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Von der Denkautobahn zu den vielen Pfaden des Gemeinsinns
Silja Graupe ist Professorin an der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung. Dort arbeitet sie mit Praktiken der Imagination als Fähigkeit, wirtschaftliches Handeln neu zu gestalten. Sie forscht auch über Wirkmechanismen des Geldes. Wie sieht eine Wirtschaft aus, die nicht nur auf Berechnungen und Geldwerte setzt, sondern auch auf unmittelbare Erfahrung, Beziehung, Imagination und Gemeinsinn?
evolve: Welche gesellschaftspolitische und ökonomische Bedeutung hat die Imagination?
Silja Graupe: Harald Welzer spricht von mentalen Infrastrukturen, diesen Begriff möchte ich ausweiten zu den imaginären Infrastrukturen. Wir sind gewohnt, unsere Gesellschaft mit physischen Strukturen so zu verbinden wie bei einem Autobahnnetz. Aber auch in unserer Vorstellungskraft gibt es mentale Deutungsmuster darüber, was Gesellschaft ist. Dadurch können wir uns in politischen und wirtschaftlichen Prozessen verständigen. Die Geschwindigkeit in der Kommunikation erhöht sich, wir können aber auch vieles übersehen. Ein Beispiel: In Diskussionen um die Erneuerung der Wirtschaft ist eines der Standardargumente: »Ja, aber der Mensch ist nun mal eigennützig.« Aus den Kognitionswissenschaften wissen wir, dass dies Überzeugungen sind, die miteinander geteilt werden, aber vor jeder Evidenz liegen. Wir überprüfen diese Annahme gar nicht mehr. Eine andere Annahme wäre: »Unternehmen müssen Gewinne maximieren, um zu überleben.« Dieses Argument ist zu einer mentalen Infrastruktur geworden, eine Grundüberzeugung, die geteilt wird. Das wird nicht mehr hinterfragt, es ist wie eine mentale Autobahn, auf der sich sehr viele Menschen bewegen. Solche mentalen Infrastrukturen sind dann wichtig, wenn wir Gesellschaft nicht mehr auf Erfahrung aufbauen, sondern auf Grundüberzeugungen, die rein in unserer Vorstellung liegen.
Mentale Infrastrukturen sind Geschichten und Bilder, die wir uns immer wieder erzählen und die wir reproduzieren, um eine komplexe Welt zu verstehen. Ein anderes Wort dafür ist »Frames«, also Filter oder Brillen, die wir uns aufsetzen, die nicht die Realität abbilden, sondern vor der Realität liegen.
Imaginäre Infrastrukturen sind nicht nur von mir abhängig, sondern Menschen schaffen im Dialog kooperativ neue Bilder und neue Formen.
Erzählende Wesen
e: Allein die Bewusstmachung von solchen mentalen -Infrastrukturen ist ein befreiender Akt. Sie erlaubt uns einen freieren Umgang mit diesen Infrastrukturen. Wir können fragen: Wollen wir diese Infrastruktur?
SG: Ja, im Menschenbild des Homo oeconomicus gibt es keine imaginären Infrastrukturen, weil es nur eine explizite Rationalität gibt. Deshalb haben breite Teile der Wirtschaftswissenschaften das Problem noch nicht ansatzweise verstanden. Die Verhaltenswissenschaften verstehen, was imaginäre Infrastrukturen sind, halten sie aber für unbewusst und nur durch Einflussnahme von außen, etwa durch PR, Werbung und Propaganda ausbeutbar und langfristig steuerbar. Deshalb ist es eine emanzipatorische Arbeit, wenn wir darauf hinarbeiten, dass wir als Gesellschaft imaginäre Infrastrukturen schaffen. Das ist ein bewusst kreativer und gestalterischer Akt, der nicht rational berechnend ist, sondern auf andere Weise vernunftbegabt. Als Menschen sind wir erzählende Wesen, imaginierende Wesen. Imaginäre Infrastrukturen sind nicht nur von mir abhängig, sondern Menschen schaffen im Dialog kooperativ neue Bilder und neue Formen. Eine aufklärerische Tradition spricht den Menschen diese Fähigkeit zu.
