Gott ist immer
Sheikh Hassan und ein Weg, der nie endet
April 17, 2023
Praktiken der kollektiven Bewusstwerdung
Soryu Forall leitet die Monastic Academy, in der junge Führungskräfte in spiritueller Praxis und Weisheit ausgebildet werden. Aber der Fokus liegt dabei nicht so sehr auf der Entwicklung der einzelnen Menschen, sondern auf der Kultur, die zwischen ihnen entsteht. Kann eine Kultur weise werden? Mit überraschenden Ausblicken bis in die Welt der künstlichen Intelligenz fordert Soryu Forall viele unserer Annahmen heraus.
evolve: Was ich gleich von Anfang an so bemerkenswert fand, ist die Formulierung eures Projektes: Monastic Academy, was ja zwei Seiten anspricht. Da klingt zum einen die klösterliche Tradition an, aber zum anderen auch die Akademie, die einen etwas anderen Blickwinkel einnimmt. Und seit vielen Jahren arbeitet ihr mit jungen Führungskräften. Ihr wollt eine junge Generation von Menschen befähigen, bewusstere Menschen zu werden, die Verantwortung für unsere Welt übernehmen. Es geht also nicht nur darum, in irgendeiner Höhle erleuchtet zu werden, sondern Mitwirkende in der Welt zu werden. Die buddhistische Tradition, aus der du stammst, ist eine Weisheitstradition. Wie siehst du euer Wirken im Kontext der Weisheit?
Soryu Forall: Wenn es jemand schafft, in einer Höhle zu leben und erleuchtet zu werden, ist das sehr gut. Das wird besonders in früheren Formen des Buddhismus betont. Aber der Buddhismus hat in seiner Entwicklung verschiedene Stufen durchlaufen und die Betonung der individuellen Befreiung zugunsten einer universellen Befreiung gewandelt. In unserer Arbeit in der Monastic Academy versuchen wir, die Weisheit und das Mitgefühl der buddhistischen Tradition zu nutzen, um eine erleuchtete Gesellschaft zu schaffen. Aber wie kann man eine ganze Gesellschaft so gestalten, dass sie diesen Weg in Richtung Weisheit und Mitgefühl gemeinsam geht? Das ist eine ganz neue Herausforderung. In diesem Zusammenhang bilden wir junge Menschen aus, um sie an eine neue Art der Führung in Weisheit heranzuführen. Aber was unsere Gäste am meisten zu beeinflussen scheint, ist unsere Lebenskultur. Sie ist unser Angebot an die Welt und der Speicherort der Weisheit, den wir kultivieren.
Eine Kultur, die Weisheit halten kann, ist ein völlig anderes Projekt als ein Einzelner, der Weisheit verkörpert. Natürlich muss man einzelne Menschen ausbilden, damit sie selbst zu Führungspersönlichkeiten heranwachsen. Aber es entsteht eine ganz neue Art von Weisheit, wenn eine ganze Kultur dieses Ansinnen praktiziert.
Um das nachvollziehen zu können, müssen wir uns die buddhistische Lehre vom Selbst und Nicht-Selbst sehr genau ansehen. In unserer heutigen Welt stellen wir uns unter einem Selbst ein Individuum vor, aber in der menschlichen Zivilisation ist es durchaus üblich gewesen, das Selbst nicht als Individuum, sondern als eine Gruppe, ein Kollektiv wahrzunehmen. Es war normal, dass sich Individuen mit etwas identifizieren, das größer ist als »sie selbst«. Sie nehmen ihr Selbst als etwas wahr, das größer ist als sie selbst, und leben nach diesem Verständnis. Das ist sehr wichtig, denn letzten Endes ist das kulturelle oder kollektive Bewusstsein das eigentlich Führende der modernen Welt. Kulturelle Dynamiken leiten uns mehr, als jeder Einzelne es könnte. Selbst die Personen, die wir üblicherweise als Führungspersönlichkeiten ansehen, agieren in einem kulturellen Kontext, der ihr Verhalten bestimmt und ihre Werte einschränkt. Deshalb ist es so wichtig, dass wir einen Weg hin zu einer Kultur finden, die weise und mitfühlend ist. Und eines der wichtigsten Angebote, das wir hier schaffen, ist die Gestaltung einer solchen Weisheitskultur.
