(Unsere) Natur ist nicht, was wir glauben

Our Emotional Participation in the World
English Translation
0:00
0:00
Audio Test:
Essay
Published On:

April 17, 2018

Featuring:
Grandmother Flordemayo
Rudolf Otto
Timothy Morton
Categories of Inquiry:
Tags
No items found.
Issue:
Ausgabe 18 / 2018:
|
April 2018
Was ist heute heilig?
Explore this Issue

Please become a member to access evolve Magazine articles.

Das Heilige im Menschsein in Zeiten des Klimawandels

Indigenen Kulturen erscheint das Heilige noch als Ganzheit von Mensch und Natur. Atheisten suchen bisweilen das Heilige in der Natur, weil es in der modernen Lebenswelt nur selten durchscheint. Doch die Natur ist heute alles andere als heil. Der Klimawandel tritt uns mit Wucht als Frage nach dieser verlorenen Ganzheit entgegen.

Bild: Rafael Araujo

Natur ist wohl für die meisten Menschen in modernen Industriegesellschaften ein Sehnsuchtsort. Wir verbinden mit ihr gerne eine Unverfälschtheit, die wir in unseren urbanen Lebensräumen vermissen. Natur lässt uns staunen, weil sie so unberechenbar ist. Ein atemberaubender Sonnenuntergang oder die Urgewalt eines Gewitters können uns zutiefst berühren, weil sie uns mit einer Dimension der Größe in Kontakt bringen, die sich unserer Verfügbarkeit entzieht. Natur erhebt uns aus der Begrenztheit unseres vereinzelten Bewusstseins und vergegenwärtigt uns die Grenzenlosigkeit des Lebensprozesses. Sie lässt uns am Heilen und Heiligen teilhaben, selbst wenn wir an keinen Gott glauben und keiner Religion folgen.

Sanfte Mystik mitten im modernen Leben

Es ist eine Andacht, die unsere Sehnsucht nach Erhabenheit trifft, ohne dabei etwas von uns zu fordern. Womöglich ist gerade deshalb die Natur für akademisch Gebildete, deren wissenschaftliches Weltbild sie oft in den Religionen kein spirituelles Zuhause mehr finden lässt, ein reizvolleres großes Gegenüber als Gott. Sie lässt das Mystische inmitten des modernen Lebens aufscheinen, ohne die Selbstbegrenzungen dieses Lebens infrage zu stellen. In den USA hat dieses Phänomen mit dem Projekt »Heiliger Naturalismus«, zu dem sich Wissenschaftler, Umweltaktivisten und Intellektuelle zusammengeschlossen haben, bereits einen Namen. »Heiliger Naturalismus ist der besondere Respekt für den wissenschaftlichen Ansatz, die natürliche Welt zu verstehen, und die Fürsorge für diese natürliche Welt. Er antwortet außerdem auf das tiefe menschliche Bedürfnis, sich als Teil von etwas Größerem zu fühlen und auf die Sehnsucht nach Verbundenheit und Einheit mit einer Gemeinschaft, der Natur, dem Kosmos. Die Beziehung zur natürlichen Welt und die Ehrfurcht vor ihr reichen heiligen Naturalisten, die nicht an einen traditionellen, menschenähnlichen Gott glauben, aber dennoch die Wissenschaft und das Mysterium gleichermaßen als wertvoll und kompatibel betrachten«, erklärt Mitbegründerin Alice Andrews, die an der New Yorker State University in New Paltz evolutionäre Psychologie lehrt.

Als Umweltaktivistin engagiert Andrews sich im regionalen Umweltschutz, gründete eine Organisation, die sich für die Schließung eines Atomkraftwerkes einsetzt, und kämpft gegen den Einsatz von Pestiziden. Die Natur, das spürt man, liegt ihr zutiefst am Herzen. Doch welche Rolle spielt hier das Heilige? »Wir brauchen etwas Bejahendes und Positives. In der Welt gibt es ein Bedürfnis nach etwas, zu dem wir eine Beziehung eingehen können – eine größere und bejahende Vision, die uns verbindet und eint«, sagt sie. »Atheismus mag unseren Geist nähren, aber das Wesentliche am heiligen Naturalismus ist, dass wir mehr brauchen als nur Nahrung für unsere erkenntnistheoretischen Überzeugungen. Wir brauchen etwas, das sanft ist und nicht so rigide – etwas, das uns an die Heiligkeit des Kosmos, des Wunders, Gefühls und Mysteriums erinnert und uns einlädt, daran teilzuhaben.«

