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Wie uns das Web 3.0 von alten Identitäten befreien kann
Die Marktlogik steuert nicht nur die Wirtschaft. Sie prägt auf tiefgreifende Weise unsere Identitäten. Die Entwicklung neuer Technologien im »Web 3.0« verspricht einen Paradigmenwechsel sowohl in der Wirtschaft als auch in unserem Menschsein. Wie kann unsere Fähigkeit, uns eine neue Welt vorzustellen, dazu beitragen, dass sich dieser Wandel zum Guten und nicht zum Schlechten wendet?
Vor Kurzem hörte ich mir die Willy Brandt Lecture 2018 des Technologen und Futuristen Jaron Lanier an. Er erwähnte dort, dass ihm während eines Vortrags an einer US-Highschool Fragen gestellt wurden, die er so noch nie zuvor gehört hatte und die ihn schockierten. Nämlich Fragen wie: »Warum haben unsere Eltern uns in die Welt gesetzt, wenn wir doch überflüssig sein werden? Was ist der Sinn?« Lanier betrachtet die weit verbreitete, schädliche Annahme, dass Menschen bald durch Maschinen ersetzt werden, als einen Mythos, der von der Macht der Künstlichen Intelligenz als einer neuen und besseren Lebensform ausgeht. Er sieht eine Verbindung zwischen dieser Stimmungslage und dem zunehmenden Aufkommen von Fundamentalismen weltweit. »Dieses Empfinden, nicht mehr gebraucht zu werden«, sagte er, »ist ein schreckliches Gefühl, das aber auf einer Unwahrheit beruht.«
Unsere Befreiung von solchen nicht hinterfragten Vorstellungen über eine ausschließlich auf Technik basierende und von Unternehmenswachstum abhängige Wirtschaft ist angesichts der Metakrisen, denen wir gegenüberstehen, dringend erforderlich. Denn die Wucht dieser Krisen kann den menschlichen Geist leicht zu Staub zermahlen. Für diese Highschool-Absolventen bedeutet der Schritt in die Zukunft, dass sie lernen müssen, die Vergangenheit und so vieles, was sie als normal oder sogar verlockend zu akzeptieren gewohnt sind, zu durchschauen. Dabei geht es vor allem darum, die eigene Vorstellungskraft zu aktivieren. In einer Welt komplexer Systeme, die unbemerkt unsere Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit einschränken, wird die Vorstellungskraft zu einer notwendigen Form der Handlungsfähigkeit. Können wir uns denn überhaupt eine andere Welt vorstellen? Ich meine nicht die kalten, metallischen Science-Fiction-Phantasien von Vergangenheit und Zukunft, die Hollywood auf den Markt wirft. Diese Angriffe auf unsere Sinne versuchen uns einzubläuen, wir hätten Dystopien als unser Schicksal zu akzeptieren. Ich meine eine Welt, in der man wieder gerne leben möchte und in der das Leben wieder als heilig erlebt wird.
In der heutigen Wirtschaft formt sich die menschliche Identität in unserer Beziehung zum Markt.
Die neue Welt der Token-Ökonomie – auch als Krypto-Ökonomie oder einfach nur als Web 3.0 bezeichnet – lädt uns ein, uns eine Wirtschaft vorzustellen, die nicht einfach auf Geld basiert, sondern in die die Werte, die uns die wichtigsten im Leben sind und uns am Herzen liegen, einprogrammiert werden können. Darin steckt ein enormes Potenzial. Das gilt übrigens auch für den Quantensprung an Vorstellungskraft und Handlungsfähigkeit, den dieser Schritt von jedem von uns verlangt – ein, Sprung hinaus aus dem Deutungsrahmen, in den die bestehende Wirtschaftsstruktur uns gezwängt hat.