Wenn wir mit Studierenden an mentalen Infrastrukturen arbeiten, dann erarbeiten wir zunächst, dass wir vieles von dem, was uns wichtig ist, in den gegenwärtigen Machtverhältnissen kaum ausdrücken können. Wir spüren ein Leiden an etwas, das wir als epistemische Gewalt bezeichnen können, also eine wissensbezogene Gewalt. Dieser Begriff kommt aus dem Postkolonialismus-Diskurs und besagt, dass Menschen ihrer Sprache und ihrer Ausdrucksfähigkeiten in Kultur, Schrift, Bildern, Kunst und so weiter beraubt werden. Deswegen können sie das, was in ihrer Kultur wichtig ist, nicht mehr ausdrücken.
Dieser Begriff wird heute auch in unseren westlichen Diskursen genutzt. Es wird zum Beispiel viel über Ökonomisierung gesprochen und darin zeigt sich die mentale Infrastruktur eines Verlusts: Früher war vieles anders in der Pflege, in der Bildung, in der Kunst, aber das Diktat der Ökonomie hat es zerstört. Zugleich gibt es aber kaum Diskurse, die in mitteilbarer Sprache ausdrücken können, was verloren gegangen ist. Was ist das Positive, das durch die Ökonomisierung verdrängt wurde? Wir können den Verlust benennen, sind aber kaum in der Lage zu beschreiben, welche Pflege wir möchten und wie sie realisierbar sein kann. Das ist kein individuelles Versagen, sondern wir haben uns als Gesellschaft der sprachlichen und bildlichen Ausdrucksmöglichkeiten beraubt, mit denen wir das Gemeinwesen beschreiben könnten, in dem wir eigentlich leben wollen. Wir sind eine Gemeinschaft, die um Sprache ringt. Hier liegt die konstruktive Arbeit, um zum Beispiel literarisch, über Biografie-Arbeit oder ästhetische Ausdrucksmittel in eine Suche nach einem gemeinsamen Ausdruck zu kommen, damit wir das ansprechen können, was uns in der Erfahrung wichtig ist.
e: Wie kommt es zu diesem Verlust der Ausdrucksfähigkeit?
SG: Ein Grund dafür ist die verheerende Rolle des Geldes, das ein gesellschaftliches Kommunikationsmittel ist, welches uns aller bildlichen und sprachlichen Ausdrucksmittel beraubt. Wir haben gelernt, schweigend miteinander zu kommunizieren, indem wir Geld nutzen. Damit nutzen wir aber auch eine berechnende Vernunft und eine oberflächliche Sprache der Waren und ihres Marketings. In dieser Sprache geht es nicht darum, Sinn auszudrücken, sondern etwas zu verkaufen. Die heutige Form der Ökonomie zerstört also ganz alltäglich die inhaltlich-qualitative Kommunikation und die Imagination.
Der Kern des Neoliberalismus ist eine imaginative Scheinwelt, die um das Geld herum aufgebaut wird. Diese Scheinwelt bezeichnen wir als »den Markt« mit den Diktaten der Preise und den individuellen Vorteilen in der Marktwirtschaft. Es ist ein Rennen um Gewinn und Verlust, wobei der Markt unbewusst als väterlich korrigierende autoritäre Funktion vorgestellt wird, die etwa tief mit unseren familiären Selbstverständnissen verbunden ist. Es gibt nur noch eine einzige Großerzählung, die in alle Bereiche ausgreift, während die Vielfalt der Sprachen und Ausdrucksformen erlischt. Das ist ein großer Kulturverlust.
Wir haben uns als Gesellschaft der sprachlichen und bildlichen Ausdrucksmöglichkeiten beraubt.
e: Welche Strategien sehen Sie zur Wiedergewinnung von Ausdrucksfähigkeit?
SG: Einige versuchen, andere große Bilder dagegenzusetzen. Meines Erachtens brauchen wir aber stattdessen eine Demokratisierung der Diskurse. Also keine neue Autobahn, sondern wir müssen wieder zurück auf die Landstraße. Marc Augé hat in seinem Werk »Nicht-Orte« geschrieben, dass wir nur auf den Straßen fahren, auf denen man die Landschaft durchquert, um ein Ziel zu erreichen. Die Alternative wäre, die Autobahn zu verlassen oder zu Fuß über die Landstraße zu gehen, um unsere Welt, wie sie ist, wieder neu zu entdecken. Es ist also entscheidend, dass wir wieder unmittelbare Erfahrungen machen, jenseits des Geldes: raus aus dem Supermarkt, rein in die Produktionsstätten, in die Erfahrungen sozialer Ungleichheit. Wir sollten uns wieder mehr dem widmen, was uns wirklich anrührt, was jenseits stereotyper Autobahnen tatsächlich passiert. Und wir können Menschen befähigen, dafür Ausdrucksmittel zu finden, auch in ihrem emotionalen Angesprochensein. Es ist wichtig, dass wir dem realen Leben begegnen, dem Elend und den konkreten Möglichkeiten; Trauer, Zorn, Frustration, aber auch das Erleben von Wirksamkeit und Gemeinschaft.
Eine berechnete Welt
e:Sie haben die Wirkungsmacht des Geldes angesprochen. Welche Folgen hat dieser Fokus auf monetäre Beziehungen?
SG: Wenn ein Baum, ein Wald, ein Tier keinen monetären Wert hat, werden sie im Diskurs nicht wahrgenommen. Alles braucht einen monetären Wert. Dadurch entleert es sich von allen anderen Werten, von allen anderen Vorstellungen. Wenn wir bei der betreuenden und pflegenden Arbeit nur den Geldwert sehen, müssen wir alles abstrahieren, was uns darin wichtig ist. Wir verlieren dadurch die Fähigkeit, in einer komplexen, unübersichtlichen und chaotischen Welt Sinn und konkrete Werte wahrzunehmen und zu definieren. Unsere Wertdefinition ist vollkommen entleert. Wir können uns deshalb alle darauf einigen, weil sie keine innewohnende Qualität mehr hat. Dadurch verlieren wir als Menschen die Fähigkeit, über Werte zu verhandeln.
e:Aus neoliberaler Sicht sind diese entleerten Werte unvermeidlich, weil die Welt zu komplex ist. Wir können sie nicht bildhaft fassen. In einem Vortrag bringen Sie ein Beispiel von Milton Friedman, einer der großen Stimmen des Neoliberalismus. Er zeigt am Beispiel eines simplen Bleistifts, dass seine Komponenten mit der ganzen Welt verbunden sind. Mit Menschen, die den Baum gefällt haben, dem Ort, wo der Graphit herkommt. Der einfache Bleistift ist ein Sinnbild für die Komplexität des Lebens. Da wir uns das alles aber nicht bildhaft vorstellen können, ist es seiner Ansicht nach gut, durch den Marktwert des Bleistiftes zu zeigen, auf welche Weise der Bleistift mit allem verbunden ist.
SG: Das Faszinierende an dem Beispiel von Milton Friedman ist, dass er eine Imagination erschafft, die dem entspricht, was wir im Supermarkt oder im Alltag tatsächlich erleben. Wenn ich diese Tasse oder mein Handy nutze, habe ich keine Ahnung, wie sie hergestellt wurden. Der Neoliberalismus sagt mir: Meine Erfahrung als Konsument ist allein entscheidend. Du hast Geld in der Hand und kannst aus einem Kosmos von Waren wählen, von denen du systematisch nichts weißt. Es sei denn, es sind Bilder von Kaffeeanbauern darauf, aber die Authentizität dieser Bilder kannst du nicht überprüfen. Du weißt einfach gar nichts. Die Aufgabe einer Wissenschaft sollte es sein, diese Wissenslücke zu schließen. Aber der Neoliberalismus sagt uns: Du musst auch nichts wissen. Oder noch schlimmer: Du darfst gar nichts wissen wollen. Der Neoliberalismus hat die Dunstglocke des Supermarktes geschaffen, mit der wir uns von der Realität abschotten. Statt wissen zu wollen und Imaginationskraft einzusetzen, um die Welt zu verstehen, setzt der Neoliberalismus an die Stelle des Wissens den bildhaften Glauben an eine unsichtbare Kraft, die hinter dem Schleier unseres Unwissens alles zum Guten bewirkt. Hier verbindet sich eine mythische Erzählung, wissenschaftlich scheinfundiert, mit unserer alltäglichen Erfahrung: In dieser kapitalistischen Welt weiß ich ja auch nichts. Diese Rhetorik ist als Propaganda genial, weil sie die Menschen in diesem Dämmerschlaf der Realabstraktion des Geldes hält.
