Vom Urknall in die Zukunft

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Book/Film Review
Published On:

November 5, 2018

Featuring:
David Christian
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Ausgabe 20 / 2018:
|
November 2018
Die Bewusstseinsmaschine
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Eine Besprechnung des Buches »Big History« von David Christian

Es gibt viele Bücher, welche die Anfänge des Kosmos beschreiben und viele, die die Geschichte der Menschheit in den Blick nehmen. Das Besondere an »Big History« ist, wie David Christian die Wechselwirkungen von Geschichte und Naturgeschichte darlegt, denn es erlaubt eine völlig andere Perspektive auf den historischen Gesamtzusammenhang.

Egal ob Astrophysik, Evolutionsbiologie oder die Geschichte des Menschen, für Christian steht im Zentrum das Prinzip der Entropie – nach dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik zerstreut sich Energie so weit, dass sie am Ende nicht mehr für Arbeit benutzt werden kann. Naturgeschichte ist nicht die Vorzeit der Weltgeschichte, sie ist immer funktional gegenwärtig. Wir sind Natur! Wenn wir die Welt wirklich verstehen wollen, müssen wir das ganze Bild betrachten. Dieses Bild ist aber unabhängig von Herrschern, Nationen und Kriegen. Die Geschichte der Menschheit wird nicht von Diktatoren und Heeresführen bestimmt, sondern von den Möglichkeiten, Energieflüsse in komplexe Bahnen zu lenken und immer mehr Energie nutzbar zu machen.

Deshalb beginnt für David Christian die »Big History« der Menschheit mit dem Urknall und das Thema bleibt immer gleich: Energienutzung und Energiezerstreuung. Die Entfaltung des Variantenreichtums teilt er dabei in mehrere Entwicklungsbereiche auf, die jeweils eine Komplexitätssteigerung beinhalten. Evolution ist demnach immer eine Vergrößerung der Vielfältigkeit des Energieverbrauchs.

Die erste Schwelle ist der Urknall (oder was auch immer das Universum in die Existenz brachte). Die Anfangsbedingungen und die Naturgesetze sorgten für riesige Energieunterschiede, die sich im Laufe der weiteren Entwicklung auszugleichen versuchen. Die zweite Schwelle bildet die Entstehung der ersten Sterngeneration und – bei deren Vernichtung – die Entstehung der schweren Elemente. Die dritte Schwelle zeigt sich in der zweiten Sterngeneration mit ihren Planeten. Die vierte Schwelle führt zur Entstehung von Makromolekülen. Gravitation und Hitze brüteten bisher jene Bedingungen aus, die nun eine diffizilere Form des Energieflusses möglich machten. Die fünfte Schwelle betrifft die Entstehung des Lebens. Sich selbst erschaffende und vermehrende Systeme ermöglichen es, einmal erfundene Strukturen der Energieverwendung zu erhalten und zu vermehren.

Die sechste Schwelle ist der Mensch. Auch wenn er nur ein Tier unter vielen ist, so ist das Besondere an ihm seine Sprache, die ein kollektives Lernen ermöglicht. Die biologische Evolution wird durch die kulturelle Evolution abgelöst, was eine wesentlich schnellere Entwicklung ermöglicht. Dadurch wird der Mensch zu jener Spezies, welche Energie am effektivsten für sich nutzt. Die siebte Schwelle ist die Landwirtschaft. Die Idee, jene Tiere und Pflanzen zu fördern, die man für die eigene Energieversorgung brauchen kann und jene zu behindern, die einem nicht nutzen, hat die für den Menschen verfügbare Energie vervielfacht.

Wenn wir die Welt wirklich verstehen wollen, müssen wir das ganze Bild betrachten.