Web 1.0, 2.0 und 3.0
Wir sind also wieder einmal an einer Schwelle angelangt, welche sowohl die Macht als auch das Potenzial dieses virtuellen Universums mit seinem ständig wachsenden Einfluss auf unsere gemeinsame Realität, das World Wide Web, betrifft. (Erinnern Sie sich? So nannten wir einst dieses verbindende Informationsnetz, das für viele von uns realer geworden ist als die eigene Nachbarschaft.) Die Technologieforscherin und Unternehmerin Shermin Voshmgir sagt: »Wenn man die Geschichte des Internets betrachtet, hat das Web 1.0 in den 90er-Jahren die Information revolutioniert, weshalb wir es auch als Datenautobahn bezeichnet haben. Das Web 2.0 revolutionierte die Interaktionen: Es stellte Internetplattformen zur Verfügung, die bidirektional funktionieren, aber zentral organisiert sind. Das Web 3.0 revolutioniert den Austausch von Werten. Und der Kern des Web 3.0 sind Blockchain-Netzwerke, und die Killerapplikation [darunter versteht man konkrete Anwendungssoftware, die einer schon existierenden Technik zum Durchbruch verhilft] ist der Token.« Das Web 3.0 ist mehr als ein Netz für Informationen oder Interaktionen – es kann Werte gezielt für jeden Tausch programmieren.
Hier, so die Technologen, ist der Ort, an dem sich der wahre Paradigmenwechsel vollziehen kann. Token – das sind Wertmittel – können wie Geld gegen Waren und Dienstleistungen eingetauscht werden. Aber anders als beim Geld kann in die Token selbst ein Wert einprogrammiert werden. So sind sie beispielsweise mehr wert, wenn die damit zusammenhängenden CO2-Emissionen sinken. Oder diese Wertmittel können so konfiguriert werden, dass sie mit der Zeit an Wert verlieren. So verhindert man, dass sie gehortet werden. Man könnte auch verschiedene Arten von Token für verschiedene Dinge auflegen – bestimmte Token für Investitionen, andere für regionale Waren und Dienstleistungen, wieder andere für den Treibstoff- oder Stromkonsum. Ich habe von einem weiteren Beispiel gelesen, nämlich einer auf Innovation basierenden Token-Währung: Je höher die Innovationsrate, die messbar sein muss, desto höher ist der Wert der Token. Es gäbe sowohl nationale Innovations-Token als auch eine globale Innovationswährung. Dies würde Investitionen und innovationsunterstützende Maßnahmen in der ganzen Welt fördern.
Die Rolle der Frau auf dem Markt war die der Konsumentin, nicht die der Schöpferin.
Das Potenzial eines werteorientierten, dezentralisierten Prozesses für den wirtschaftlichen Austausch ist atemberaubend. Aber dann erinnere ich mich daran, wie in den 1990er-Jahren die Begeisterung über den Zugang zu Informationen mit Web 1.0 eine Euphorie über die demokratisierende Kraft des Internets auslöste – so vieles würde möglich sein; alles Wissen läge in unseren Händen. Diese Blase des Techno-Optimismus platzte dann allerdings sehr schnell. Im Anschluss daran faszinierte Web 2.0 mit der Möglichkeit der unmittelbaren menschlichen Kommunikation ohne Gatekeeper bzw. Informationsregulatoren. Aber das Aufkommen gigantischer und immer weiter wachsender Unternehmen wie Google, Facebook oder Amazon hat zu Polarisierungen geführt und den Mitarbeitern ihre Mitbestimmung genommen. Unsere intimsten Daten werden von Supercomputern ausgewertet, die uns mit immer mehr süchtig machenden Inhalten füttern, die direkt auf unsere tiefsten Instinkte abzielen. Und auch das Web 3.0 hat sich schon von seiner dunklen Seite gezeigt, indem es der Mafia und den Drogenkartellen als Mittel zur Geldwäsche dient. Und Bitcoin, die erste große Blockchain-Token-Währung, repliziert letztendlich das Konzept der Anhäufung von Reichtum: Bitcoins wurden von einer sehr kleinen Anzahl von Akteuren gehortet. Und die anderen Giganten warten schon darauf, mitspielen zu können. Google und Facebook werben für Kryptowährungen. Das Gleiche gilt für Amazon und Walmart. Und natürlich erforschen Banken wie JPMorgan und die US-Notenbank das Potenzial dieser neuen Art, Reichtümer zu gewinnen (oder darin um Vorteile zu spielen).
Markt-Identitäten
Ist das nicht der Knackpunkt? Wir verfügen über eine Technologie, die tatsächlich mit der bestehenden Marktlogik brechen könnte – und doch ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass auch sie – von einigen kleinen Ausnahmen abgesehen – am Ende die Marktmythen, die zu grotesker Ungleichheit geführt haben, wiederholen wird. Allein schon aus diesem Grund sollten wir unser Vorstellungsvermögen stärken.
