Ist die Klimakrise auch eine Initiation?
Die Klimakrise stellt das Leben, das wir kennen, zutiefst infrage. Und sie hat keine Lösung. Vielleicht können wir von indigenen Kulturen etwas darüber lernen, wie es ist, in menschlicher Verletzlichkeit den unbändigen Kräften der Natur zu begegnen.
Jeden Morgen, wenn ich in der Küche meinen Tee koche, zeigt sich mir ein wunderbares Schauspiel. Eine Schar von Meisen tummelt sich dann an dem Vogelhäuschen in unserem Garten. Sie landen, schnappen sich ihre Körner und suchen sich ein Plätzchen im Rhododendron, um ihr Mahl zu verspeisen. Eine subtile Choreographie scheint sie dabei miteinander zu verbinden. Mir sind diese Momente kostbar und sie lassen mich immer wieder durchlässig werden für die Schönheit der Natur und die tiefere Lebendigkeit des Lebens. Und doch weiß ich auch, dass in dieser anrührenden Szenerie bereits vieles aus der Balance geraten ist. Wir müssen die Vögel füttern, weil die von den Vorbesitzern zu Erholungszwecken angelegte Wiese ihnen keine Nahrung mehr gibt. Unsere Lebensart hat ihnen den Lebensraum genommen. Und so ist auf unsichtbare Weise in unserem Garten auch ein Sterben anwesend. Doch es zeigt sich nur unmerklich und genau das macht es mir so schwer, mir auch nur ansatzweise vorzustellen, wie sich durch die Klimakrise mein Leben, unser aller Leben, radikal verändern könnte.
Die Klimakrise bricht ein in unser Selbstverständnis und unsere Sicherheiten.
Im Angesicht der Ohnmacht
In von Smog durchdrungenen Großstädten in China oder Indien zeigt sich deutlich, wie sehr unsere natürliche Umgebung bereits aus den Fugen geraten ist. An vielen anderen Orten der Welt wie hier in Europa geht das Leben noch seinen gewohnten Gang. Die Hitze und Trockenheit der beiden vergangenen Sommer mögen heftig gewesen sein. Doch wir leben weiter wie bisher, in der Hoffnung, dass das kommende Jahr wieder besser werden wird. All die wissenschaftlichen Daten und Schreckensszenarien haben etwas Virtuelles, solange wir ihnen nicht mit Leib und Seele ausgesetzt sind. Da fällt es schwer, eine Wahrnehmung dafür zu entwickeln, dass hier nicht nur etwas auf dem Spiel steht, sondern alles. Wir als Menschheit. Das ist eine Dimension, die wir nicht denken können. Die Weltgeschichte kennt viele Untergänge. Das Alte Ägypten, die Reiche der Maya oder der Römer, die Osterinsel – seit wir Menschen auf diesem Planeten anwesend sind, sind immer wieder Lebensräume zusammengebrochen. Doch das Leben als solches ging an vielen anderen Orten der Welt einfach weiter. Heute ist das anders. Wenn wir im Fernsehen oder Internet miterleben, wie in Grönland Gletscher schmelzen, im Pazifik erste Inseln vom Meer bedrängt werden, in Afrika die Wüsten sich ausbreiten und Wetterkatastrophen bis in die Zentren der industriellen Zivilisation hinein wüten, werden wir zu Zeugen eines Kollapses, der den gesamten Globus erfasst. Wir stehen, gleich an welchem Ort wir leben, in seinem Zentrum. Und wir sind nicht einmal ansatzweise darauf vorbereitet, dass das Leben, wie wir es kennen, sich wahrscheinlich absehbar radikal verändern wird.
Die Wissenschaft hat viele Erkenntnisse darüber, wie große Katastrophen ganze Regionen sozial, wirtschaftlich und kulturell in die Knie zwingen. Man denke nur an Haiti, wo die Lebensbedingungen auch zehn Jahre nach dem großen Erdbeben noch immer desaströs sind, weil das ganze Land außer Kontrolle geraten ist. Doch wenn es um globale Katastrophen geht, gibt es schlicht keine Erfahrungswerte, denn wir stehen als Menschheit noch an der Schwelle der ersten Krise überhaupt mit weltumspannender Reichweite. Es ist ein in der Menschheitsgeschichte völlig neuer Moment. Noch sind wir gewohnt, die ökologischen Krisen an fernen Orten der Welt als Zuschauende eher von außen zu betrachten. Die Klimakrise allerdings beginnt bereits, ihre Arme nach uns allen auszustrecken, förmlich nach uns zu greifen. Wir rutschen mehr und mehr in sie hinein und können uns immer weniger von ihr distanzieren. Wir sollten darüber nachdenken, was dies für unser Menschsein bedeutet. Damit meine ich nicht, uns geistig und seelisch auf unseren Untergang vorzubereiten. Als Kulturanthropologin kommt es mir so vor, als stünde uns eine Art von Initiation bevor, wie sie es in der Menschheitsgeschichte noch nicht gab. Mit Einweihung verbinden wir vielleicht vor allem religiöse Rituale, erhebende Zeremonien oder auch das tiefe Eintauchen in die Geheimnisse des Lebens durch intensive Meditation. Ich denke eher an die Initiationspraktiken indigener Kulturen, die Stammesmitglieder Herausforderungen aussetzen, die unter die Haut gehen. Nicht aus Grausamkeit, sondern weil sich in ihnen die Ungezähmtheit der Natur, der sie tagtäglich ausgesetzt sind, widerspiegelt. Ziel ihrer Rituale ist es nicht, Fähigkeiten zu entwickeln, um das eigene Leben vor all den damit verbunden Gefahren schützen zu können. Sie sind eher eine Vorbereitung darauf, mit all diesen Bedrohungen leben zu können.
Existenzielle Brüche
Uns sind solche existenziellen Konstellationen heute weitgehend fremd. Initiationsriten wirken auf uns archaisch, wahrscheinlich sogar verstörend. Und das auch, weil sie sich auf eine Schutzlosigkeit beziehen und sie sogar herbeiführen, die uns Angst macht. Die Klimakrise stellt das, was wir sind und tun, auf radikale Weise infrage. Sie bricht ein in unser Selbstverständnis und unsere Sicherheiten. Initiation ist in gewisser Weise eine Praxis, Brüche in einer Kultur zu halten und zu gestalten. Ihre Rituale helfen Mitgliedern eines Stammes dabei, ihren Status zu wechseln. Das kann der Übergang des Mädchens in die Rolle der jungen Frau sein, bei dem es von den Älteren in ihre künftigen Pflichten eingewiesen wird und die spielerische Zeit der Kindheit hinter sich lassen muss. Oder die, deutlich extremere, Einweihung junger Männer in den Kreis der Krieger. Es sind keine graduellen Wachstumsprozesse, die hier durchlaufen werden. Alte Selbstbilder werden systematisch »abgeschnitten«, beschreibt es der Ethnologe Arnold van Gennep. Vielleicht auch, um eine bedingungslose Offenheit zu schaffen für das, was kommt.
Wir stehen vor einem Übergang, bei dem wir nicht wissen, was uns auf der anderen Seite erwartet.
Diese Ablösung lässt die Betroffenen zu »Grenzgängern« werden und führt sie in einen Raum, in dem die alte Identität nicht mehr zählt, die neue aber noch nicht entfaltet ist. Es ist eine Phase tiefster Verwirrung, oft auch der Verzweiflung. Gelingt der Übergang, wartet in der Gemeinschaft ein neues Leben auf die, die den Prozess durchlaufen haben. Doch können sie dessen nie sicher sein, denn Initiation ist immer eine Berührung mit den existenziellen Kräften des Lebens und damit auch mit dem Sterben. Wenn junge Männer durch die körperlich und psychisch oft schmerzhaften Einweihungen gehen, mögen sie hoffen, als erneuerte Menschen aus diesem bodenlosen Zwischenreich wieder aufzutauchen, doch besteht immer auch die Gefahr, zu sterben. Wir können von diesen Praktiken nicht wie aus einem Schulbuch lernen. Sie sind keine Betriebsanleitung. Doch in der Beschäftigung mit ihnen wird für unser Bewusstsein vielleicht ein wenig zugänglicher, was es bedeutet, an einer wirklichen Schwelle zu stehen und sie, wenn es unvermeidbar ist, zu überschreiten.
Tiefer ins Nichts sinken
Initiation bedeutet einen vollständigen Bruch mit allem, was zuvor war. Sie markiert den Schritt aus dem überschaubaren, häuslichen, von Eltern und Verwandten beschützten Raum hinaus in die unermessliche und unberechenbare Welt. Und diese Trennung wird von vielen Stämmen mit konsequenter Härte vollzogen. Längere Phasen der Abgeschiedenheit von den so vertrauten Menschen entziehen der gewohnten Identität die Bestätigung. In einsamen Nächten findet das Ich keine Resonanz, sondern sinkt immer tiefer ins Nichts. Letztlich vollzieht sich hier eine Entpersönlichung, die den Menschen in eine völlige Leere stellt und ihn dort gezielt festhält, ohne Aussicht auf ein Entrinnen. Es ist eine Ablösung, die Angst macht, denn sie konfrontiert Jugendliche aus heiterem Himmel mit der grundsätzlichen Ungewissheit des Lebens. Die Zerstörung der früheren Persönlichkeit ist wie eine Häutung, die den individuellen, auf sich selbst bezogenen Willen aufbricht. Man kann das als seelische Grausamkeit interpretieren. Und kritisieren, dass hier die folgende Generation, die nun des Schutzes von außen und auch ihres Selbstschutzes beraubt ist, ohne Rücksicht auf Verluste in einen Abgrund gestoßen wird, um sie bereit zu machen für die Lebensform, die der Stamm von ihr erwartet. Doch geht es in diesen Ritualen nicht um persönliche Macht oder allein die Unterordnung in einer Hierarchie. Das soziale Gefüge der Stammesgesellschaft ist als eine Ganzheit angelegt, die nur trägt, wenn alle Mitglieder zusammenwirken. Die gemeinsame Fähigkeit, als größeres Ganzes zu wirken, braucht die Stärke des Einzelnen inmitten dieser Einheit und sie ist zugleich sein Schutz.
Die Rauheit indigener Rituale entspringt den rauen Lebensbedingungen in einer noch unbeherrschbaren Natur. In einer Lebenswelt, in der Naturgewalten oder wilde Tiere ganz alltägliche Bedrohungen darstellen, kann der Stamm nur überleben, wenn jeder mit diesen existenziellen Kräften vertraut ist. Diese Vertrautheit lässt sich in geschützten Umgebungen nicht erlangen, denn sie setzt voraus, dass man selbst sich dem Leben auf existenzielle Weise aussetzt. Im Ritual mögen die Stammesältesten, die es durchführen, für kurze Zeit eine Position der Macht einnehmen. Doch stehen sie, wie alle anderen auch, in derselben ohnmächtigen Beziehung zu den Kräften der Natur. Uns konfrontiert das mit einem Paradox. Wir haben die Natur immer mehr nach unserem Willen geformt und sehnen uns heute nach ihrer Ursprünglichkeit. Doch Unberührtheit bedeutet auch Wildheit. Und genau sie verweist die Menschen tribaler Kulturen auf ihren Platz. In unserer psychologisierten Lebenswelt erscheint es uns grausam, junge Menschen solchen Schockerlebnissen auszusetzen. Unser Bewertungsmaßstab entstammt einer Kultur, die glaubt, existenzielle Schocks vermeiden zu können, auch weil wir lange Zeit dachten, die Natur inzwischen bezwungen zu haben. Das war eine Illusion und heute kommt uns all das Unzähmbare mit Heftigkeit entgegen.
