Menschliche Reife

Auf dem Weg zu einem neuen Miteinander

Ein Virus hält uns einen Spiegel vor. Noch unmittelbarer als durch die Klimakrise stellt sich die Frage: Sind wir den Herausforderungen gewachsen, vor denen wir stehen? Was bedeutet es angesichts der großen Krisen, die wir durchleben, als Menschen zu reifen, zu wachsen? Tugenden werden oft aus der Not geboren. Vielleicht helfen uns das Virus und der Klimanotstand,
mehr Menschsein zu wagen.

Artikel der aktuellen Ausgabe

Readers Voice's

»Die Entwicklungsstufen des Selbst« gehörte 1986 zu den spannendsten und am meisten bereichernden Lese-Erlebnissen. Es freut mich sehr, dass evolve mit Robert Kegan diesen heute mehr denn je bedeutsamen und lesenswerten Autor wieder ins Licht der Öffentlichkeit und ins Gespräch gebracht hat. Er macht sehr deutlich, dass jede wünschenswerte Reform unseres sozialen Miteinanders von der Entwicklung jedes einzelnen abhängt und weder autokratische Systeme noch Revolutionen eine Lösung darstellen können.

Benedikt Maria Trappen, Hennweiler

Viele inspirierende Artikel mit Anregungen, wie menschliche Reife definiert, wahrgenommen, erweitert werden kann. Die Voraussetzungen, wie leicht oder auch erschwert menschliche Reifung sein kann, beginnen schon bei der pränatalen Entwicklung des Kindes, den Umständen der Geburt, der Hinwendung der Mutter zu ihrem Kind, der Erfüllung seiner verschiedenen Bedürfnisse körperlich, emotional, seelisch zwischen Symbiose und Autonomie, sodass das Kind sich sicher verbunden fühlt und entsprechend seines Alters frei entfalten kann. Und fähig ist, sich in allen folgenden Altersstufen auf natürliche Weise mit Lebensfreude und Neugier mit der umgebenden Welt zu verbinden und mit der Pubertät beginnend erwachsen werden zu können. Diese frühen Erfahrungen verursachen eine tiefe Prägung, die das Lebensgefühl in allen Bereichen so oder so beeinflusst.
Es wäre eine gute Gelegenheit gewesen, wenn einige Expert*innen auf den Gebieten »kindliche Entwicklung«, »Gehirnentwicklung«, »Bindung statt Bildung« in Ihrem Heft eine Stimme bekommen hätten.

Monika Sellmayr, München

Ich möchte Euch ganz besonders herzlich für die letzte Ausgabe der evolve zum Thema Reife danken. Sie ist für mich eine der besten und wertvollsten Ausgaben. Bei so vielen Artikeln fühlte ich mich inspiriert, berührt und bereichert. Manche, wie das Interview mit Robert Kegan, habe ich kopiert und an Freunde geschickt, sie haben zu Buchbestellungen und intensiven Gesprächen geführt.

Sven Werchan, Berlin

»Reife«, so das Thema der aktuellen evolve. Als ich mit den Freunden vom evolve-Salon Zürich über das Thema sprach, kamen wir auf das Bild eines Apfels, der aus der Blüte entsteht, der wächst durch Sonne, Regen, Wind und die Kraft aus seiner Verbundenheit mit dem Baum.
Ja, und schließlich hängt da so ein kleiner rot-gelber Apfel am Ast. Und wenn man ihn pflückt und reinbeißt, dann schmeckt er vielleicht ein wenig säuerlich, aber ansonsten einfach köstlich. Er ist reif – und wird verspeist. Das Kerngehäuse spuckt man aus, und da liegen dann die Samen auf der Erde. Wer weiß, wie es mit ihnen genau weitergeht …, aber in ihnen liegt die Möglichkeit eines neuen Apfelbäumchens beschlossen.
Doch der Apfel? Ja, den gibt es nicht mehr. Und so hängt das Thema Reife wohl irgendwie mit dem Thema Tod zusammen. Doch ist es nicht vielmehr ein Prozess eines Wandels, der nie aufhört? Vom Apfelkern zum rotbäckigen Früchtchen und wieder zum Kern und immer so weiter? Ein Prozess des Wandels und Wachstums, der sich gemäß der Idee, des Bildes eines Apfelbaumes, dessen Früchte reifen und vergehen, gemäß einer energetischen Struktur vollzieht, die existiert, schon bevor der Spross aus der Erde spitzt.
Oder der Entstehungsprozess des Schmetterlings: Die Imago-Zellen tragen sein Bild in sich und durch diese Imagination holen sie das wundervoll leichte Lebewesen aus den sich auflösenden Strukturen der Raupe in die Wirklichkeit.
»Das Saatkorn sieht die Ähre nicht«, so wird Phil Bosmans im Denkanstoß zitiert. Muss denn der Samen die Ähre sehen? Er ist ja schon die Ähre, ist schon dieses sich leicht im Wind bewegende goldfarbene Kornfeld.
Gehen wir einen Schritt weiter und übertragen den Satz auf uns Menschen: Das Kind sieht nicht den Mann, nicht die Frau, die es einmal sein wird. Aber wozu auch? Es wird dasselbe Leben sein, es ist dieses Leben.
Also dann: Müssen wir sehen oder wissen, wohin wir gehen, was wir sein werden, was sein wird? Wir sind es ja – schon jetzt. »Wir sind. Aber wir haben uns noch nicht. Darum werden wir erst.« (Ernst Bloch)

Peri Schmelzer, Nürnberg

Zum Artikel »Das neu gefundene Paradies« von Thilo Hinterberger:

Das Heft 26 gefällt mir insgesamt sehr gut, insbesondere das Interview mit Robert Kegan finde ich sehr interessant und lesenswert.

In dem Beitrag von Thilo Hinterberger vermisse ich leider eine klare Unterscheidung von Prä- und Transrationalität. Meines Erachtens liegt hier zumindest in Teilen eine klassische Prä/Trans-Verwechslung im Wilberschen Sinne vor. Thilo Hinterberger schreibt: »Denn glückliches Erleben ist mehr, wir kennen es seit früher Kindheit: Es ist Freude, Liebe, Vertrauen, Staunen, um nur einiges zu nennen, alles subjektive Empfindungen, die scheinbar jenseits des Rationalen, sprich im Transrationalen liegen.« Nur weil etwas jenseits des Rationalen liegt, muss es noch lange nicht im Transrationalen liegen – es kann auch im prärationalen Bereich liegen. Und gerade die Dinge, die wir seit frühester Kindheit kennen (z. B. Staunen), als also das Rationale noch gar nicht vollständig ausgeprägt war, liegen im prärationalen, nicht im transrationalen Bereich.
Dann spricht Thilo Hinterberger von einem »weiteren Reifungsschritt unseres Bewusstseins, mit dem wir dennoch in unser Paradies zurückkehren können«. Das liest sich für mich wie ein Widerspruch in einem Satz: Ein evolutionärer BewusstseinsENTWICKLUNGSschritt in transrationale Bereiche soll uns ZURÜCK führen in das verlorene prärationale Paradies?
Möglicherweise geht es Thilo Hinterberger aber auch gar nicht um die vertikale Entwicklung über Bewusstseinsstufen vom Prärationalen über das Rationale hin zum Transrationalen, vielleicht bezieht er sich auch auf das horizontale Spektrum der Bewusstseinszustände. Denn am Anfang schreibt er: »Denn die innewohnende Präsenz der Bewusstheit selbst scheint etwas zu sein, das von diesem lebenszeitlichen Reifungsprozess unabhängig ist. Wir kennen diese Präsenz des neugeborenen Lebens, die uns aus den Augen des Säuglings anstrahlt.«
Da scheint es eher um die Frage zu gehen »Wer oder was bin ich?«, jenseits von Bewusstseinsentwicklungsstufen. Vielleicht ist eine »nonduale Erfahrung« gemeint, das »Bewusstsein an sich«, von dem es – um Einstein zu zitieren –»keinen Plural gibt«. Diese Erfahrungen von horizontalen Bewusstseinszuständen (grobstofflich, subtil, kausal, Zeuge, Nondualität) sind allerdings unabhängig von vertikalen Bewusstseinsstufen möglich, das heißt, es ist dafür keine »transrationale Dimension des Bewusstseins erforderlich«.

Mit freundlichen Grüßen
Peter Wolfrum, Leverkusen

Antwort von Thilo Hinterberger
Sehr geehrter Herr Wolfrum,
aus der Sicht eines Wilberschen Bewusstseinsmodells mag man schon auf die Idee einer Prä/Trans-Verwechslung kommen. Allerdings empfinde ich es eher als ein Schein-Problem, das sich aus einem linearen und exklusiven Entwicklungsmodell ableitet, welches für mich, sowohl aus entwicklungspsychologischer, als auch neurophysiologischer und der eigenen Erfahrung nach nicht ganz stimmig ist.
Wenn wir als erwachsene Menschen auf bestimmte rationale und deterministische Verarbeitungsfunktionen und Bewusstseinsfunktionen verzichten, dann stehen uns zwar Erlebensqualitäten zur Verfügung, die wir aus einem prärationalen Bereich her kennen, aber dieses Erleben ist eingebettet in die Funktionalität eines erwachsenen Menschen und Gehirns, das zu einer sehr viel umfassenderen Manifestation dieses Erleben führen kann. Zur kindlichen Regression wird es erst, wenn bestimmte Bewusstseinsfunktionen blockiert werden und nicht mehr zugänglich sind, aber das meine ich hier nicht.
Wenn Wissenschaftler wie Einstein von ihrem Staunen berichten, dann tun sie das NICHT aus rationalem Überdruss, um in kindliche Muster zurückzufallen, sondern dieses Staunen ist Ausdruck eines Erkennens und einer Ahnung im Sinne eines Einblicks in etwas Größeres, ja Transzendentes. Und dennoch trägt das Staunen dieselbe Grundqualität wie beim Kind, sie ist jedoch eingebettet in ein System, das zu einem differenzierteren, aber auch umfassenderen Bewusstseinserleben fähig ist.
In diesem Sinne meinte ich sehr wohl die vertikale Dimension, wenn Sie das so nennen möchten. Ich persönlich halte es für wichtiger, anstatt vor der Gefahr der prärationalen Infantilisierung zu warnen, dazu anzuregen, die Erlebens- und Erkenntnisqualitäten auch des Nicht-Rationalen zu verbinden. Das, was wir im Prärationalen erleben konnten, muss m. E. nicht überwunden werden, sondern es bildet die Grundlage für unser menschliches Bewusstsein. Eine Grundlage, die jedoch rational ausgeblendet werden kann, aber auch eine Grundlage, die durch rationale und multiperspektivische Fähigkeiten in ein umfassenderes, transrationales Erleben führen kann.
Mit freundlichen Grüßen,
Thilo Hinterberger, Regensburg