e: Was meinen Sie mit Dämmerschlaf?
SG: Wenn wir beispielsweise ein Handy für 59,95 € kaufen, dann haben wir alle doch heute das Gefühl, dass damit etwas nicht stimmen kann. Wenn wir schauen würden, wie die seltenen Erden gewonnen werden und was ein gerechter Lohn gewesen wäre und welche ökologischen Folgekosten entstehen, dann hätte es mehr kosten müssen. Die Neoliberalisten erklären uns aber stattdessen, dass wir Demut vor den Preisen haben sollten. Wir müssen akzeptieren, dass die Preise die Wirklichkeit richtig widerspiegeln. Damit halten sie uns im Dämmerschlaf. Denn wir sagen dann: »Ich kann eh nichts tun, ich brauche nicht dahinter zu schauen, ich muss mich nicht engagieren, ich muss nichts verstehen.« Gleichzeitig haben wir angesichts der sozialen und ökologischen Zerstörung der Welt die Intuition, dass die Preise weder die Wahrheit sagen noch das Richtige widerspiegeln.
e:Ich soll mir also selbst keine Gedanken machen, sondern mich auf die unsichtbar wirkenden Mechanismen verlassen?
SG: Ja, dadurch verkümmern aber meine eigenen bildschaffenden Kräfte. Jedes Bild, das von außen ins Gehirn eingepflanzt wird, schneidet die Fähigkeit des Menschen ab, sich selbst von einem Prozess ein Bild zu machen. Aber das Beispiel Fair Trade zeigt, dass wir kollektiv sehr wohl zwischen einem Fair-Trade-Handy und einem anderen unterscheiden können. Wir verstehen, wie ein höherer Preis zustande kommt.
Viele der Bilder, die den Menschen gegeben werden, liegen unterhalb der Schwelle des Bewussten. Und das ist auch so beabsichtigt. Es werden Konstrukte oder Frames formuliert, auf denen unser bewusstes Denken aufsetzt, über die aber nicht mehr nachgedacht wird. Der Mythos des Marktes wurde als Frame gesetzt, sodass Menschen darauf ihre politische Meinung, ihre Wahl-entscheidung, ihre Idee des Kapitalismus und die Wissenschaft gründen. Aber der Frame selbst wird nicht hinterfragt. Deshalb brauchen wir heute Vorstellungskräfte, die über diese Bilder, Konstrukte und Frames nachdenken können. Dadurch erlangen wir die Freiheit zu wählen, wann wir ein bestimmtes Bild nutzen und wir haben zudem die Kraft, andere Bilder zu schaffen.
Etwas schaffen, das es noch nicht gibt
e:Warum sind diese Vorstellungskräfte so entscheidend, um neu über Wirtschaft nachdenken zu können?
SG: Die Preisbildung zum Beispiel hat -immer etwas mit Vergangenheit zu tun. -Es sind Imaginationen von der Zukunft, die auf der Vergangenheit beruhen. Es ist eine Kolonialisierung der Gegenwart durch die Vergangenheit. Unsere Imaginationskraft ist wichtig, um in der Gegenwart auf etwas zu reagieren, dem wir nicht mit stereotypen Vorstellungsbildern und mathematischen Berechnungen begegnen können. Unsere Imaginationskraft ist nicht nur die Fähigkeit, sich angesichts der Gegenwart eine Vorstellung von möglichen Handlungen zu machen; Imagination bedeutet auch etwas zu schaffen, was es noch nicht gibt.