Die im Nihilismus gefangenen Jugendlichen, denen Jaron Lanier begegnet ist, können nicht mehr davon ausgehen, dass sie die High School abschließen, auf die Universität gehen, einen Job finden oder Karriere machen, heiraten, Kinder bekommen und ein Haus kaufen werden, dass sie also einen konventionellen Lebensweg einschlagen. Hier geht es um die passive Akzeptanz einer Gegenwart, die sich nicht mehr an den konventionellen Lebensformen der Vergangenheit orientieren kann. Vielleicht wird ihr Leben ja trotzdem einen konventionellen Verlauf nehmen, aber sie müssen sich bewusst für dieses Narrativ entscheiden, anstatt die kulturellen Geschichten über das Erwachsensein einfach zu akzeptieren. Im Moment erstickt die passive Gewohnheit des materiellen Konsums die Fähigkeit, sich eine neue Art des Erwachsenseins vorzustellen. Die Vorstellungskraft aber bietet neue Wahlmöglichkeiten.
In der heutigen Wirtschaft formt sich die menschliche Identität in unserer Beziehung zum Markt. Ich spreche dabei nicht einmal nur von der sozialen Schicht oder der Menge an Geld, die einem zum Ausgeben oder Investieren zur Verfügung steht. Die Menschen in ihrer ganzen Fülle haben in kleinen und entscheidenden Belangen die grobe Gleichsetzung von Geld und menschlichem Wert weitestgehend akzeptiert. Und so ist der Mythos, dass Kapitaleigner, die sogenannten »Arbeitgeber«, irgendwie wertvoller und wichtiger sind als die sogenannten »Arbeitnehmer«, tief in uns eingedrungen. Sie mögen zwar über mehr Reichtum verfügen, aber doch nicht über mehr Wert. Dieser entmenschlichende Mythos hat sich so weit ausgebreitet, dass sich viele Lohnempfänger mit den wenigen, die Milliarden besitzen, sogar noch identifizieren und sie bewundern, was zu der logisch nicht nachzuvollziehenden Weigerung führt, Superreiche zu besteuern. Vielleicht kann man sich ja auf diese Weise als zum Siegerteam gehörend fühlen – auch wenn man selbst nur mit Mühe und Not über die Runden kommt. Um es mit Jaron Lanier zu sagen: Die Gleichsetzung des menschlichen Wertes mit Geld und materiellen Werten ist ein schreckliches, entmenschlichendes Vorgehen, das auf einer Unwahrheit beruht.
Eingebettet in die Wirtschaft ist auch ein Geschlechtersystem, das mit der Entstehung des Kapitalismus in der frühen Neuzeit zusammenhängt. Der kapitalistische Markt war den Männern und den Frauen der unteren Klassen mit niederen Arbeiten vorbehalten. Die bürgerliche Frau blieb mit ihren Kindern zu Hause, weit weg von der rauen und käuflichen Welt des Handels (oder der Politik). Das Heim wurde zum Ort der Kaufkraft, zur Stätte des Konsums von Waren und Dienstleistungen, die auf dem Markt angeboten wurden. Die Rolle der Frau auf dem Markt war die der Konsumentin, nicht die der Schöpferin. Eine Frau erfuhr ihren Wert durch den Kauf von Dingen. Als nach dem Zweiten Weltkrieg Konsumgüter auf den Markt kamen – von Körperpflegeprodukten wie Shampoo oder Nagellack über zeitsparende Haushaltsgeräte bis hin zu Konfektionskleidung – entwickelten sich ganze Industrien, die um die Gunst der Dame des Hauses buhlten. Die Verbindung zwischen der Identität von Frauen und dem Kauf von Waren ist tief eingeprägt: Fühlst du dich schlecht, solltest du eine kleine »Shopping-Therapie« einlegen. Und was heißt das? Einkaufen gehen. Und um es gleich zu sagen: Männer kommen hier auch nicht ungeschoren davon. Große Anschaffungen, die als Statussymbole fungieren – ein BMW oder der neueste Mac – sind Mittel, mit denen Männer ihren Wert und ihre Männlichkeit unterstreichen. (Ja, und manche Frauen auch.)
