Verbündete der fühlenden Landschaft

Our Emotional Participation in the World
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Buch/Filmbesprechung
Published On:

April 11, 2022

Featuring:
Tyson Yunkaporta
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Issue:
Ausgabe 34 / 2022
|
April 2022
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Über das Buch »Sand Talk« von Tyson Yunkaporta

Können Menschen aus dem Westen zu einer Haltung finden, wie sie die Kulturen indigener Völker prägt? Dürfen wir das überhaupt? Und woran können wir dabei anknüpfen? Diese Fragen stellen sich heute viele Menschen, die Auswege aus der Todesspirale von Kapitalanhäufung, Lebensvernichtung und Unterdrückung aller, die nicht zur Elite gehören, suchen. Junge Menschen sehnen sich danach, das Dogma der westlichen Kultur abzulegen: den Glauben, dass die Welt allein aus Dingen besteht, und einzig der Mensch Innenleben und Handlungsfreiheit habe. Aber wie werden wir diesen Glauben los? Räuchern mit Steppensalbei ist nicht genug.

Tyson Yunkaportas Buch ist eine Antwort auf diese quälende Suche. Es ist eine Antwort auf das, was in der westlichen Zivilisation nicht funktioniert, und zugleich Pforte in ein Denken, das den Kardinalfehler des Westens vermeidet, nämlich zu ignorieren, dass die Welt sich als Beziehungsprozess entfaltet und nicht als Sammlung von Dingen angelegt ist. Weil sie ein Beziehungsprozess ist, gehört sie niemandem – anders als bei einer Sammlung von Dingen, wie wir und alle anderen atmenden Wesen zunehmend leidvoll erfahren.

Yunkaporta lehrt heute an einer Universität in Melbourne. Er hat als Aborigine die Abgründe des australischen Kolonialismus durchschritten und wäre darin fast umgekommen. Er ist aber auch von der Denk- und Lebensweise des Westens durchtränkt. Das macht »Sand Talk« zu einem kulturellen Stein von Rosette. Yunkaporta erläutert dabei nicht allein Aborigine-Wissen, sondern kehrt den Blick um: Er erklärt den Menschen des Westens die westliche Kultur. Dabei spricht er aus einem Aborigine-Geist heraus, aus dem Herzen eines Menschen, der weiß, dass Kultur eigentlich bedeutet, »wie dein Ort zu sein«.

In der Heimatsprache von Yunkaportas Familie existiert kein Wort für Kultur. Ein solches wird erst notwendig, wenn sich die Menschen von den übrigen lebenden Wesen, mit denen sie ihre physische und ihre seelisch-geistige Existenz teilen, absondern und über sie erheben. Kultur, so ­Yunkaporta, herrscht in Wahrheit aber überall da, wo Wesen ein gelungenes Zusammenleben pflegen. Kultur ist also überall, wo das Land nicht von Menschen zerstört wurde, die glauben, sie funktioniere ohne Aale, Silber­eichen, Akazienblüten, wilden Honig und Flughunde. Aber erst diese nichtmenschlichen Wesen zeigen uns, wie Zusammenleben funktioniert, so ­Yunkaporta, denn »sie alle interagieren in reziproken Beziehungen innerhalb eines dynamischen Lebens- und Wissenssystems«. Kultur ist Gegenseitigkeit. Kultur ist Egalität. Kultur ist alles, was lebensspendende Gaben tauscht.

¬ UNSERE AUFGABE BESTEHT DARIN, LEBEN ZU PFLEGEN. ¬

Die Welt selbst also ist in dem Maße Kultur, wie sie aus lebendigen Körpern geformt wird. Wir können aber an dieser Kultur der Wirklichkeit nur teilhaben, wenn wir ohne Besserwisserei hinschauen, wenn wir demütig genug sind, von der Welt zu lernen, statt sie beständig zu korrigieren. Denn all ihre »Elemente zusammengenommen, bilden ein ganzheitliches System des guten Lebens, guten Denkens und einer robusten Gesundheit.« Die Herausforderung für unsere Tradition des Wissens besteht darin, zu akzeptieren, dass uns Flughunde und Honig etwas zu lehren haben. Aus Yunkaportas Perspektive ist das, was der Westen Kultur nennt, in Wahrheit ein zerstörerischer Fluch.

Yunkaporta weiß aber sehr wohl, dass sich nur wenige darauf einlassen werden, vom Honig etwas über eine Kultur der Gegenseitigkeit zu lernen. Genauso wenig wie die Kolonialisten etwas von der Landpflegepraxis der Aborigines lernen wollten und fälschlich glaubten, die Erde, die sie gerade stahlen, sei von selbst fruchtbar, und nicht, weil sie von Menschen in einer Kultur der Wechselseitigkeit fruchtbarer gemacht worden war.

Diese beharrliche Weigerung steht im Zentrum von Yunkaportas Diagnose dessen, was im Westen nicht funktioniert. Vielleicht sind einige überrascht, aber letztlich haben wir alle geahnt, was das Problem ist: unser Narzissmus. Der Narzissmus, der von einer Kultur der Eroberer und Erzieher seit Jahrtausenden (mindestens seit Aristoteles) ins Zentrum gestellt wird. Er hat sich heute bis in die kleinsten Verästelungen unserer Alltagskultur als Notwendigkeit etabliert, um voranzukommen. Die Welt – und den Großteil ihrer lebenden Bewohner – als Objekte zu denken, die dem Menschen zur Verfügung stehen, ist die verheerendste Erscheinungsweise dieses Narzissmus. Er ist ein Trauma, das beständig Gewalt hervorbringt – und zugleich die Säule, auf der unsere Zivilisation ruht.

Eine unreife Kultur stelle sich drei Fragen, sagt Yunkaporta. Nämlich: »Warum sind wir hier? Wie sollen wir leben? Was geschieht mit uns, wenn wir sterben?« Wir sehen, dass wir es hier mit den zentralen Fragen der westlichen Philosophie zu tun haben. Für Yunkaporta ergeben sie sich aus einer grundsätzlich anderen Ausrichtung der westlichen Zivilisationen – er nennt sie auch die »Zweiten Völker«, im Gegensatz zu den »Ersten Völkern« der ursprünglichen animistischen Gemeinschaften wie die der Aborigines. Yunkaporta meint: »Das Gesetz der Ersten Völker besagt, dass aufgrund der unendlichen und sich erneuernden Verbindungen zwischen Systemen nichts geschaffen oder zerstört wird. Deshalb ist die Zeit nicht linear und erneuert sich die Schöpfung in ewigen Kreisläufen. Das Gesetz der Zweiten Völker besagt, dass die Systeme voneinander isoliert werden müssen und in einem Vakuum individueller Schöpfung existieren, dass sie zwar komplex begonnen, aber vereinfacht und heruntergebrochen werden müssen, bis sie ihr Ende finden. Weil alle Dinge demnach einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben, ist die Zeit linear.«

Der maßgebliche Unterschied liegt darin, dass in einem System mit voneinander abgetrennten, primär sinnlosen Dingen der Mensch zu entscheiden hat, was er mit ihnen anfängt. Er scheint frei, alles und jedes zu optimieren und auszusortieren, was für ihn nicht funktioniert. Wachstumswahn und tödlicher Wettbewerb sind in diese Weltsicht quasi eingebaut. In einem Kreislauf sind uns solche Eingriffe verwehrt – denn alles muss ja wieder in den Zyklus der ewigen Fruchtbarkeit einfließen. Aber innerhalb dieses Zyklus müssen wir uns nicht verzweifelt bemühen, die Welt zu verbessern, denn auch wenn sie unperfekt ist, können wir nicht aus ihr ausgeschlossen werden. Wenn es kein Ende gibt, bleiben wir auf ewig ein handelnder Akteur der Wirklichkeit.

Für die Aborigine-Kultur, der Yunkaporta entstammt, sind die Zweifel der westlichen Philosophie von der Fülle des Landes und seiner Wesen bereits beantwortet. Wenn sich irgendetwas aus der Natur ablesen lässt, dann das, dass ihre Erneuerungsfähigkeit auf immer wiederkehrenden zyklischen Phasen beruht. Dieser Kreislaufcharakter wird dann in die Kultur umcodiert. So gibt es bei den Aborigines ein Verwandschaftssystem, in dem automatisch die Großeltern den Status der jeweils eigenen Kinder erhalten – und umgekehrt. Ich bin Vater meiner Großmutter – und meine Großmutter ist meine Tochter. Wir werden von dem hervorgebracht, das wir erzeugen, ist die tiefere Weisheit einer solchen auf den ersten Blick willkürlich erscheinenden Zuschreibung. Damit enthält sie eine tiefe Weisheit, die dem linear denkenden Westen – was vergangen ist, ist unwiderruflich vorbei und wird zur Geschichte – gründlich abhan­dengekommen ist.

Den ursprünglichen Kulturen geht es darum, das Muster nicht zu verlieren, das diese Fülle – ihr Zirkulieren zwischen Geburt und Sterben – vorgibt. Erst so können Menschen Teil dieser Fruchtbarkeit sein, ja diese sogar vermehren. Und hier liegt die Antwort auf die bohrende Frage, die sich immer mehr Menschen westlicher Herkunft stellen: Wie können wir indigen leben, wo wir doch in unserem europäischen Erbe die meisten animistischen Traditionen verloren haben?

Folgen wir Yunkaporta, steht uns nichts im Wege. Unser Zugang zu indigenem Wissen hängt nicht davon ab, was wir besitzen – sei das eine adäquate kulturelle oder eine passende ethnische Identität. Er beruht vielmehr auf unserer Haltung. Es geht darum, dem narzisstischen Glauben, Herr über eine Welt der Sachen zu sein, abzuschwören. Spende Leben, ist das indigene Prinzip. Dazu lässt sich jederzeit beitragen, gleich welcher Hautfarbe, gleich welcher Herkunft. Das ist die Aufgabe: nicht die Identität von Dingen bewahren, sondern identitätsverändernde Beziehungen nähren.

Es ist eindrucksvoll, dass für beinahe ­alle ursprünglichen Kulturen die menschliche Rolle in der Welt die gleiche ist. Unsere Aufgabe ist zu dienen. Der Mensch ist für den kosmischen Zusammenhang wichtig, weil er aktiv das tun kann, was die Schöpfung selbst anstrebt: nämlich Lebendigkeit stiften, Fruchtbarkeit erschaffen. Oder aber – fehlgeleitet durch Selbstsucht – sie zerstören. Yunkaporta sagt: »Wir können die in der Schöpfung bestehende innere Verbundenheit entweder steigern oder senken. Wir sind die Hüter, die als einzige die Gabe haben, diese Arbeit zu tun; deshalb müssen wir sie bewusst und mit Meisterschaft ausführen, und zwar innerhalb kultureller Rahmenbedingungen, die auf die Muster der Schöpfung ausgerichtet sind. Ließen wir den Ich-bin-besser-als-Wahn in diesen Prozess eindringen, wäre alles verloren.«

In der indigenen Kosmologie ist der Mensch eine Schlüsselspezies. Unsere Aufgabe besteht darin, Leben zu pflegen. Nicht aber, wie wir es heute tun, es zu vernichten. Hören wir damit nicht auf, ist alles verloren. Das Einzige, was hilft, ist, das narzisstische Trauma loszulassen. Wir müssen also bei uns selbst anfangen. Wie das konkret geht, das sagt Yunkaporta sehr deutlich: Der Weg »liegt in Beziehungen, in den tiefen Verbindungen zwischen Generationen von Menschen, die sich, gegründet auf einer lebendigen mündlichen Tradition, als Hüter einer fühlenden Landschaft verstehen.« Das klingt nach unglaublich viel Arbeit. Das klingt danach, die eigene Komfortzone ziemlich weit hinter sich zu lassen. Legen wir am besten gleich damit los. Die »fühlende Landschaft« wartet schon lange darauf, dass wir uns wieder mit ihr verbünden.

Author:
Dr. Andreas Weber
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