Land unter

Our Emotional Participation in the World
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November 5, 2018

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Ausgabe 20 / 2018:
|
November 2018
Die Bewusstseinsmaschine
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Wenn Ungewöhnliches passiert, rüttelt das Leben uns wach und führt uns unsere Denk- und Sehgewohnheiten vor Augen. Vor vielen Jahren war ich mit einer Waldorfklasse auf der Hallig Hooge. Anhand des Landvermessungspraktikums sollte die Mathematik eine Anwendung erfahren. Außerdem war es ein pädagogisches Anliegen, die Verortung des Menschen in der Landschaft erlebbar zu machen. Der Aufenthalt hat sich als eine unvergessliche, einmalige Erfahrung in mein Gedächtnis eingegraben. Das Vermessen und Kartieren der Hallig war nicht der prägende Lernmoment. Wir erlebten Land unter. Nur die Warften schauten noch aus dem Wasser empor. Das Land, das wir vermessen hatten, verschwand im Meer. Als der Wind schließlich die Wolken vertrieb und das Wasser allmählich abfloss, zogen wir die Gummistiefel an und erkundeten die langsam wieder sichtbar werdende Landschaft. Der Himmel spiegelte sich in den Pfützen am Boden.

Unser Aufenthalt bot weitere Lektionen, die uns vor einer unreflektierten, gewohnheitsgeprägten Sicht- und Vorgehensweise warnten: Bei einer Wattwanderung liefen wir mit nackten Füßen dort, wo zu einer anderen Uhrzeit das Meer war. Wahrscheinlich ist es ein Klassiker, dass Wattführer über die Gefahren des Wattwanderns sprechen. Wer nicht rechtzeitig das rettende Ufer erreicht, den schluckt das Meer. Um zu demonstrieren, wie man durch plötzlich aufkommenden Seenebel sämtliche Orientierung verlieren kann, läuft jemand einige hundert Meter voraus und alle sollen nun mit geschlossenen Augen auf diese Person zugehen. Wenn wie beim Nebel die Sicht eingeschränkt ist, laufen die allermeisten Menschen gar nicht geradeaus auf das Ziel zu, obwohl sie es anders einschätzen. Manche ziehen sogar Kreise. Grund dafür ist die Tatsache, dass wir nicht nur rechts- oder linkshändig, sondern auch rechts- oder linksfüßig sind. Der dominante Fuß vereitelt den geraden Weg, wenn wir das Ziel aus dem Auge verlieren. 

Die Dominanz hört nicht bei Hand und Fuß auf. Auch bei den Augen gibt es diese Aufteilung. Beim Optiker eröffneten sich mir weitere Perspektiven. Im Normalfall stellen die Augen sich darauf ein, ob sie etwas in der Ferne oder in der Nähe anschauen. Wenn das nicht mehr so richtig gelingt, wird mit einer Brille nachgeholfen. Mit zwölf Jahren bekam ich die erste verpasst. Jahrelang trug ich sie den ganzen Tag, aber seit mehr als zehn Jahren setze ich sie nur noch bei Bedarf auf. Der Optiker fand heraus, dass ich die Sehaufgaben inzwischen aufgeteilt habe. Wenn ich mit jemandem spreche oder ihm oder ihr zuhöre, sieht mein linkes Auge diese Person durchaus scharf, ohne eine Brille zu brauchen. Das linke Auge und somit die rechte Gehirnhälfte sind in diesem Fall schwerpunktmäßig zuständig. Daraus entsteht eine Verbindung zu der inneren Welt der Gefühle, der Zeitlosigkeit, Kreativität, Synthese usw. Beim Lesen brauche ich auch keine Brille. Mein rechtes Auge ist im Einsatz. Das hilft beim schnellen Erfassen der Einzelheiten sowie dem kritischen Beleuchten der Inhalte. 

Wenn Ungewöhnliches passiert, rüttelt das Leben uns wach.

Der Optiker wählte die Gläser so aus, dass ich nun bei der Fernsicht mit beiden Augen den klaren Durchblick haben würde. Als ich die neue Fernbrille abholte und mit ihr auf der Nase durch die Stadt lief, fühlte ich mich um einiges größer. Meine Füße schienen weiter weg als gewohnt, nicht nur optisch, sondern auch vom Körpergefühl her. Der Optiker hätte mir das Phänomen sicherlich physiologisch erklären können. Vielleicht spielte auch der Ausgleich der Hornhautverkrümmung noch mit. Wer weiß. 

Mir war vorher nicht bewusst, dass ich nicht immer beide Sichtweisen einbezogen habe, sondern dass ich sie entsprechend der Situation einsetzte. Bei den meisten Menschen ist es sogar so, dass das rechte Auge immer dominant ist, so wie auch die rechte Hand die zupackende ist und der rechte Fuß den ersten Schritt tut. Im Alltag nehmen wir vieles als gegeben an. Gewohnheiten ersetzen oft bewusste Entscheidungen. Wir erkennen häufig nicht, dass wir es mit einer neuen Situation, die eine andere Vorgehensweise bräuchte, zu tun haben. In der heutigen Zeit wächst sogar die Tendenz zur Vereinfachung und Polarisierung. 

Die Erfahrungen im Watt zeigen, dass es sich lohnt bzw. sogar existenziell wichtig sein kann, die eigenen Strategien zu hinterfragen und sich um Ausgleich zu bemühen. Die gesellschaftlich dominante Vorgehensweise ist der Analyse und der Ratio verpflichtet. Sie lässt wenig Platz für Intuition, Kontext, Empathie und Besinnung. So wird nicht das ganze Potenzial unseres Menschseins ausgeschöpft. Wir bemerken nicht, dass uns durch diese Einseitigkeit die klare und ausgeglichene Ausrichtung abhandenkommt. 

Lange schien in unserer Welt alles in geordneten Bahnen zu laufen. Für Probleme gab es Lösungen, die nur der Umsetzung harrten. Inzwischen wächst die Komplexität und mit ihr werden die Herausforderungen größer und weniger leicht zu lösen sein. Wasser überflutet das Land, wörtlich und im übertragenen Sinne. Wo vorher fruchtbares Land war, fehlt das Wasser und führt zur Dürre. Erst allmählich wird eine integrale Weltsicht salonfähig. Sie kann uns dabei helfen, uns in Zeiten des Wandels nicht von einseitigen und gewohnten Sicht- und Vorgehensweisen auf Abwege führen zu lassen.

Author:
Griet Hellinckx
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