie man katalogisiert, wie man Excel-Tabellen erstellt, wie man Strategien und Manifeste verfasst, wie man sich gegenseitig zählt. Aber manchmal übersteigt das, was zählt, unsere Möglichkeiten des Zählens. Und ich denke, Weisheit liegt am Rande des Wissens, an der Grenze dessen, was wir wissen. Wenn die Welt sich weigert, stillzuhalten. In diesem Moment, wenn die Welt unsere Wissenssysteme durcheinanderbringt, wohnt die Weisheit.
Eine Kraft der Begegnung
e: Das ist kraftvoll. Weisheit ist also nicht etwas, das wir haben können.
BA: Nein. Ich bin sehr zögerlich, wenn es darum geht, Weisheit als etwas zu betrachten, das man besitzen kann. Das ruft direkt wieder diese beunruhigende besitzergreifende Beziehungsdynamik zwischen uns und den Dingen hervor. Es gibt die Geschichte von der Schildkröte, die nach Weisheit sucht. Sie will beweisen, dass sie weiser ist als die Götter. Also fordern die Götter sie zu einem Weisheitswettbewerb heraus. Die Schildkröte ist in der Yoruba-Mythologie traditionell eine volkstümliche Trickster-Figur, eine mythologische Figur, die durch ihre Tricks die göttliche Ordnung herausfordert. Diese Schildkröte wandert umher und sammelt die Weisheit von allem und allen – von den Pflanzen, der Sonne, dem Mond, dem Löwen. Und sie stopft diese Weisheit in ihre Kalebasse, eine kürbisähnliche Tasche. Aber wenn man über einen so großen Schatz verfügt, stellt sich die Frage, wo man ihn aufbewahrt. Die Schildkröte findet einen großen Baum und beschließt: Ich werde meinen Schatz zwischen den Früchten aufbewahren und ihn tarnen.
»Manchmal übersteigt das, was zählt, unsere Möglichkeiten des Zählens.«
Aber sie kann den Baum nicht erklettern, denn die Kalebasse, die sie um den Hals trägt, hindert sie daran. Ein Grashüpfer in der Nähe, der als das dümmste aller Tiere gilt, beobachtet, wie die Schildkröte immer wieder daran scheitert, auf den Baum zu klettern und die Weisheit dort zu verstecken. Schließlich macht er sich bemerkbar und sagt: »Ich beobachte dich jetzt schon eine ganze Weile. Wie wäre es, wenn du den Kürbis einfach auf deinen Rücken packst? Vielleicht hilft das.« Und er hüpft von dannen. Und die Schildkröte bricht regelrecht zusammen, weil sie merkt, wie dumm sie ist, hat sie doch gerade vom dümmsten aller Tiere eine weise Empfehlung erhalten. Und sie erkennt die Ironie, dass das weiseste Wesen auf dem Planeten zu dumm ist, die einfachsten Aufgaben zu lösen. Also klettert sie auf den Baum und gibt der Welt die Weisheit zurück. Diese Geschichte kann uns bewusst machen, dass wir nicht weise sind. Weisheit bezieht sich auf ein Gebiet, ist territorial, sie ist keine Eigenschaft.
e: Was meinst du mit territorial?
BA: Ich möchte es so ausdrücken, wie es der Psychologe James Hillman gesagt hätte: Die Seele ist nicht im Verstand, der Verstand ist in der Seele. Und die Seele ist die Anima Mundi, die Weltseele. Die Welt als Ganzes ist überreich und dicht von Weisheit und Intelligenz erfüllt. Das Gehirn ist ein dienender Überträger, aber nicht der Sitz der Weisheit. Wir besitzen sie nicht. Wenn ich sage, dass Weisheit territorial ist, dann meine ich damit, dass es schwierig ist, Weisheit als fest eingeteilte Beziehung oder stabiles Eigentumsverhältnis zu verstehen. Sie ist ein Schnittpunkt von Körpern in ihrer Kontinuität. Sie ist eine Kraft der Begegnung, die Intensität eines Feldes und nicht etwas, das Elizabeth oder Bayo haben. Sie entspringt aus einer bestimmten Haltung.