Die Welt jenseits des Marktes
Die Erkenntnis, dass unser Menschsein und unsere Identität von Marktmythen vereinnahmt wurden, ist ein wichtiger erster Schritt. Aber sie beantwortet noch nicht die Frage, wie wir uns am Web 3.0 so beteiligen können, dass sich dessen Potenzial zu einem grundlegenden Paradigmenwechsel entfalten kann. Das erfordert unsere Aufmerksamkeit. Gerade passiert so viel mit neuen regionalen und globalen Token-Ökonomien. Wenn wir Projekten Beachtung schenken, die sich zum Ziel gesetzt haben, die Blockchain für Gutes zu nutzen – zum Beispiel, um den Klimawandel, die Einkommensungleichheit, den Zugang zur Gesundheitsversorgung und zu Bildungschancen anzugehen – eröffnet sich eine ganz neue Potenzialsphäre. Wie wollen wir zusammenleben? Was sollten unsere Grundwerte sein? Jede und jeder von uns kann sich an diesen Dialogen beteiligen und dabei die traditionelle Kluft zwischen Technologiesektor, sozialem Aktivismus und menschlicher Fürsorge überbrücken.
Die Gleichsetzung des menschlichen Wertes mit Geld und materiellen Werten ist ein schreckliches, entmenschlichendes Empfinden, das auf einer Unwahrheit beruht.
Das Web 3.0 ruft uns dazu auf, die Bremsen unserer Vorstellungskraft zu lösen. So starten beispielsweise mehrere Web 3.0-Experimente mit Blockchain-Technologie, die den Teilnehmenden weltweit ein universelles Grundeinkommen ermöglichen würden. Eines dieser Projekte, das in Berlin angesiedelt ist, heißt Circles UBI. Das Protokoll für die Währung lädt die Nutzer ein, eine Gemeinschaft des Vertrauens zu schaffen, in der Vertrauenswürdigkeit zu einem zentralen Wert wird. Um mitmachen zu können, braucht man die Empfehlung von drei Personen, die bereits Mitglieder der Circles-Community sind und denen dort Vertrauen geschenkt wird. Sobald ich vertrauenswürdig bin, erhalte ich jeden Monat 240 CRC (die Währung), womit ich alles innerhalb der Gemeinschaft bezahlen kann. Ich könnte zum Beispiel eine naturheilkundliche Behandlung bei jemandem aus der Gemeinschaft bezahlen oder ich könnte den Mitgliedern der Gemeinschaft Abonnements für die evolve anbieten. Jede Person, die Mitglied werden möchte, braucht das Vertrauen anderer, um aufgenommen zu werden – und gemeinschaftsschädigendes Verhalten kann dazu führen, dass das Vertrauen und damit der Zugang entzogen wird. Die Vertragsstrukturierung des CRC fördert den lokalen Austausch zwischen vertrauenswürdigen Mitgliedern und ist mit der Hoffnung verknüpft, schließlich eine global vernetzte, durch Vertrauen verbundene Gemeinschaft zu schaffen. Diese Gemeinschaft kann sich verbinden, ausbreiten und gedeihen – unabhängig von großen Marktakteuren wie Amazon oder Google. Kein Einzelner kontrolliert die Gemeinschaft; die Blockchain-Welt ist dezentral organisiert und überprüft sich selbst.
Während meiner Recherchen über die neuen Möglichkeiten der Token-Ökonomie erlebte ich etwas, das schwer zu beschreiben ist – es fühlte sich an wie eine Häutung oder eine Mauser. Etwas begann von mir abzufallen, und ich erlebte eine energetische Frische: Handlungsfähigkeit. Vielleicht ist der wichtigste Aspekt des Web 3.0 die Rückeroberung unserer Selbstwirksamkeit und unserer Souveränität von den Systemen, die uns bisher in ihre begrenzenden und unmenschlichen Wertvorstellungen gezwängt haben. Unsere Handlungsfähigkeit ist eng mit der Fähigkeit verbunden, uns soziale Räume vorzustellen und zu definieren, in denen wir Integrität erfahren können. Ich muss nicht mehr versuchen, meine eigenen Werte zu schaffen, die dem Wertesystem zuwiderlaufen, das bis jetzt das einzige Wertesystem war, das wir hatten. Welch eine große Erleichterung. Welches Potenzial kann daraus verwirklicht werden?
Author:
Dr. Elizabeth Debold
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