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Neot Semadar liegt im Süden der Negevwüste in Israel. Es wurde 1989 in der Absicht gegründet, den Fokus auf das Potenzial von Zusammenarbeit und Kreativität im Alltag zu legen. Die verschiedenen Arbeitsbereiche, wie ökologische Landwirtschaft, Wüstenarchitektur, Wasserrecycling, Weinbau und Kunsthandwerk im Haus der Künste fördern zudem eine stetige Auseinandersetzung des Verhältnisses Mensch-Umwelt. Wir sprachen mit Anat Ganor, einer der Gründerinnen der Gemeinschaft, über ein Leben zwischen Kontemplation, Kunst und Kooperation.
evolve: Was würdest du als den Kern der Gemeinschaft Neot Semadar bezeichnen?
Anat Ganor: Neot Semadar ist ein Ort der kontemplativen Begegnung. Es wurde geschaffen, damit wir uns als Menschen neu verstehen können, vor dem Hintergrund der Beziehung zu anderen Menschen, zur Natur, zur Arbeit, zu den eigenen Idealen. Wir verstehen uns selbst als Schüler einer, wie wir es nennen, »Schule der Conditio humana, der Natur des Menschen«. Wir ziehen unsere Kinder gemeinsam groß, wir haben eine gemeinsame Kasse, wir essen miteinander und wir schultern die Arbeit gemeinsam – aber all das dient der Suche nach einem Verständnis dessen, worum es im Leben geht, wie Menschen zusammenarbeiten und ihre Energie zusammenbringen können.
Es gibt eine Menge Arbeit hier, die sehr eng mit dem Boden verbunden ist. Die Menschen stehen früh auf und arbeiten den ganzen Tag. Wir nehmen uns aber auch Zeit für Kunst, Musik und Tanz. Unsere spirituelle Suche ist sehr geerdet, sehr verwurzelt im praktischen Leben. Es geht um die Frage, wie sich der Geist im Alltag manifestiert. Das hat aber nichts zu tun mit Religion oder mit einem Buch oder einem Menschen, dem wir folgen würden. Wir sind ein Labor unserer selbst.
e: Bevor ihr euch an diesem Ort in der Wüste niedergelassen habt, sind viele Mitglieder der ersten Generation etwa zehn Jahre lang in einer Gruppe in Jerusalem zusammengekommen. Wie wurdet ihr zu einer Gemeinschaft?
AG: In den späten Siebzigern stellte sich Youssef, der Gründer von Neot Semadar, immer drängender die Fragen: Worum geht es im Leben? Wozu sind wir hier? Sind wir Sklaven des Materialismus? Er war fest entschlossen, sich diesen Fragen ganz real zu stellen, und er spürte, dass die Welt ganz dringend einen Entwicklungsschub braucht. Viele junge Menschen versammelten sich um ihn. Nach zehn Jahren in Jerusalem wollten wir diese Fragen mehr praxisorientiert angehen und ein gemeinsames Leben wagen, und wie durch ein Wunder fanden wir diesen leerstehenden Ort in der Wüste. Wir kamen über Nacht hierher, achtzig Erwachsene und vierzig Kinder. Die ersten Jahre arbeiteten wir sehr hart und wurden eine Art erweiterter Familie. Youssef war eine wichtige Gestalt, aber er sagte: »Ich bin kein Führer und keinerlei Autorität. Was wir zu lernen haben, müssen wir gemeinsam lernen.« Vor seinem Tod 2003 fragten ihn die Leute: »Wer soll dein Nachfolger sein?« Und er sagte: »Es wird keinen Anführer geben, ihr werdet euren Weg gemeinsam finden.«
e: Wie haltet ihr die Intensität der existenziellen Fragen aufrecht, die im Zentrum der Gemeinschaft stehen?
