Die Kraft der Güte bündeln

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July 18, 2022

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Ausgabe 35 / 2022
|
July 2022
Das Heilige
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Vor fünfzig Jahren, am 8. Juni 1972, erlitt Phan Thi Kim Phuc schwere Verbrennungen durch eine von den USA hergestellte Napalmbombe, die für den Feind, die Nordvietnamesen, bestimmt war. Als die 9-jährige Kim vom Ort des Geschehens weglief, machte der 21-jährige Journalist und Fotograf Nick Út ein Foto von ihr, das im folgenden Jahr mit dem amerikanischen Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde.

Nick fuhr Kim und die anderen Kinder mit schweren Verbrennungen in ein 30 Minuten entferntes Krankenhaus. Dieses Krankenhaus lehnte eine Notfallbehandlung mit der Begründung ab, dass es voll sei. Nick forderte mit Nachdruck einen Platz für die Kinder, indem er genau diese Worte sagte: »Wenn eines von ihnen stirbt, werdet ihr Ärger bekommen.« Diese Drohung gab den Ausschlag, und das Krankenhaus willigte ein, Kim und die anderen Kinder zu behandeln. Kim wurde daraufhin über einen Zeitraum von 14 Monaten in verschiedenen Krankenhäusern behandelt. Heute ist sie 59 Jahre alt und steht in regelmäßigem Kontakt mit Nick.

Die Napalmbomben waren die Anwendung von Gewalt, um Schaden anzurichten. Nick wandte auch im Krankenhaus Gewalt an, indem er das Krankenhauspersonal bedrohte. Seine Gewaltanwendung war ausschlaggebend dafür, dass Kim und die anderen Kinder die medizinische Notfallhilfe erhielten, die sie zum Überleben dringend benötigten. Nick musste das Personal zwar bedrohen, um es dazu zu bringen, seine Behandlungskapazitäten auszuschöpfen, aber diese Drohung – dass sie »Ärger« bekommen würden, wenn eines der Kinder stirbt – ist ein Beispiel für die Kraft des Guten. Das Gute ist in seinem Wesen eine Kraft wie die Gravitation, und diese Kraft kann so eingesetzt werden, dass sie noch mehr Gutes hervorbringt.

Die Grenze zwischen Andeutungen und Nachahmungen des Guten kann fließend sein. Nachahmungen des Guten können verwirren, schmälern aber nicht die Autorität des echten Guten. Nicks Handlungen, mit denen er das Krankenhauspersonal bedrohte, waren an sich weder höflich noch freundlich, brachten aber dennoch die Kraft des wirklich Guten zum Ausdruck. Entfremdet vom Guten ahmen wir es nach oder misstrauen ihm ganz und gar und stellen uns ihm entgegen. Zuweilen fühlen wir uns von der Güte verfolgt und versuchen, sie zu zerstören. Das Gute muss ausreichend in unserer eigenen Verkörperung konzentriert sein, damit wir seine unzerstörbare Kraft, eine Manifestation des unzerstörbaren Lebens, ausüben können. Paradoxerweise nutzen wir die Kraft des Guten zum Teil dadurch, dass wir uns mit dem Bösen konfrontieren und den Hass umwandeln.

¬ VERSTÄNDIGUNG UND ZWANG SCHLIESSEN SICH GEGENSEITIG AUS.¬

Menschliche Entwicklung können wir in der Dynamik von Struktur und Prozess verstehen. Auf rätselhafte Weise bringt die gelebte Erfahrung die inneren Strukturen und Prozesse hervor, die Entwicklung ausmachen. Diese Strukturen und Prozesse sind Verstärker des Guten, auch wenn kontextuelle Zwänge oft zu negativen, unbeabsichtigten Ergebnissen führen können.

Entwicklung beinhaltet das Entstehen von Komplexität und die Entfaltung von Einzigartigkeit. Sowohl Komplexität als auch Einzigartigkeit sind untrennbar mit dem Guten verbunden. Entwicklung beinhaltet die Personalisierung und Institutionalisierung der grundlegenden Güte. Die Personalisierung bezieht sich auf die Entfaltung der Einzigartigkeit und die Institutionalisierung darauf, wie sich das Gute in sozialen Strukturen manifestieren kann.

Das Gute wächst und drückt sich als individuelle und kollektive Entwicklungskraft aus. Sowohl die individuelle als auch die kollektive Entwicklung potenziert verschiedene Formen der schöpferischen Kraft im Dienste des Lebens. Diese Formen der Macht können zwar missbraucht werden, aber sie haben ihren Ursprung in der Verbindung von Entwicklung und Güte. Indem es die Gebrochenheit unter einem Schleier der Panzerung oder der falschen Güte verbirgt, kompensiert das Böse die inhärente Schwäche der Entfremdung von der Kraft des Guten in Form von Krankheiten wie zum Beispiel Süchten. Echte Entwicklungskraft erfordert eine Verfeinerung des Guten.

Entwicklungsbedingte Macht ist wie alle Formen von Macht erkennbar oder unsichtbar, je nachdem, wer sie wahrnimmt und in welchem Kontext. Menschen mit gleicher Entwicklungsebene gehen in der Regel miteinander in Resonanz. Entwicklungsasymmetrie kann eine immense Herausforderung und eine Quelle tiefer Schwierigkeiten auf zwischenmenschlicher und kultureller Ebene sein. Die mit der Entwicklungsasymmetrie verbundenen Spannungen können in dem Maße eingedämmt werden, wie die Entwicklungsautorität personalisiert und institutionalisiert ist.

Die Praxis des Dialogs ist ein wirksames Mittel, um mit Unterschieden aller Art, einschließlich Entwicklungsasymmetrien, umzugehen. Der Dialog ist von Natur aus nicht zwingend. Verständigung und Zwang schließen sich gegenseitig aus. Der Dialog entfaltet die Kraft des Guten, indem er Parteien, die frei sind, im Dienste der Verständigung zusammenbringt.

Wir leben in Welten, die von der Sprache umschlossen sind. Im Dialog benutzen wir nicht nur die Sprache als Werkzeug, sondern handeln auch mit der Sprache. Durch den Dialog entstehen mögliche Welten. Dies geschieht durch einen geheimnisvollen Prozess der Gnade. Im Dialog werden wir von der Gnade getragen und in eine Sprache gekleidet, die Welten teilt und schafft.

Author:
Aftab Omer
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