Faszination ohne Furcht

Man fühlt sich an die Dimension des Numinosen erinnert, die der Religionswissenschaftler Rudolf Otto als mysterium fascinosum bezeichnete: Natur als ein Raum des Entzückens, in dem wir in liebevoller Umarmung durch etwas so viel Größeres als wir selbst verweilen können und das unsere Sehnsüchte stillt. Keine zornigen oder strafenden Götter. Doch Natur zeigt sich uns heute auch als Artensterben und in Form von Umweltkatastrophen. Und so, wie die Biosphäre uns mit ihrer überwältigenden Seite konfrontiert, beinhaltet auch das Numinose eine Dimension jenseits des Erbaulichen. Otto beschreibt sie als mysterium tremendum, das »Geheimnis, das Furcht und Zittern auslöst«. Der heilige Naturalismus weicht dieser fordernden Seite eher aus. Einige seiner Protagonisten kämpfen gegen den ökologischen Kollaps an, doch nähern sie sich der entfesselten Natur dabei wie etwas Außenstehendem, das man bezwingen könnte.

Natur erhebt uns aus der Begrenztheit unseres vereinzelten Bewusstseins und vergegenwärtigt uns die Grenzenlosigkeit des Lebensprozesses.

Es ist das Dilemma eines Denkens, das in seiner Öffnung für das, was es übersteigt, seinen Autoritätsanspruch durch die Hintertür bewahrt, um Unbequemlichkeiten zu vermeiden. »Die Natur ist ein Konstrukt, das die menschliche Symbiose innerhalb der Biosphäre negiert und aus der Natur ein Gegenüber macht«, kritisiert der britische Philosoph Timothy Morton, der in den letzten Jahren mit mehreren aufsehenerregenden Büchern die weltweite Ökologie-Diskussion aufmischte. Naturvölker mit ihrer Mystik lebten noch ganz im Herzen des Numinosen. Die Schönheit der Schöpfung offenbarte sich ihnen ebenso, wie deren apokalyptische Kräfte ihr Dasein bedrohten. Sie konnten nicht einfach der erhebenden Seite den Vorzug geben, denn sie standen mittendrin in diesem noch ungeteilten Leben. Und wir haben diese Wahl auch nicht, weil auch unser Leben noch immer zutiefst mit dieser Natur verwoben ist, selbst wenn wir das so nicht mehr unmittelbar spüren können. »Ökologie bedeutet die Verschränkung aller Lebensformen. Alles ist in Beziehung, aber es ist unermesslich. Es ist so gewaltig größer als du. In dem Moment, in dem du verstehst, dass es in diesem Gedankengang keine Fluchtgeschwindigkeit von der Erde gibt, wird dir klar, dass du ein Teil von ihr bist, aber nicht in dieser netten, tröstlichen Weise, mit der wir uns einzulullen gewohnt sind«, beschreibt Morton diese umfassende Lebensrealität. Oder, anders ausgedrückt: Unser Leben ist immer auch diese Natur und wir können ihr nicht entrinnen. Das ökologische Desaster des Planeten deutet nicht nur auf uns, wir sind es auch und können letztlich nur aus dieser uneingeschränkten Beziehung darauf antworten.

Im Heiligen gibt es nur eine Wirklichkeit. Das macht das Werden und Vergehen zu einem in sich heilen Prozess.

Sich erschüttern lassen

Wir nähern uns jedoch Phänomenen wie dem Klimawandel vor allem von außen, betrachten sie aus sicherer Distanz und machen sie zum Objekt unserer Analysen. Wir mögen emotional erschüttert sein, doch ein wirklich existenzielles Erbeben halten wir, so gut es geht, auf Abstand. Vielleicht braucht es aber gerade die Risse, die in unserem Weltverständnis durch eine grundsätzliche Erschütterung entstehen können, um wieder durchlässig zu werden für die Ganzheit, die Leben seinem Wesen nach eigentlich ist.