Die achte Schwelle ist die Entdeckung der fossilen Energien. Landwirtschaft hat die Möglichkeit erweitert, die gegenwärtige Strahlungsenergie der Sonne effektiver zu verwenden. Aber es war immer die Energie der Gegenwart. Die Nutzung fossiler Energien eröffnete ein völlig neues Potenzial: Kohle und Erdöl sind gespeicherte Sonnenenergie von Jahrmillionen. Meereskleinstlebewesen des Erdmittelalters hatten diese Energie als Erdöl in den Erdmantel eingelagert. Es dauerte Jahrmillionen, bis die Menschheit sie entdeckte. Jetzt wurde sie in circa 200 Jahren fast gänzlich verfeuert. Dieser Energieschub sorgte für eine explosive Vermehrung der Menschen und einer gleichzeitigen Steigerung der Energieverfügbarkeit für den Einzelnen. Das ist unsere derzeitige Situation.

Mit dieser Darstellung der Historik ist das Buch weit von den üblichen Geschichtsbetrachtungen entfernt, die aufgrund von Untersuchungen diplomatischer Dokumente und der Analyse von Reden und Veröffentlichungen versucht, Machtverhältnisse zu klären. Vielmehr werden wir in einen Milliarden Jahre größeren Kontext eingebettet, der das ganze Universum umfasst. Wir sind darin nicht die Krone der Schöpfung. Wir sind auch nicht der Endpunkt der Evolution. Wir sind ein Ast auf dem Baum des Versuchs, die Energieverwendung zu perfektionieren und der Entropie so viel Komplexität wie möglich abzuringen. Solche Äste gibt es zwar viele, wir jedoch sind derzeit davon die Speerspitze auf unserem Planeten. Das allein bewahrt uns aber nicht davor, zu scheitern.

Dieses Buch zeichnet ein grandioses Gesamtbild. Der einzige Wermutstropfen liegt für mich in einem Anspruch, der im Vorwort formuliert wird: mit dem Erstellen einer einheitlichen Ursprungsgeschichte einen Ersatz für die Sinnhaftigkeit von Religionen liefern zu können. Aber dieser Anspruch wird oft – fälschlicherweise – von säkularen Denkern erhoben. Völlig richtig wird bemerkt, dass das Aufkommen wissenschaftlichen Denkens den Glauben zurückdrängte und die daraus resultierende Leerstelle der Sinnhaftigkeit im 20. Jahrhundert vom Nationalismus aufgefüllt wurde. Aber Naturgeschichte wird dafür auch gegenwärtig keinen Ersatz liefern können. Wir müssen erkennen, dass eine objektive Perspektive nur das WIE eines WOHER/WOHIN klären kann, während wir uns zur Beantwortung der Fragen WARUM und WOZU weiterhin an andere Quellen halten müssen. Aber für das WIE ist dieses Buch hervorragend geeignet.

Nun könnte man vielleicht denken, ich hätte vom Buch schon so viel verraten, dass man es sich sparen könnte, es selbst zu lesen. Weit gefehlt. Dieses Buch ist so umfangreich in seinem vermittelten Wissen und so detailreich in den Erklärungen der Zusammenhänge, dass es in jeder Bibliothek zu finden sein sollte, deren Besitzer eine umfassende Sicht der Welt als Grundlage seiner Entscheidungen sucht. Geschichtsschreibung ist subjektiv abhängig von den Mächtigen. Das ist kein Vorwurf, das ist Fakt. Es werden nur solche Ereignisse aus der Vergangenheit in den Fokus der Geschichtsschreibung gerückt, die für die Gegenwart Relevanz haben. Ändern sich die Machtverhältnisse, ändert sich automatisch die Geschichtsschreibung.

Der Blick von »Big History« ist dieser Einschränkung nicht ausgesetzt, weil er ohnehin von historischen Gesellschaftsereignissen unabhängig ist. Die rote Linie unserer Entwicklung wird von den Technologien der Energieverwertung bestimmt. Und dieser freie Blick auf das Wesentliche ermöglicht die dringend nötige Einschätzung unserer Lage: Wir stehen am Rand einer ökologischen Klippe. Deshalb müssen wir unsere Wirtschaft dringend auf Nachhaltigkeit und Erneuerbare Energien umstellen – und dazu wird es nötig sein, dass wir uns umfassenden Veränderungen der globalen Gesellschaftsstruktur stellen. Sonst werden wir vom Hauptprotagonisten zur vernachlässigbaren Fußnote in »Big History«.

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