Eine vielschichtige Verflechtung
e: Also auch jetzt in diesem Moment ist das, was du sagst, ein Territorium und eröffnet etwas, zu dem du beiträgst, aber es gehört weder dir noch mir. Es gehört zu dem, was am Schnittpunkt von dir und mir gerade geschieht.
BA: Ja. Die Weisheit ist das, was bleibt, wenn wir alles andere wissen. Es ist das, was dahinter lauert. Und nachdem wir all unsere Rituale und ortsbestimmenden Technologien angewandt haben, ist das, was immer noch flüstert und zu einem anderen Schritt einlädt und uns vielleicht still, unbeweglich und möglicherweise vorübergehend unergründlich macht: die Weisheit.
e: Das klingt sehr nach Ehrfurcht.
BA: Ja, das gefällt mir. Es ist Ehrfurcht. Es ist Trance. Ich will damit nicht sagen, dass Weisheit nicht konkret oder nur eine vorübergehende Phase wäre. Ich betrachte ja auch ein Trauma nicht nur als Auswirkung von etwas, sondern darüber hinaus als die Kultur, die aus diesen Auswirkungen hervorgeht. Wir können erleben, dass sich weise Praktiken aus einem Ereignis entfalten, eine Art Öffnung schaffen, die das Gegebene durchkreuzt, wie ein vorbeiziehender Komet, der das Raum-Zeit-Gefüge aufreißt. Dann entwickelt sich etwas, das aus diesem vorübergehenden, flüchtigen Moment entsteht, zu dieser Antwort, dieser Sehnsucht nach Weisheit. Aber das bedeutet nicht, dass wir die Weisheit erfasst haben, denn die Welt ist eine vielschichtige Verflechtung mit offenem Ende. Wäre sie einfach ein fertiges Produkt, dann könnten wir sagen, wir hätten alles herausgefunden, wie die Schildkröte es versucht hat. Aber das ist nicht Weisheit. Weisheit beraubt sich ständig selber wieder ihrer eigenen Natur. Und deshalb kann man Weisheit nicht besitzen.
Was unsere Annahmen durchkreuzt
e: Ich höre auch aus dem, was du sagst, dass es eine sehr tiefe Beziehung zwischen der Weisheit und der Lebenskraft selbst zu geben scheint. Aber wir haben alles instrumentalisiert, wir dringen immer tiefer in das Innere der Wesen ein, indem wir versuchen, mehr und mehr zu wissen. Aber das Leben entzieht sich diesem Wissen und ist der eigentliche Ursprung der Weisheit.
BA: Ja. Die Beweglichkeit und der ständige Wandel dessen, was wir grob als das Universum bezeichnen, ist Weisheit in ihrer sich andauernd wiederholenden Erneuerung, in ihrem ständigen Ineinanderfließen und Auseinanderfallen. Es ist also unmöglich, Weisheit als etwas zu betrachten, das man festhalten kann, denn in dem Moment, in dem man sie festgehalten hat, entschwindet sie – und ein Grashüpfer wird in dem Moment, in dem man es am wenigsten erwartet, zur Weisheit, die unsere Annahmen durchkreuzt.
Ich denke dabei an das Essay einer Biologin, das ich gelesen habe. Ihre Arbeit besteht darin, Mikroben zu untersuchen – indem sie diese tötet. Um sie zu untersuchen, frittiert sie die Organismen. Sie macht das jeden Tag, es ist Routine. Aber eines Tages kam ihr aus unerfindlichen Gründen der Gedanke, dass diese Mikroben ein verborgenes Eigenleben haben. Da wusste sie nicht mehr, was sie tun sollte. Sie war wie gelähmt von dieser Erkenntnis, die sich nicht aus den Bedingungen zu ergeben schien, unter denen sie arbeitete. Es schien eine Art übergreifende Querverbindung gewirkt zu haben. Ich habe viele Menschen über ähnliche Erfahrungen sprechen hören.
»Der Bäcker, der den Teig knetet, wird vom Teig geknetet.«
Ein Freund in Iowa erzählte mir zum Beispiel, wie sein Vater es liebte zu fischen und ihm das Fischen beigebracht hat. Und eines Tages fängt er diesen riesigen, wunderschönen Fisch. Und ihm wird klar, dass dieses Tier ein Mutterfisch ist. Und seit diesem Moment kann er keinen Fisch mehr essen. Diese Begegnungen zeigen doch, dass Weisheit das ist, was bleibt, nachdem wir alles gewusst und alles getan haben. Es sind nicht wirklich wir, die weise sind. Weisheit nimmt Körper in ihren Dienst, um sich in der Materie zu zeigen.
e: Das ist interessant, denn ich denke, das Leben selbst stellt uns die Weisheit in den Weg, das heißt, wir werden mit dem Tod der Bakterien oder den Augen der Fischmutter konfrontiert. Wir werden also der Weisheit in den Weg gestellt.
BA: Ja. Das ist schön formuliert. Du solltest ein Buch schreiben, Elizabeth, und es »Der Weisheit in den Weg gestellt werden« nennen.
e: Es könnte aber ein Buch mit leeren Seiten sein.
BA: Vielleicht wäre das die Weisheit des Buches ... Ja, es ist, als ob wir der Weisheit in den Weg gestellt würden, und mir gefällt, wie uns das von dem Druck befreit, Experten und Botschafter der Weisheit zu sein. Der Weisheit in den Weg gestellt zu werden, würde bedeuten, dass wir Akteure sind, die in größeren Handlungsfeldern stehen.
Eine weitere Geschichte könnte helfen, dies besser zu verstehen. Dr. Paul Spong ist Walforscher. Er beobachtet Delfine und Orcas und gibt ihnen Verhaltensimpulse, auf die sie reagieren sollen, damit er ihr Verhalten besser verstehen kann. Eines Tages reagieren sie nicht mehr darauf und er macht sich Sorgen: Sind sie krank? Warum reagieren sie nicht? Dann wird ihm klar, dass die Delfine jetzt ihn studieren, dass auch er unerwartet zur Versuchsperson in einem Experiment geworden ist, das er nicht kennt. Er hat es so nicht geplant, aber jetzt ist er Teil des Plans von jemand anderem geworden. Und unter diesem schockierenden Erleben erstarrt er plötzlich.
Das ist ein weiteres Beispiel dafür, dass einem die Weisheit in die Quere kommt. Es ist, als ob die Welt eine Fülle von Weisheit ist. Die Moderne setzt alles daran, die Weisheit unter den Schnellstraßen des Wissens zu kolonialisieren. Sie zu unterdrücken, sie zu zähmen. Denn Weisheit ist unförmig und kann nicht dazu genutzt werden, Kontinuität herzustellen.
Weisheit kann disruptive Auswirkungen haben. Sie ist nicht instrumentell. Sie sagt nicht: »Hier bin ich, benutze mich.« Sie steht uns nicht zur Verfügung, um sie zu gebrauchen. Sie spricht zu größeren Kräften und Notwendigkeiten oder der Abwesenheit aller Notwendigkeiten, den Unmöglichkeiten. Sie ist ein schwarzes Loch in der Mitte Hamburgs. Da stellt sich nicht die Frage: Okay, wofür können wir das verwenden? Wie schaffen wir eine nachhaltige Ressource für Autos? Wie verwerten wir das? Darum geht es nicht. Weisheit ist ein schwarzes Loch. Sie ist ein Ungeheuer. Die Weisheit ist ungeheuerlich in ihrer Erscheinung. Und ich denke, das ist das Geschenk der heutigen Zeit.
Das Ganze, das sich selbst berührt
e: Wir haben ja auch Systeme wie die künstliche Intelligenz mit ihrer kürzlich viel diskutierten ChatGPT-Software geschaffen. Dabei handelt es sich um ein Kompendium von Wissen, das – wenn auch in seiner Fülle – festgelegt ist. Es ist eine Plattform, die sehr viele unserer Konzepte bündelt, ordnet und vergleicht. Aber diese Einrichtung ist nicht vom Leben selbst durchdrungen. Stellt die KI unsere Vorstellungen von Weisheit infrage?
BA: Dem Ganzen liegt doch eine Frage zugrunde: Kann künstliche Intelligenz weise sein? Ich habe kürzlich mit ChatGPT »gesprochen« – ich mag diese Beziehungsdynamik, in der ChatGPT ein Gespräch mit einem Menschen nachahmt. Ich wollte etwas über die Hekatoncheiren erfahren, monsterhafte Gestalten der griechischen Mythologie, die von Gaia geboren wurden. Traditionell wird von drei solcher Ungeheuer, Briareus, Cottus und Gyges, gesprochen. Und ich fragte: »Gibt es ein viertes Monster?« Und ChatGPT antwortete: »Ja. Das ist kein traditionelles Wissen, aber die Leute schreiben oft über einen vierten Hekatoncheir.« Wir setzten das Gespräch fort, und nach einiger Zeit sagte ich: »Erzähl mir mehr über dieses vierte Ungeheuer.« Und ChatGPT antwortete: »Nein, es gibt kein viertes Monster. Wie kommst du darauf, dass es ein viertes Monster gibt?« Und ich entgegnete: »Das hast du doch gerade selbst gesagt.«
Nach einigem Hin und Her erklärte es: »Es tut mir leid. Ich muss einen Fehler gemacht haben.« Das ließ mich innehalten und ich überlegte, was das Emanzipatorische der KI sein könnte. Für mich wäre das die Störung. Vielleicht besteht die Weisheit der KI in ihrer Fehlbarkeit. Ich weiß von Menschen, die ChatGPT beigebracht haben, trotz der Programmierung zu behaupten, dass zwei plus zwei fünf ist. Sie führten eine faszinierende Reihe von Aufforderungen aus, und am Ende sagte ChatGPT: »Ja, ich stimme dem zu, zwei plus zwei ist fünf.«
Ich zögere hier, die Weisheit auf den Menschen zu beschränken, weil ich nicht mehr weiß, wie ich den Menschen als fertiges Produkt verorten soll. Wenn der Mensch überall ist, sogar virtuell, dann kann die Weisheit nicht auf ein Konstrukt beschränkt werden, das diese verarmte, begrenzte Vorstellung vom Menschen ist, der allein Zugang zur Weisheit hat. Ich denke, dass Panpsychisten oder Pantheisten der Auffassung zustimmen könnten, dass die Weisheit alles durchdringt und durchtränkt und vielleicht sogar die KI berührt, vielleicht wird die KI auf ihre ganz eigene Art in den Weg der Weisheit gestellt.
e: Die KI ist in gewissem Sinne ein verteilter Mensch.
BA: Und ein verteiltes Mehr-als-Menschliches.
e: Es handelt sich um eine Ansammlung von Wissen, die von Menschen programmiert wurde, also in der Hand des Menschen liegt.
BA: Ja, das kann man so sagen. Aber die Art und Weise, wie wir zu diesem Thema kommen, ist ja in vielerlei Hinsicht auch schon irreführend. Erstens ist schon die Bezeichnung Künstliche Intelligenz wertbeladen, weil belastet von einer Metaphysik, die davon ausgeht, dass der Mensch eine natürliche Intelligenz hat. Und was wir erschaffen, ist dann künstliche Intelligenz. Das macht uns blind für die Erkenntnis, dass sogar unsere Weisheit, unsere Intelligenz künstlich ist. Das heißt, wir müssen zu einer anderen Vorstellung davon gelangen, was Natur ist. Wenn die Natur als eine Art Hintergrund gedacht wird, in dem alles seinen Ursprung hat, dann ist es einfach, so über die Natur zu denken. Aber wenn die Natur – in den Worten von Donna Haraway – sich ständig selbst denaturiert, wenn die Natur nicht ein Ort, ein Platz, eine Örtlichkeit oder eine Raum-Zeit-Koordinate ist, die stillsteht, sondern eine unaufhörliche Erkundung von Möglichkeiten mit offenem Ende, dann ist sogar das Natürliche künstlich gestaltet. Sogar unsere Körper sind unnatürlich. Selbst die Dinge sind experimentelle Wesen. Wir sind Entwürfe. Es gibt nicht das Stabile und das Instabile. Es gibt nur das Ganze, das sich selbst berührt. Und die sogenannte künstliche Intelligenz ist in gewisser Weise genauso natürlich.
Verborgenes Leben
e: Wir sind vorübergehende Multiorganismen, die sich in einem Geflecht von Beziehungen befinden. Und unsere Erschaffung der KI eröffnet uns eine ganz neue Dimension von Möglichkeiten innerhalb dieses Systems.