Wir haben gelernt, schweigend miteinander zu kommunizieren, indem wir Geld nutzen.
e:Könnte man nicht sagen, dass wir uns dadurch einfach Phantasieprodukte vorstellen? Das Argument für den Marktmechanismus besteht ja darin, dass es hier nicht um Wunschvorstellungen geht: Die Welt ist so komplex, wir können sie uns sowieso nicht vorstellen, deshalb sollten wir auf den Marktmechanismen vertrauen. Hat eine Vorstellungskraft darüber, wie sich die Wirtschaft anders gestalten lässt, etwas mit Wirklichkeit zu tun?
SG: Ja, sie ist tatsächlich näher an der Wirklichkeit. Die Ökonomen haben ja völlig recht: Die Welt ist chaotisch, voller vielfältiger Sinneseindrücke, die wir filtern müssen. In jeder Situation, jedem Gespräch, in jeder Umgebung muss eine Entscheidung darüber getroffen werden, was mir wichtig ist. Aristoteles sprach vom Gemeinsinn und man könnte sagen, die Imagination liegt in der Fähigkeit des Gemeinsinns, durch die Sinne Gemeinsamkeiten zu finden, die wesentlich sind. In der Ökonomie brauchen wir immer wieder Menschen, die hinter gegebene Waren und Preise schauen und hinterfragen, ob sich darin nicht in Wirklichkeit etwas Verborgenes widerspiegelt, beispielsweise die klimaschädlichen Auswirkungen. Oder wir durchschauen, dass sich hinter bestimmten Preisen auf den Finanzmärkten Korruption verbirgt. In Berlin schaut man gerade hinter die Mietpreise und fragt, welche Wirklichkeit sich dahinter tatsächlich verbirgt.
Wir müssen uns immer wieder Bilder von einer komplexeren Realität machen, als die Preise uns signalisieren. Das ist die Kernaufgabe wirtschaftlichen Denkens und Handelns: jenseits vorgefertigter Stereotype zu denken. Die Preise sind einfach die wirksamsten Stereotype. Durch unsere Imagination können wir bestimmte Vorstellungsmuster fallen lassen, um für die Komplexität der Welt eine neue Offenheit zu schaffen und sie neu zu greifen. Wenn ich zum Beispiel durch die Straßen gehe und eine Frau mit Kopftuch sehe, können sich in mir rassistische Stereotype regen. Dann werde ich die Frau nicht ansprechen, ihr nicht helfen, das haben empirische Studien gezeigt. Ich kann mir aber bewusst machen, dass dies eine Vereinfachung der Komplexität ist: Frau mit Kopftuch, Islam, Terror. Eine solche Vereinfachung der Wirklichkeit hilft an vielen Stellen nicht. Unsere Imaginationsfähigkeit bedeutet, die Wirklichkeit wahrzunehmen, die Frau wahrzunehmen, sie anzusprechen. Ich kann aktiv meine Stereotype fallen lassen.
So entstehen neue Bilder, die die Wirklichkeit konkreter wiedergeben. In einer Welt, die ganz von ökonomischen und politischen Stereotypen geprägt ist, wird unsere Imagination zu einer demokratischen Kraft: Ja, wir brauchen Vereinfachung, aber es gibt immer wieder den Moment, wo die Vereinfachung zum Problem wird. Dann brauchen wir die Fähigkeit, in diese Komplexität hineinzugehen, um neue Vorstellungsbilder zu schaffen. Wir brauchen Vorstellungsbilder, aber wir brauchen auch die Kraft, sie auszutauschen und immer wieder individuell und kollektiv zu erforschen, welche gerade diejenigen sind, die uns weiterhelfen.
Wenn ein Baum, ein Wald, ein Tier keinen monetären Wert hat, werden sie im Diskurs nicht wahrgenommen.
e:Hier sprechen Sie von Bildern, die aus unserer Beziehungsfähigkeit entstehen. Sie sind also ein Gegensatz zu den Abstraktionswelten. In Beziehung, im Gespräch entwickeln wir Bilder, auf die wir uns verständigen können. So entstehen gemeinsame Bilderwelten, die in der Konkretheit und Bezogenheit die Welt ganz anders darstellen als die abstrakten Stereotype. Durch die Fähigkeit, in Beziehung gemeinsam Bilderwelten zu entwickeln, könnten wir gemeinsam Wirtschaft neu imaginieren.
SG: Unsere massenmedialen Gesellschaften beruhen darauf, dass wir über Bilder miteinander kommunizieren, deren Erfahrungshintergründe wir nicht mehr kennen. Das ist das Schicksal unserer Gesellschaft. Aber in einer demokratischen, gemeinschaftlich emphatischen Gesellschaft müssen wir immer wieder Entscheidungen treffen, bei denen wir diese Bilder hinterfragen und auch neu gemeinsam entwickeln wollen. Es geht hier um gemeinsam geteilte Bilder, auf denen wir Wertvorstellungen, Emotionalität und so weiter aufbauen.
Es gab immer wieder Bewegungen gegen eine Verwissenschaftlichung der Abstraktion, in denen Menschen als bildschaffende Wesen verstanden wurden. Cusanus, der Philosoph und Theologe des 15. Jahrhunderts, beispielsweise erklärte, unsere Ebenbildlichkeit Gottes liege in der Möglichkeit der Bildlichkeit, der Vorstellungsfähigkeit. Daraus folgt die Verantwortung dafür, welche Bilder wir gemeinsam finden. Mich alarmiert, dass in den Wissenschaften diese Fähigkeit entweder nicht vorkommt oder verlacht und degradiert wird.
In den Verhaltenswissenschaften, worauf die Verhaltensökonomie aufbaut, gibt es eine Rationalität, die nur noch auf hochgradiger Abstraktion beruht, und es gibt ein Unbewusstes, das auf intuitiven, unbewussten Bildern beruht. Es gibt aber auch ein Bewusstsein, das nicht nur rational ist, sondern bildhaft, vorstellungsfähig. Es gibt mehrere Bewusstseinsarten. Diese sind aber in unserer wissenschaftlichen Diskussion, die auch Politik berät, nicht mehr enthalten und werden auch nicht gelehrt.
Lebendiger Gemeinsinn
e:Wie soll man sich eine demokratische Gesellschaft mit einem demokratischen Gemeinsinn und lebendiger Imaginationskraft vorstellen?
SG: Diese Imaginationskraft fällt uns tatsächlich unheimlich schwer. Wir müssen sie deshalb üben. Die Cusanus-Hochschule hat es sich zur Aufgabe gemacht, junge Menschen darin zu befähigen. Ein Beispiel dessen, wo die Bedeutung in der Coronakrise überdeutlich wurde, ist die Medizin und die gesundheitliche Versorgung. Am Anfang der Coronakrise wurden die Krankenpflegenden und Ärzte vor Ort beklatscht. Es gab ein intuitives Gespür der Wertschätzung dafür, dass diese Menschen jenseits von wirtschaftlichen Vorgaben und Stereotypen mit ihrem ganzen Einsatz kranken Menschen helfen. Wir haben alle gemerkt, dass die Gesellschaft das braucht.
Für den Neoliberalismus ist solch ein Gemeinsinn eine Art Lückenbüßer, der immer dann zum Tragen kommt, wenn gesellschaftliche Regeln kurzfristig nicht funktionieren. In einer demokratisch-imaginativen Gesellschaft sollten diese Menschen die Zeit und den Raum bekommen, um zu imaginieren, wie die institutionellen Strukturen der Krankenhäuser, der Krankenversicherung, der Gesundheitsvorsorge gestaltet werden könnten – auf eine Weise, dass ein Handeln, das intuitiv alle für richtig halten, dauerhaft durchgeführt werden kann.
Es könnten institutionelle Strukturen geschaffen werden, die von der Gewinnmaximierung befreit sind und sich an den Regeln des Zusammenlebens orientieren, die wir brauchen. Es bräuchte also eine institutionelle Innovationskraft, die auch mit Abstraktion zu tun hat. In den Niederlanden wurden aus den konkreten Erfahrungen in der Altenpflege Nachbarschaftssysteme entwickelt. Hier wurden z. B. die Abrechnungssysteme neu entworfen und Kompetenzen gebündelt.