Im Herzen der Erschütterung
Eine Identität lässt sich nicht einfach wechseln. Selbst wenn der Bruch mit dem Gewesenen bereits vollzogen ist, liegt es in der menschlichen Natur, dieser Haltlosigkeit entrinnen zu wollen. In Initiationen kommt deshalb der Zwischenphase, in der die alte Identität erloschen ist, aber die neue sich noch nicht geformt hat, besondere Bedeutung zu. Trauer um das Verlorene und der Wunsch nach Rettung aus der Ungewissheit sind dann besonders stark. Die Riten des Übergangs schenken diesem Dazwischen besondere Aufmerksamkeit, denn es ist auch das Ertragenkönnen von Leid und Qual, aus dem Stärke für den kommenden Lebensabschnitt erwächst. In dieser Phase der Einweihung spielt der Schmerz eine nicht unwesentliche Rolle. Aus unserer heutigen Sicht wirkt es verstörend, wie Menschen in tribalen Kulturen anderen Menschen ganz bewusst körperlichen Schmerz zufügten. Doch diese rituell vollzogenen Akte waren keine gemeine Brutalität. Wer im Leben als Jäger oder Krieger bestehen wollte, musste den Schmerz kennen, um im Ernstfall nicht in ihm zu erstarren. Und erst dort, wo der Schmerz unerträglich wird, brechen gewohnte Identitäten wirklich auf. Das sind die Momente, in denen Vorstellungen vom Leben weichen und das Leben selbst unverstellt hervortritt. Es sind keine Momente einer romantisierten Spiritualität, denn hier beginnt die menschliche Existenz, sich ihrer Erschütterbarkeit bewusst zu werden.
Es ist auch das Ertragenkönnen von Leid und Qual, aus dem Stärke erwächst.
Die Buschfeuer in Australien, die dort seit Monaten wüten, vermitteln uns eine Ahnung, was Erschütterung meint. Nicht als Gefühl, von dem man temporär überwältigt wird und hofft, dass es wieder vergeht. Sondern als grundlegender Begleitumstand unseres menschlichen Lebens auf diesem Planeten. Bis Anfang Januar hatte die Feuersbrunst eine Fläche so groß wie Bayern und Baden-Württemberg verwüstet. 25 Menschen und etwa eine Milliarde Tiere verloren ihr Leben. Und während Menschen noch das beweinen, was sie verloren haben, machen sich Plünderer über das her, was das Feuer übrig ließ. Es sind Dimensionen, die man sich nicht vorstellen kann. Auch wir stehen vor einem Übergang, bei dem wir nicht wissen, was uns auf der anderen Seite erwartet. Ja, wir wissen nicht einmal, ob es eine andere Seite geben wird. Das unterscheidet unsere Situation von jener indigener Kulturen, die über viele Generationen immer wieder Wege fanden, die menschliche Verletzlichkeit und die unbändigen Kräfte der Natur in einer Beziehung zu halten. Und deren Einweihungen mit der Rückkehr in eine intakte Lebenswelt ihren Abschluss fanden. Wir können der Klimakrise nicht begegnen als die, die wir waren und sind. Denn vieles von dem, was wir denken, fühlen und tun, hat sie herbeigeführt. Aber wir können auch nicht wissen, wer wir werden müssen. In den rund 4,6 Milliarden Jahren, in denen die Erde nun schon existiert, gab es immer wieder radikalste Transformationen des Lebendigen. Dem Leben wohnt eine unbeschreibliche Lebenskraft inne, sonst wären wir heute nicht hier. Vielleicht ist das, was wir tun können, uns dieser Lebenskraft zu stellen. Ohne zu wissen, wohin uns das führt.