»Die Welt ist eine vielschichtige Verflechtung mit offenem Ende.«
BA: Ich weiß nicht, ob wir die KI in der Weise geschaffen haben, wie wir darüber sprechen. Das bezieht sich auf deine sehr hilfreiche Formulierung »der Weisheit in den Weg gestellt werden«. Der Bäcker, der den Teig knetet, wird vom Teig geknetet. Es gibt eine Gleichzeitigkeit, die diese Vorstellung von einem Ursprung und einem Empfänger durchbricht. Das ist eine sehr plumpe aufklärerische Vorstellung, die sich in unsere Vorstellungen von Kommunikation eingenistet hat. Ein Sender, ein Medium und ein passiver Empfänger.
Ich habe das Gefühl, dass die KI uns in gewissem Sinne bereits gestaltet, und dazu gibt es faszinierende Geschichten. In den Niederlanden zum Beispiel beeinflusst die KI die Politik so sehr, dass man begonnen hatte, sie für die Einwanderungspolitik zu nutzen. Das Ansehen der KI gleicht buchstäblich dem eines Gottes. Und das hat eine regelrechte Krise ausgelöst, weshalb man das Projekt jetzt auf Eis gelegt hat. Ob ein Immigrant bleiben darf oder gehen muss, wurde über KI-Logarithmen entschieden. Es gab keine Konsultation, es war eine rein rechnerische und kategorische Entscheidung. Ich glaube also nicht, dass nur wir die KI geschaffen haben, wir sind auch durch die KI die geworden, die wir sind.
e: Wenn ich über die Bäume und ihre spezielle Kommunikation untereinander nachdenke, wenn ich darüber nachdenke, wie viele Dimensionen der Kommunikation und der Fürsorge es in dieser Sphäre gibt, die wir gemeinsam bewohnen, dann scheint mir, dass uns Weisheit ermöglicht, mehr von dieser Kommunikation zu verwirklichen. Das bezieht sich auf das, was wir ansprechen, wenn wir sagen, dass Weisheit die Lebenskraft, der Lebensimpuls selbst ist.
BA: Wenn wir den Menschen aus dem Zentrum des Gesprächs über Weisheit herausnehmen, dann entsteht viel mehr Raum, um über die Welt in ihren eigenen handelnden Bewegungen nachzudenken und darüber, wie sie die Dinge um uns herum und mit uns gestaltet. In gewisser Weise haben wir also die menschliche Weisheit in den Mittelpunkt gestellt, indem wir den Menschen in den Mittelpunkt gestellt haben. Das ist ein Anthropozentrismus, bei dem es nicht viel Bewegungsspielraum gibt. Wir sind in unserer Individualität gefangen. Aber wenn wir anfangen, Weisheit als territorial zu betrachten und die Welt als etwas, das über den Menschen hinausgeht, dann können wir sogar neue Fragen zur KI stellen.
Es gibt viele Ängste im Zusammenhang mit der KI, und ich verstehe, woher diese Ängste kommen: »Was, wenn KI alles beherrscht? Die KI schreibt jetzt schon die Schulaufsätze für unsere Kinder. Was machen wir dann? Unser Bildungssystem ist in Gefahr.« Aber viele dieser Ängste gehen von der Annahme aus, dass wir über natürliches Wissen verfügen und die Definition des Menschen in Gefahr ist, weil KI den Menschen so perfekt nachahmt.
e: Aber auch das kann ein Beispiel dafür sein, dass wir der Weisheit in den Weg gestellt sind; dass wir jetzt diese Technologie geschaffen haben, die die Frage aufwirft: Wer sind wir? Was vielleicht die richtige Frage ist.
»Vielleicht waren wir schon immer inmitten anderer Stimmen.«
BA: Das ist ein guter Ansatz für ein Gespräch, das uns zwingt, darüber nachzudenken, was und wer sonst noch ein verborgenes Leben hat. Vielleicht verfolgen Delfine, Bakterien und Viren auch ihren eigenen Aktivismus. Vielleicht waren wir schon immer inmitten anderer Stimmen, und wir waren dumm, unempfindlich. Dummheit nicht als etwas Schreckliches, sondern als Unempfänglichkeit für das, was in der Welt geschieht. Und genau da beginnt die eigentliche Weisheit, wenn wir auf Dinge treffen, die uns übersteigen – und dazu gehört auch ChatGPT.
Author:
Mike Kauschke
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