Wir können also individuelle Systeme entwickeln, die dann in Gesetzgebung münden. Es ist eine Bottom-up-Bewegung, die eine Innovationskraft in die verfestigten Strukturen bringt. Diese Durchlässigkeit gelingt uns im Moment zu wenig. Wir haben partielle imaginative magmatische Blasen, wo das funktioniert, wo man auch Stereotype fallen lässt. Aber häufig werden solche Entwicklungen von der Festigkeit der Strukturen wieder erstickt. Im Bildungsbereich gibt es sehr gute Initiativen und Innovationen, die gemeinsam mit Schülern und Studierenden erarbeitet werden. Sie treffen aber oft auf die Unbeweglichkeit alter Institutionen, die auf unhinterfragten Vorstellungsbildern beruht. Die Initiative wird dann erstickt, wobei der ökonomische Mythos des Marktes und seiner vermeintlichen Sachzwänge ein Hauptargument ist.
Der Neoliberalismus sagt MIR: meine Erfahrung als Konsument ist allein entscheidend.
e: Sie sprechen auch von einer Gemeinsinnökonomie. Was meinen Sie damit?
SG: Im Gemeinsinn stecken zwei Traditionen. In der aristotelischen Tradition wird mit diesem Wort bezeichnet, wie die Sinneserfahrungen des Menschen zu Bildern synthetisiert werden. Gemeinsinnökonomie bedeutet also, sich die Fähigkeit wieder anzueignen, in einer direkten Erfahrung die grundlegenden Bilder zu schaffen, um sie dann zu Strukturen zu verdichten. Während der Corona-Krise hat es in den Kranken- und Pflegestationen rund um die Welt atemberaubende Resonanz-Erfahrungen gegeben, die uns vor dem Schlimmsten bewahrt haben. Gleichzeitig haben sich diese Reaktionen nicht zu Strukturen der Veränderung verdichten können, sondern sind nur ein Lückenbüßer geblieben. Gemeinsinn-ökonomie bedeutet für mich gemeinsam zu verstehen, was jetzt gebraucht wird, und der Freiheit des Menschen zu vertrauen, in bestimmten Situationen das Richtige zu tun.
Der zweite Sinn des Gemeinsinns ist ein moralischer, der in der Fähigkeit des Menschen liegt, zu gestalten. Wenn wir den Markt oder die Marktwirtschaft erklären, dann zeigen wir Flussdiagramme. Das ist aber eine tote Welt, die vielleicht noch mit Konservendosen bevölkert ist. Was Wirtschaft eigentlich ist, gleicht aber vielmehr den Wimmelbild-Bilderbüchern. Menschen gehen in ihrem täglichen Leben miteinander und mit der Natur um und formen daraus direkte Praktiken wie Landwirtschaft, Mobilität, Kochen. Die mentalen Infrastrukturen verbinden uns zu einem moralisch sinnvollen Ganzen, indem Erzählungen, Leitwerte, Leitideen und Leitmetaphern entstehen, an denen wir uns orientieren können. Daraus können dann institutionelle Strukturen geschaffen werden.
Gegen die Ohnmacht, die wir angesichts der großen Krisen und der herrschenden Markterzählung empfinden, können wir im Kleinen entlang der kleinen Straßen arbeiten, um uns wieder imaginär zu verbinden. Dadurch entstehen alternative Erzählungen von einem Gemeinwesen, das Probleme in der kleinstmöglichen Einheit löst, mit den Menschen, die es gemeinsam angeht. So werden Menschen miteinander verbunden und es entsteht eine politische Ökonomie, in der die Berechnung zwar noch eine Rolle spielt, solange es Geld gibt, aber gleichzeitig klar wird, dass wir über Imaginationen und Sprache die Bänder knüpfen können, die uns verbinden.
Das Gespräch führte Thomas Steininger.
Video zum Thema Ein Vortrag von Silja Graupe: Wie wir Ökonomie in Krisenzeiten neu gestalten können: https://t1p.de/6103
Author:
Dr. Thomas Steininger
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