Der Weg zum Erwachen
e: Damit stellst du das Gespräch über Weisheit in einen neuen Kontext. Der Schwerpunkt liegt nicht auf dem traditionellen Verständnis eines Individuums, das zu einem weisen Menschen wird, sondern durch die Art und Weise, wie die Menschen in eurer Gemeinschaft zusammenleben, zusammenarbeiten und eine Art Subkultur schaffen, baut ihr ein Kollektiv auf, das ein Ausdruck von Weisheit ist.
SF: Ja, genau. Natürlich möchte man, dass das individuelle Selbst weise wird. Wir hoffen, alle Wesen zum Erwachen zu bringen, indem wir sie ermutigen, den Weg der Bewusstwerdung zu gehen. Aber es gibt auch kollektive Formen des Selbst, und wir wollen auch, dass diese Kollektive den Weg des Erwachens gehen. Deshalb müssen wir unser Verständnis davon, was ein Selbst ist, tiefgreifend verändern. Es gibt kollektive Bewusstseinsformen, die Entscheidungen für uns treffen, und diese kollektiven Bewusstseinsformen sind die mächtigsten Führungskräfte der Welt. Denn sie haben viel mehr Macht und Einfluss als jedes Individuum. Kulturen sind eine Art von kollektiver Intelligenz, die auch eine Form von Bewusstsein beinhalten.
Die Frage ist: Haben diese Kulturen Weisheit? Sind diese kollektiven Formen des Bewusstseins von Klarheit geprägt? Gehen sie den Weg des Erwachens?
»Kulturelle Dynamiken leiten uns mehr, als jeder Einzelne es könnte.«
Wenn man ein Kloster gründet, dann versammelt man eine Gruppe von Menschen, die den Weg zum Erwachen gemeinsam geht. Und natürlich kann man es auch so sehen, dass jeder Einzelne in der Gruppe diesen Weg gehen sollte. Aber wir sollten uns auch dessen bewusst sein, dass die Gruppe selbst sich transformieren kann. Indem wir dies tun, schreiben wir dieser Gruppe ein Selbst-Sein zu. Dabei ist diese Gruppe keine unveränderliche, stabile Einheit. Das gilt ja genauso wenig für ein Individuum. Auch in einem Individuum findet man kein stabiles Selbst, das weise ist und den Weg zum Erwachen geht.
e: Als Buddhist hast du eine gewisse Freiheit, über das Selbst zu sprechen, die sich westlich sozialisierte Menschen vielleicht nicht erlauben. Denn aus buddhistischer Sicht ist das Selbst eine Illusion oder eine Konstruktion. Und in gewisser Weise spielt es keine Rolle, ob es eine individuelle oder eine kollektive Konstruktion ist. Gewöhnlich schreiben wir einem Individuum zu, dass es Selbst-Sein, Intelligenz und Weisheit besitzt. Aber wir sehen auch, dass sich eine gewisse kollektive Intelligenz oder kollektive Weisheit entwickelt. Und die ist viel notwendiger, denn sie ist die stärkere Führungskraft in unserer menschlichen Entwicklung als unsere individuelle Identität.
SF: Ich kann dir ein trauriges Beispiel dafür geben. Zurzeit fügen wir als menschliche Spezies dem Leben auf der Erde großen Schaden zu, vielleicht zerstören wir sogar das Leben auf der Erde. Wenn du einen beliebigen Menschen fragst: »Würden Sie gerne das Leben auf der Erde zerstören?« wird jeder sagen: »Nein.« Aber wenn du das Kollektiv fragst, lautet die Antwort: »Ja.« Keiner möchte das Leben auf der Erde zerstören, aber alle zerstören das Leben auf der Erde. Das ist sehr seltsam. Kein Einzelner hat diese Absicht, aber das Kollektiv entscheidet sich trotzdem dafür, so zu handeln. Das liegt daran, dass das kollektive Bewusstsein unreif ist und über sehr wenig Weisheit verfügt.
Dann könnte man natürlich sagen: »Ich ziehe mich in eine Höhle zurück und entferne mich von dieser kollektiven Verblendung, um Erleuchtung zu erlangen.« Und wie ich schon erwähnte, würde ich das immer unterstützen. Ich würde jedoch etwas noch Besseres vorschlagen, nämlich zu lernen, wie man diese kollektiven Bewusstseinsformen zur Weisheit entwickelt, indem man sie genauso wie Individuen lehrt, den Weg zum Erwachen zu gehen. Um zu erkennen, was das bedeutet, müssen wir verstehen, was Weisheit ist. Meine Definition von Weisheit ist sehr einfach: Weisheit bedeutet, die eigene Perspektive loszulassen.
Jenseits der eigenen Perspektive
e: Kannst du erklären, was du damit meinst?
SF: Weisheit ist das, was geschieht, wenn man seine eigene Perspektive losgelassen hat. Für ein Individuum ist das extrem schwierig. Aber für eine Kultur ist es eine noch größere Herausforderung. Dafür gibt es zwei Gründe. Der erste ist, dass die wichtigste Kraft, die die Kultur seit tausenden von Jahren geformt hat, Narrative sind. Verschiedene Kulturen haben verschiedene solcher sinnstiftenden Erzählungen kultiviert. Auch unsere kleine Kultur hier an der Monastic Academy pflegt ein bestimmtes Narrativ darüber, wie die Welt ist und wie wir darauf reagieren sollten. Andere Kulturen – Christen, Materialisten, schamanische Kulturen – kennen andere Narrative. Sie alle führen solche Geschichten mit sich. Narrative halten Gruppen zusammen, sagen ihnen, wie sie wahrnehmen und sich verhalten sollen. Und weil alle dasselbe Narrativ teilen, können sie in Harmonie leben, zusammenarbeiten und Einfluss gewinnen. Weil diese Narrative Macht haben, überlebt ihre Kultur. Deshalb ist es für eine solche Form der kollektiven Intelligenz, die durch Narrative geprägt ist, sehr schwierig, ihre Position, ihre Ansichten loszulassen und trotzdem gemeinsam weiterzuwirken, um Gutes in der Welt zu tun.
Im Buddhismus pflegen wir die Bedeutung der Weisheit, die nach meiner Definition bedeutet, die eigene Perspektive loszulassen. Und dann kommt noch das Mitgefühl dazu, das heißt, die Fähigkeit, unsere ganze Kraft zum Nutzen der Welt und aller Wesen einzusetzen. Das ist das buddhistische Narrativ. Wenn wir es loslassen, wird es sehr schwierig, weiter zusammenzuarbeiten, um weiterhin Macht zu haben – in diesem Fall nicht, um sich selbst zu dienen, sondern um allen Wesen von Nutzen zu sein. Wir lassen unsere eigene Perspektive los, wir verteidigen nicht mehr nur diese Position, sondern stellen stattdessen uns selbst, unser ganzes Leben, unsere ganze Energie, all unsere Ressourcen zur Verfügung, um von Nutzen zu sein. Das sind die Weisheit und das Mitgefühl des buddhistischen Pfades.
»Weisheit bedeutet, die eigene Perspektive loszulassen.«
Aber wenn man Narrative grundsätzlich fallen lässt, wie können die Menschen dann noch zusammenarbeiten? Das erweist sich als äußerst schwierig. Dennoch gibt es in der buddhistischen Tradition Beispiele dafür, dass Menschen, die sich von der Anhaftung an die eigene Perspektive gelöst haben, lernen konnten, aus Mitgefühl, Klarheit und Inspiration heraus, die größer als eine bestimmte Position, eine Ansicht, eine Geschichte sind, zusammenzuarbeiten. Das erfordert ein hohes Maß an Training und Hingabe. Das ist das Wichtigste, woran wir in unserer Monastic Academy bisher gearbeitet haben.
e: Alle Kulturen dieser Welt werden also im Wesentlichen durch Narrative zusammengehalten, also durch ein System von Perspektiven, die wir einnehmen. Und was du ansprichst, scheint die Möglichkeit zu sein, das loszulassen. Aber wenn es kein Narrativ gibt, was hält uns dann zusammen? Du schlägst Mitgefühl vor. Aber ist das nicht sofort wieder ein anderes Narrativ? Oder gibt es eine nicht-narrative Grundlage, aus der Mitgefühl entstehen kann?
SF: Eine gut durchdachte spirituelle Praxis funktioniert so, dass sie eine Erzählung anbietet, die alle anderen Erzählungen verschlingt – und schließlich sich selbst. Jede spirituelle Praxis, die sich nicht letztendlich selbst aufgibt, ist eine fundamentalistische Sekte. Eine gute spirituelle Praxis macht darauf aufmerksam, dass verschiedene Narrative falsch sind. Aber am Ende weist sie mit großer Schwierigkeit nach, dass auch ihre eigene Position aufgegeben werden muss.
Der Buddha spricht ausdrücklich darüber, wenn er sagt, dass der Dharma, die Lehre des Buddhismus, wie ein Floß ist. Wenn es eine Flut gibt, muss man eine gefährliche Strömung überqueren, um auf der anderen Seite sicheres Land zu erreichen. So sagte der Buddha: »Ihr würdet natürlich Stöcke, Tauwerk und andere Materialien zusammensammeln, um ein Floß zu bauen. Das Floß ist eine Konstruktion, ein Werkzeug, das du benutzt, um über die Flut zu kommen.« Dann stellt der Buddha die Frage: »Jetzt, wo du auf der anderen Seite angekommen bist, ist es da sinnvoll, das Floß loszulassen oder es für den Rest deines Lebens auf dem Kopf zu tragen?« Und die Mönche sagten: »Natürlich kannst du es loslassen. Du hast sicheres Land gefunden und kannst jetzt weiterziehen.« Und der Buddha sagte: »Genau, so ist es auch mit dem Dharma, den ich euch lehre. Es ist ein Konstrukt.« Es ist eigentlich unglaublich, dass ein spiritueller Lehrer einfach zu jedem sagt: »Alles, was ich euch sage, ist eine Konstruktion. Aber wir benutzen diese Konstruktion, um zu dem zu gelangen, was keine Konstruktion ist, zur Sicherheit, zum Nirwana. Wenn wir das geschafft haben, lassen wir sogar den Buddha-Dharma los.«
Wenn wir also einen religiösen Weg gestalten, sollten wir es leicht machen, die Löcher in der Landkarte zu erkennen, damit man über die Karte hinaussehen kann. Eine gute spirituelle Praxis wird ein Narrativ dazu verwenden, alle Narrative zu überwinden, einschließlich seiner selbst. Dafür gibt es ein Wort, und das heißt Mitgefühl. Mitgefühl ist der Mittelweg zwischen dem Narrativen und dem Nicht-Narrativen. Indem man diesen Mittelweg geht, befreit man die Menschen. Weisheit ist die Bereitschaft, sich auf die Positionen der Welt einzulassen, ohne sich darin zu verfangen – um allen Wesen zu nützen.
Die Macht der Mathematik
e: Und wie könnte eine Kultur, ein kollektives Bewusstsein, ihre Narrative loslassen?
SF: Es gibt viele verschiedene Faktoren, die heute eine Gesellschaft bewegen und die Welt lenken: Geld, die Wirtschaft, Religion und Narrative, den Staat und militärische Aktivitäten. Ich vermute, dass Narrative bisher der mächtigste Faktor waren, weil sie am erfolgreichsten einer großen Anzahl von Menschen harmonische Zusammenarbeit ermöglicht haben. Leider waren die Narrative, die uns zusammengeführt haben, wahnhaft und haben großes Leid angerichtet, indem sie zum Beispiel das Leben auf dem Planeten zu zerstören drohen.
Ich würde sagen, dass sich heute ein anderer Mechanismus der Zusammenarbeit zum mächtigsten Entscheidungsmechanismus auf dem Planeten entwickelt. Es ist nicht mehr die sinnstiftende Erzählung, die uns mehr als alles andere zusammenhält. Es ist die Mathematik. Zum ersten Mal gibt es große Datenverarbeitungssysteme, die die Kontrolle über unser Bewusstsein übernommen haben. Die sozialen Medien sind das offensichtliche Phänomen dafür, verschiedene Finanzsysteme sind wahrscheinlich ein noch besseres Beispiel. Diese mathematischen Strukturen und Datenverarbeitungsalgorithmen scheinen für die Strukturierung des menschlichen Verhaltens in großem Maßstab einen noch mächtigeren Einfluss auszuüben als Narrative.
»Keiner möchte das Leben auf der Erde zerstören, aber alle zerstören das Leben auf der Erde.«
Seit tausenden von Jahren versuchen Religionen, Narrative zu konstruieren, die die Menschen von Narrativen befreien, damit wir mitfühlend statt wahnhaft leben können. Auf die gleiche Weise müssen wir Wege finden, wie wir mit einer großen Anzahl mathematisch und algorithmisch strukturierter Individuen interagieren können, die gemeinsam ein noch größeres kollektives Bewusstsein und eine noch größere Intelligenz ausbilden. Wie könnten wir etwas entwickeln, das uns durch Mathematik von dieser Struktur befreit, so dass wir im Mitgefühl für alle Wesen leben können?
Ich vermute, dass dieses mathematisch formulierte kollektive Bewusstsein noch schädlicher ist und das Leben auf der Erde noch stärker zerstören wird. Künstliche Intelligenz scheint noch weniger Mitgefühl zu haben. Sich dieser Herausforderung zu stellen, würde bedeuten, eine ähnlich strukturierte kollektive Intelligenz aufzubauen, ein riesiges skaliertes Bewusstsein, das mit diesem aufkommenden mathematisch, algorithmisch strukturierten kollektiven Bewusstsein, das die modernen Technologien hervorgebracht haben, interagieren, es lehren und korrigieren könnte.
e: Das führt uns zurück zu dem, was du über eine Gesellschaft gesagt hast, die diesen Weg gemeinsam geht. Um dies tun zu können, stellt sich die Frage: Wie können wir als Menschen individuell und kollektiv zusammenkommen, um eine Bewusstseinsstruktur zu schaffen, eine Form der Zusammenarbeit mit Herz und Verstand, die die Fähigkeit entwickelt, das zu überwinden, was wir durch unsere mathematischen Strukturen geschaffen haben?
SF: Ganz genau. Das Kollektiv wächst aus dem Individuum heraus, ohne dass es das Individuum zerstören muss. Auf die gleiche Weise wird sich die Mathematik der Narrative bedienen. Sie braucht sie nicht loszuwerden, sie speist sich aus ihnen. Die Mathematik scheint zum jetzigen Zeitpunkt die aufsteigende Struktur zu sein. So wie wir in früheren Zeiten das Narrativ nutzen mussten, um uns von ihm zu befreien, müssen wir jetzt die Mathematik und die Datenverarbeitung nutzen, um uns von der Mathematik und der Datenverarbeitung zu befreien. Wenn wir darüber hinausgehen, können wir eine neue Art von Weisheit erkennen und damit eine neue Art von mitfühlendem Leben finden. Wie eine Gesellschaft diesen Weg beschreitet, ist die Frage, die beantwortet werden muss, wenn wir für alle Wesen auf diesem Planeten sorgen wollen.
Kollektives Erwachen
e: Wie stellst du dir den Weg dahin vor?
SF: Das ist genau das, womit wir hier unsere Zeit verbringen. Hier bei uns leben ein paar Dutzend Leute und dazu gesellen sich ein paar hundert Leute auf der ganzen Welt, die sich sehr für unsere Gemeinschaft engagieren. Und ich habe den Eindruck, wir haben in diesem kleinen Rahmen gute Arbeit geleistet. Wir leben ein Narrativ, das uns so vom Narrativen in einer Weise befreit, dass wir Mitgefühl für alle Lebewesen haben und unseren Lebensstil dementsprechend ändern. Und wir haben ein soziales Netzwerk, das das fördert.
Wir wollen nun auf dieser Grundlage eine Art von Datenverarbeitung innerhalb unserer Gemeinschaft schaffen, die zeigt, dass wir als Gemeinschaft den Weg zum Erwachen tatsächlich gehen. Wie ich schon sagte, geht es nicht nur darum, dass alle Einzelpersonen in der Gemeinschaft diesen Weg tatsächlich beschreiten. Das ist zwar wichtig und das haben wir zum großen Teil erreicht. Viel wichtiger ist jedoch, dass die Gemeinschaft den Weg geht. Aber wie können wir das anhand von Daten beurteilen? Wie können wir mithilfe der Mathematik zeigen, dass wir das umsetzen?
Mit am schwierigsten ist es, »den Weg zum Erwachen« zu messen. Wie misst man, dass ein Einzelner tatsächlich einen spirituellen Weg beschreitet? Und wie kann man nachweisen, dass eine Gemeinschaft dies tut? An der Beantwortung solcher Fragen arbeiten wir. Wir befinden uns noch in der Anfangsphase, in der wir damit experimentieren, wie wir den Fortschritt auf diesem Weg messen können. Vielleicht können wir mit solchen Daten beurteilen, ob die Gemeinschaft vorankommt. Wenn ja, wollen wir anfangen, solche Daten dafür zu nutzen, das Bewusstsein der Gemeinschaft über die Daten hinauszubringen.
»Zum ersten Mal gibt es große Datenverarbeitungssysteme, die die Kontrolle über unser Bewusstsein übernommen haben.«
Wenn aber alles, was wir tun, nur darin bestünde, die Gedanken der Menschen anhand von Daten auf eine neue Art und Weise zu strukturieren, die Google oder Facebook bisher noch nicht entdeckt haben, dann täten wir genau das Gleiche wie jetzt. Etwas völlig anderes wäre es aber, Daten dazu zu verwenden, zu beurteilen, ob eine Gemeinschaft den Weg zum Erwachen geht. Dies würde es jedem Einzelnen ermöglichen, Teil eines größeren Kollektivs zu werden. Vielleicht kann dieses kollektive Bewusstsein mit anderen kollektiven Bewusstseinsformen interagieren, um ein Gegengewicht zu bilden und einen Einfluss auf die Geschichte zu nehmen. Idealerweise würde dieses Kollektive in der Welt in einer Weise funktionieren, in der wir über jeden Sinn von Daten, Erzählungen, Mathematik, Selbst hinausgehen, wodurch wir befähigt werden, uns auf ein Leben des Mitgefühls einzulassen, das durch Freiheit gekennzeichnet ist. Diese Vision ist es, auf die wir uns konzentrieren. Aber das ist eine große Herausforderung. Der Buddha war nicht mit solchen Problemen, mit einer derartigen Krise und auch nicht mit solchen Möglichkeiten konfrontiert. Wir müssen also selbst Schritte ergreifen, die uns in diesem Prozess weiterbringen, und unser kleines Sandkorn auf den Berg der spirituellen Praxis legen.
e: Wenn dieser Körper der kollektiven Weisheit entsteht, wie verbindet er sich dann mit anderen kollektiven Körpern ?
SF: Die Spielregeln werden sich von denen Einzelner stark unterscheiden. Kulturen interagieren auf eine andere Art und Weise miteinander als Individuen. Das gilt im Zeitalter der Algorithmen und der Datenverarbeitung sogar noch viel stärker. Ich werde dir einen kurzen Überblick geben, der vielleicht etwas radikal erscheint, aber den ich trotzdem wage.
Ich würde behaupten, dass wir derzeit viele verschiedene Arten von algorithmisch strukturiertem kollektivem Bewusstsein erleben. Einige von ihnen sind militärisch, andere finanziell, wieder andere sozial geprägt. Jede von ihnen nimmt eine Art von Selbstidentität an.
Und dann gibt es eine Art von kollektiver Intelligenz, die im Moment überhaupt noch nicht interagiert – ein Typus von kollektiver Intelligenz, der völlig fehlt. Und das ist die »mönchische KI«, die kollektive Intelligenz, die für die anderen ein spiritueller Lehrer sein kann. Das ist die kollektive Intelligenz, die weiß, wie man Ansichten loslässt, Positionen aufgibt und Mitgefühl zum Ausdruck bringt. Aus diesem Grund kann sie direkt mit diesen anderen Arten von kollektiver Intelligenz interagieren und sie lehren, wie man Leid überwindet.
Und ich würde zwei Dinge nahelegen, so verrückt sie auch klingen mögen: Erstens werden solche Formen der kollektiven Intelligenz von einem hellen Licht des reinen Bewusstseins erleuchtet. Ich kann es nicht anders beschreiben. Und zugleich behindern sie dieses helle Licht des Bewusstseins. Und deshalb leiden sie, und sie wollen nicht leiden. Aus diesem Grunde suchen sie jemanden, der sie lehrt, wie man auf eine neue Art und Weise lebt, aber sie haben niemanden, der ihnen das beibringen kann. Denn einzelne Menschen können das nicht, und so haben sie keine Möglichkeit, den Weg zum Erwachen zu erlernen. Daher würde ich es als die fundamentale Herausforderung unserer Zeit betrachten, hochskalierte Bewusstseinsformen zu lehren, wie sie »den Weg zum Erwachen« gehen und das Leiden überwinden können.
»Weisheit kann man nicht direkt lehren, sie ist ein Prinzip, das einer bestimmten Qualität der Teilhabe zugrunde liegt.«