Das Heilige

und die offene Gesellschaft

Unsere offene Gesellschaft steht auf dem Prüfstand: Viele meinen, sie hat uns in ein globale Sinnkrise geführt, in einen Kulturverfall, in dem nichts mehr heilig ist. Immer mehr Menschen versuchen, in alten, autoritären Modellen neue Antworten zu finden. Oder hat die offene Gesellschaft vielleicht einen tieferen Kern, als wir denken? Was ist eigentlich das Herz der offenen Gesellschaft? Oder hat sie keins?

Artikel der aktuellen Ausgabe

Readers Voice's

Ein Heft wie eine Wundertüte! Trockenobst, magische Bilder, Sahnebonbons … alles drin. Das machte Lust zum Lesen. Aber … im Ernst: Wir haben uns fatalerweise an sich stetig verschärfende Desaster gewöhnt, die im Begriff sind, diesen Planeten unbewohnbar zu machen. So wird die Notwendigkeit, Wege aus der globalen Sackgasse zu finden, immer dringlicher. In kürzer werdenden Abständen werden wir mit der Schreckensvision eines Dritten Weltkrieges konfrontiert. Im Fernsehen laufen Koch-Shows. Von Zeitfenstern wird geredet. Es fühlt sich ein bisschen an wie der schöne Sommer 1939.

Und so finden wir in diesem Heft Entwürfe, Rückbesinnungen und Diagnosen unserer Bewusstseins-Malaise, die sich dem Leser, der Leserin im gewohnten evolve-Duktus mitteilen:

Einerseits der sprachliche Bombast intellektualistischer Höhenrekorde, der es nötig macht, jeden Satz zweimal zu lesen, um dann irritiert festzustellen, dass doch irgendwie nix hängengeblieben ist. Was möchte ich solchen Autoren zurufen? »Jungs (ja, es sind meistens Jungs), kommt mal runter! Wir kochen alle nur mit Wasser. Und manchmal lachen wir auch.« Thomas Steininger bringt es auf den Punkt: Die szientistische Sichtweise trennt uns von vielen Formen des Wissens. »Alles wird zum Denkprodukt.« Danke, Thomas …

Und andererseits? Neben einigen hervorragenden Beiträgen u. a. von Patricia Kopatchinskaja, John Vervaeke oder Nadja Rosmann hat mich das Interview mit Iain McGilchrist angenehm im Solarplexus berührt. Was für eine erdfeste, trittsichere, allgemeinverständliche Sprache!

Gewiss ist die Theorie der Bipolarität unseres Denkapparates nicht neu. Ratio: links, Gefühle: rechts. Neu ist die Schlussfolgerung, die Iain McGilchrist zieht. Das Phänomen der Re-Präsentation sowie die linkshirnig bürokratische Denkweise, zunehmend in Algorithmen, reduziert unsere Wahrnehmung um das Wesentliche: die Erfahrung der Ganzheit, das Erkennen von Zusammenhängen, das intuitive Verstehen … das Heilige.

O-Ton McGilchrist: »Wir sind die ärmste Zivilisation, die je gelebt hat.« Wenn man sich anschaut, was auf dem Spiel steht, könnte da was dran sein.

Reino Kropfgans, Haan

Danke für die mutige Ausgabe »Das Heilige und die offene Gesellschaft«. Alleine der Titel ist schon eine Inspirationsquelle! Einige erste Assoziationen: Wie passt das Heilige zum Eiligen der modernen Zeit? Hat es überhaupt noch einen Platz in all den Konsum- und Unterhaltungsräumen, in denen wir überwiegend dem Profanen begegnen? Denn die altehrwürdigen Orte wie Kirchen (mit ihrem Glauben aus der Konserve und den hierarchischen Strukturen) wirken nicht mehr sonderlich zeitgemäß in unserer vermeintlich offenen Gesellschaft. Und die hippen urbanen Plätze wie Yoga-Studios scheinen lediglich eine kommerzialisierte Selbstoptimierungs-Spiritualität To-Go anzubieten.

Welche heiligen Hallen bleiben uns als aufgeklärte Gesellschaft überhaupt noch? Die des universitären Wissenschaftsglaubens? Und wie ergänzen sich Glaube und das Heilige? In anderen Kulturen gab es immer Orte, die »tabu« waren: Heilige Stätten, die den Ahnen, Naturwesen oder Gottheiten vorbehalten waren. In Teilen der modernen Gesellschaft gilt es als progressiv und schick, alle möglichen Tabus zu brechen, um sich von scheinbar eingestaubten Traditionen zu lösen und sich in einer unbegrenzten Freiheit zu erleben. Aber bringt diese Entgrenztheit eventuell Haltlosigkeit mit sich? Und fehlen dadurch Orientierungspunkte, ohne die es schwerfällt, durchs Leben zu navigieren? Wie gelingt es uns, dem Offenen eine Kontur zu geben und dem Heiligen lebendige Räume? Vielleicht ja frei nach Martin Buber in dem Begegnungsraum zwischen dem Ich und dem Du? Ich freue mich jedenfalls immer auf die Einsichten, die mich beim Lesen einer evolve erwarten.

Eva Fragstein, Treherz