AG: Du wirst herausgefordert, dich den alltäglichen Aufgaben zu stellen. Wir kommen zusammen und arbeiten sehr intensiv, aber wichtig ist der Prozess, nicht das Ergebnis. Jeden Tag musst du vor Sonnenaufgang aufstehen. Du musst Sachen lernen, in denen du kein Profi bist. Ich lerne durch die Art und Weise, wie ich mit Menschen in Beziehung trete oder von jemandem lerne, eine bestimmte Aufgabe zu erledigen, wie ich in Beziehung trete mit der Materie, mit praktischer Arbeit, mit Holz, mit Zement, mit Ungewohntem, mit groben Arbeiten, wie ich dabei meine Grenzen austeste und meine Standpunkte. Lerne, mit dem Herzen zu hören. Das Anderssein des anderen anerkennen. Geduld lernen. Ins Unbekannte gehen. Alles, was wir tun, ist ein Ergebnis der Absicht, mit der wir darangehen. Ein Beispiel: Wir haben über vierzehn Jahre an einem Haus der Künste gebaut, aber das war kein Ziel für sich, es war eine Möglichkeit, um miteinander zu lernen.
Zudem kommen wir regelmäßig zusammen, um über metaphysische, mystische und psychologische Fragen zu sprechen. Du und ich, wir können uns in Fragen zum Wesen des Menschen begegnen, weil wir alle Menschen sind. Wir haben eine Vereinbarung, gemeinsam das Wesen des Menschen zu studieren – anhand des alltäglichen Lebens.
Es gibt eine Menge Energie, wenn du beiseitelegst, was du gut beherrschst, und dich in einer Situation vorfindest, wo du nicht weißt, was der nächste Schritt sein wird. Oder wo du das Gefühl hast, eine Arbeit zu tun, die dich unterfordert. Wo du also nicht der Anführer bist, deine höheren Talente nicht einsetzt, sondern dich in einem anderen Bereich wiederfindest, jedenfalls für gewisse Zeit.
e: Das scheint eine ganz schön schwierige Umstellung zu sein für die normale westliche Mentalität.
AG: Der westliche Verstand ist, generell gesagt, sehr extrovertiert. Er urteilt nach Leistung: ein guter Schüler sein, Professor werden, gut im Geschäft sein, ein schönes Haus haben. Deine Leistung gibt dir eine bestimmte Stellung in der Gesellschaft. Hier ist das anders. Niemand weiß, was gut für mich ist und was nicht. Hier merke ich, dass ich mich immer weniger nach meiner äußeren Leistung beurteile, ich interessiere mich mehr dafür, mich mir selbst und einem erweiterten Verständnis dieser Welt anzunähern.
Wir sind ein Labor unserer selbst.
e: Ihr sprecht auch über Zusammengehörigkeit und Einzigartigkeit: Wie verhält sich beides deiner Meinung nach zueinander?
AG: Gemeinsam haben Menschen eine große Kraft, aber diese Kraft ist blind. Sie können von Führungspersonen manipuliert werden, etwas zu tun, was sie als Individuen nicht tun würden. Etwas vollkommen anderes ist es, eine Zusammengehörigkeit zu entwickeln, bei der die Einzelnen der Kontemplation folgen, sich selbst Fragen stellen und zusammenarbeiten wollen. Vielleicht ist es eine akkumulierte Energie, die etwas zur Entwicklung der Menschheit beitragen kann. Eine Zusammengehörigkeit, die auf Individuen beruht.
e: Wie haltet ihr diese Inspirationen in einer Gemeinschaft ohne Leiter aufrecht?
AG: Das ist unsere große Herausforderung, um die Inspiration am Leben zu erhalten. Yossef war zwar eine starke Persönlichkeit, wollte aber eine Lebensschule gründen, die nicht von einer Person geleitet wird, sondern von Menschen, die den wahren Sinn der Kooperation erlernen. Wenn solch ein Zustand existiert, dann ist das Ganze größer als die individuellen Fragmente. Und ich denke, so bleibt in unserer Gemeinschaft die Inspiration lebendig.
Author:
Lisa Baumann
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