Wenn die Konturen unseres Selbstbildes porös werden, dringt das Leben in seiner Gänze zu uns durch. Das kann zutiefst verstörend sein, weil es uns mit dem Geheimnis des Lebens konfrontiert, ohne es zu lüften. Die ökologische Katastrophe, die wir einzudämmen versuchen, hat kein Ausmaß, sie ist unfassbar. Und nur im Eingestehen ihrer Größendimension können wir ihr überhaupt begegnen, was nicht auch heißt, dass wir sie lösen können. Als Kind katapultierte mich mein Nachdenken einmal an diese Grenze des Unfassbaren. Ich war vielleicht elf oder zwölf, ein Alter, in dem das kindliche Staunen noch lebendig ist, aber auch der Drang, sich die Welt anzueignen, immer mehr erwacht. In einem Film hatte ich gesehen, wie seit dem Urknall in Jahrmillionen Leben entstanden war und damit in gewisser Weise auch ich selbst. Das warf für mich viele Fragen auf. Wenn das Leben nach dem Urknall begonnen hatte, was war dann davor? Was war der Anfang von ALLEM? In meiner Erziehung spielten Religion und der Glaube so gut wie keine Rolle und die Tragweite dieser Fragen, die ich intuitiv wahrnahm, traf mich unvorbereitet und mit voller Wucht. Ich erinnerte mich an die wunderschönen Bilder aus dem Weltraum, die ich gesehen hatte. Wie groß die Erde war, konnte ich mir mit Hilfe meines Schulatlanten noch irgendwie vorstellen. Wie groß aber war das Universum, das sie umgab? Konnte man etwas so Immenses überhaupt erfassen? Ich spürte eine Weite ohne jedweden Orientierungspunkt, die nach mir griff. Es war kein befreiendes Gefühl, eher ein beängstigendes. Da war etwas, das ich nicht durchschauen konnte. Aber es erschien mir so wirklich, wie auch ich selbst.

Es ist womöglich diese Nacktheit der Wahrnehmung, in der das Heilige zuhause ist, vor allen Vorstellungen, die wir uns von ihm machen. Für mich als Kind fühlte sich mein Erlebnis nicht wie eine erhebende, spirituelle Erfahrung an. Aber etwas in mir wusste, dass ich etwas Wesentliches berührt hatte, ohne es greifen zu können. Vielleicht ist es gar nicht so wichtig, dass wir nach dem Heiligen suchen, sei es in der Mystik der Natur, den Weltreligionen oder einfach in stiller Meditation. Denn oft machen wir uns beim Suchen schon ein Bild dessen, was wir finden wollen. Vielleicht ist viel bedeutsamer, dass wir beginnen, diese Offenheit, die vor aller mystischen Erfahrung steht, zuzulassen, weil wir im Staunen überhaupt erst durchlässig werden für die Unermesslichkeit des Lebens, die dann aufzuscheinen vermag.

Etwas im Ganzen zerbricht

Die Religionen, ob animistisch oder monotheistisch, haben seit jeher nicht nur Räume der Erbauung eröffnet, sondern auch Kontexte geschaffen, in denen das Unfassbare erträglich wurde. Im Heiligen gibt es nur eine Wirklichkeit. Das macht das Werden und Vergehen zu einem in sich heilen Prozess. Gerade auch in den Momenten, in denen alles auseinanderzufallen scheint. Erst seit wenigen Jahrhunderten ist es uns möglich, uns durch unser eigenes Tun immer mehr aus der Allmacht dieses Lebensprozesses zu emanzipieren und auf ihn einzuwirken. Unsere Urahnen konnten im Angesicht von Naturgewalten oft nur noch zu den Göttern beten. Wir stellen uns heute den Elementarkräften, die wir durch unser Heraustreten aus dem Ganzen entfesselt haben, entgegen und versuchen, sie von außen wieder einzudämmen.

Und wir glauben gerne, dass dieses Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Darin liegt die Ahnung, dass hier eine größere Kraft am Wirken ist. Aber auch die Haltung, dass erst eines zum anderen kommen muss, damit Ganzheit sein kann. Der Philosoph Timothy Morton versucht, vom Ganzen aus zu denken, statt aus Teilen ein größeres Ganzes zu basteln: »Ich bin ein Holist! Aber was wir brauchen, ist ein Ganzheitlichkeitsprinzip, bei dem das Ganze immer weniger ist als die Summe seiner Teile. Dies wird durch die Symbiose angedeutet. Die Teile können sich lösen, was bedeutet, dass das Ganze zerbrechlich ist.« Im Grunde steht am Anfang seiner Rechnung nur das Eine und der Mensch noch mittendrin. Sobald wir Teile sehen, ist das ursprünglich Ganze schon dahin. Morton hält uns vor Augen, wie fragil dieses Beziehungsgeflecht des Lebens ist. In der Erdgeschichte sind unzählige Formen des Lebens entstanden, haben sich zu größeren Organismen verbunden und sind wieder vergangen. Mit dem Klimawandel rückt diese Verletzlichkeit für uns in die Sichtbarkeit. Er ist der sinnbildliche Riss zwischen uns und der Natur, der immer breiter wird, ein Riss, der uns auch vom Heilsein und unserer tieferen menschlichen Natur immer mehr entfremdet. Wir haben uns schon lange aus der symbiotischen Beziehung, die Morton beschreibt, gelöst. Und daran zerbricht auch etwas im Ganzen.

Im Herzschlag des Kosmos

Im Herzschlag des Kosmos»Um wirklich teilzuhaben am Menschheitsprojekt, müssen wir unserem Leben heilige Räume abtrotzen«, so Alice Andrews vom Projekt »Heiliger Naturalismus«. Vielleicht geht es aber auch einfach darum, wieder zu erkennen, dass unser Leben selbst dieser heilige Raum ist. Bei dem globalen Online-Event »One World Bearing Witness« sprach Grandmother Flordemayo darüber, wie wir diese Gegenwärtigkeit der Schöpfung in uns und als uns wieder erleben können, diese Symbiose, von der auch Timothy Morton spricht. »Es hat Millionen und Millionen von Jahren gedauert, bis dieses wunderbare Paradies entstanden ist. Diese wunderschöne Erde, die Felsen, die Wasserläufe, die Pflanzen, die Blumen, die Insekten, die Vögel und Tiere. Und wir sind ein Teil davon. Der Erde verdanken wir es, hier zu sein, lebendig«, so die indigene Heilerin.

Der Klimawandel ist wie ein Riss zwischen uns und der Natur, der uns unserer tieferen menschlichen Natur immer mehr entfremdet.

Sie lud uns ein zu beten, um diese ursprüngliche Verbundenheit zu erneuern. Es war kein Gebet der Worte. Das Summen, das sie anstimmte, war einfach Leben, unmittelbar und heil. Ich konnte nicht anders als mitzusummen und mich diesem Tönen zu überlassen. Es räsonierte aus etwas Größerem, wie ein erklingendes Atmen des Universums, und ich konnte fühlen, wie es sich in meiner Anwesenheit in ihm bekräftigte. »Diese Schwingungen des Klangs können die Schwingung auf der ganzen Erde verändern. Seit dem Beginn der Zeit summen wir diese Schwingungen, es ist ein Klang, der aus dem Herzen kommt. Es ist ein nährender Klang, der uns umarmt. Wenn du dein Herz mit der Schönheit zwischen Himmel und Erde verbindest, entfaltet sich die Schönheit dieser Beziehung«, so Flordemayo.

Es ist nicht das Herz der guten Gefühle, unser persönliches Herz, das hier vibriert. Es ist, auch wenn das vielleicht pathetisch klingt, das Herz des Kosmos, das unablässig schlägt, in der Natur und in uns. Die Geschichte des Lebens auf der Erde ist seit jeher auch eine Geschichte des Verlusts und der Entstehung immer neuer Formen des Heilseins. Das Leben als solches ist die Ganzheit, die auch das Heilige meint. Deshalb müssen wir das Heilige nicht suchen. In unserer schlichten Offenheit kann es aufscheinen, in uns und durch uns. Wir wissen nicht, ob unser menschliches Leben den Klimawandel überdauern kann. Doch wir können damit beginnen, ganz hier zu sein, als Beziehung zum Leben, das wir gleichermaßen sind. Das lässt (unsere) Natur als ungeteilte lebendig sein.

Author:
Dr. Nadja Rosmann
Share this article: