Auf der Suche nach Lebendigkeit

Our Emotional Participation in the World
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Essay
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July 21, 2016

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Ausgabe 11 / 2016:
|
July 2016
Lebendigkeit
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Wie wir uns mit der Welt verbinden

Lebendigkeit hat heute einen hohen Wert. Wir unternehmen viel, um unseren Körper zu erfahren, um unsere Beziehungen intensiver zu leben. Manchmal scheint uns: Es geht um viel mehr.Was wäre eine neue Kultur der Lebendigkeit?

 

Die Menschheit als Ganzes ist ein lebendiges Kind dieser Erde. Gleichzeitig habenwir mit der Industriegesellschaft eine Lebensform geschaffen, die den Planeten und uns selbst in vielfacher Form bedroht. Wie kommt es, dass die soziale und ökonomische Wirklichkeit, die wir geschaffen haben, zu einer Bedrohung unseresLebens wird – unserer Fähigkeit, uns mit der Lebendigkeit dieser Welt zuverbinden?

Lebendigkeit selbst ist ein eigentümliches Wort. Es ist uns so unmittelbar nah undoffensichtlich. Wir brauchen nicht darüber nachzudenken. Man weiß, was gemeintist. Zumindest scheint es so. Sobald wir unseren Blick direkt auf dieseLebendigkeit richten, sobald wir anfangen, über sie nachzudenken, scheint dieLebendigkeit uns irgendwie zu entweichen. Was bleibt, ist ein Gedanke, einBild. Etwas hat sich dazwischen geschoben – zwischen uns und die Lebendigkeit.Wie nehmen wir Lebendigkeit eigentlich wahr? Mit unseren Augen sehen wir das Licht und Formen, mit unserem Gehörsinn hören wir Töne, Dissonanzen undResonanzen und mit unserem Geist nehmen wir Gedanken und Ideen wahr. Besitzen wir einen Sinn für Lebendigkeit? Es scheint so – und gleichzeitig scheinen wirihr gegenüber oft taub zu sein.

Eiche und Bildschirm

Als ich so über Lebendigkeit nachdachte, suchte ich, wie ich es öfter tue, einealte Bekannte hier in Frankfurt-Niederursel auf: eine große majestätische Eiche. Sie steht in einem Kirchgarten in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. In den Arbeitspausen besuche ich oft diesen Garten – einfach, um einmal weg von Schreibtisch und Computer zu sein. Seit Langem schon schätze ich an diesem etwas versteckten Ort seine eigene Art von Lebendigkeit, in die man dort immerwieder eintauchen kann.

DerKontrast dieses Ortes zur »Bildschirmrealität« an meinem Computer ist seh rstark. Das ist besonders spannend zu bemerken, wenn ich am Computer nicht gerade durch lange Emails, Texte oder Facebookeinträge gehe. Unsere Bildschirmesind ja heutzutage viel mehr. Sie sind voll von Landschaften, von Menschen, dieeinem dort begegnen, in Bild, Video und Ton. Der Kirchgarten und mein Computersind zwei sehr unterschiedliche Welten. Der Garten mit seiner Eiche berührtmich in einer Weise, wie ich es in meinem Büro, in der technischen Realität derComputerarbeit nie erfahre. Ja, auch Bilder am Computer berühren mich, sprechenmich an, aber gleichzeitig, wenn ich darauf achte, merke ich, dass etwas fehlt,was ich bei meiner Eiche immer finde. Selbst ein Skype-Gespräch wirkt ganzanders als eine Unterhaltung im Kirchgarten.

Der Kirchgarten und mein Computer sind zwei sehr unterschiedliche Welten.

Was macht diese natürliche Lebendigkeit aus? Da ist das Offensichtliche, der Wind,das offene Licht, auch die Energie des Gartens. Schon die Zellen meines Körpersreagieren auf diese Bäume anders als auf den Bildschirm im Büro. Es gibt genügend biologische und physikalische Erklärungen zum Phänomen derLebendigkeit. Aber ähnlich wie beim Phänomen der Liebe verpasst man vielleichtdas Wesentliche, wenn man Lebendigkeit einfach als eine Art von Energieversteht. Man macht dann aus der Lebendigkeit ein Etwas, ein Ding. DochLebendigkeit begegnet uns nicht als ein Etwas oder ein Ding.

Ichkenne die Eiche in unserer Straße ziemlich gut – mittlerweile zu jeder Jahreszeit. Im Frühjahr ist sie immer der letzte Baum, der seine Knospenöffnet. Dann explodiert sie innerhalb von zwei Wochen förmlich in das helleGrün der neuen Eichenblätter. Die gelblich-grünen, hängenden Blüten, die dieEiche zur selben Zeit produziert, sieht man eigentlich nur, wenn man sehr nahean den Baum herangeht. Zwei, drei Wochen dauert es, bis die Krone der Eichesich voll entfaltet hat, um dann über die Sommermonate fast unverändert zu stehen,bis sich an den Ästen langsam die Eicheln entwickeln. Im Herbst, wenn dieersten Eicheln vom Baum fallen und sich langsam die Blätter verfärben,entledigt sich die Eiche wieder ihrer Blätterkrone, bis dann im November derWind die letzten Blätter vom Baum weht. An den Zweigen sieht man dann bereitsdie Knospen des nächsten Frühjahrs.

Flucht vor den Jahreszeiten

Als Menschen gehen wir immer unbewusster durch die Jahreszeiten. Wenn wir im Winternach Bali fliegen oder nach einem Tag im Büro einige Kilometer im Fitnesscenterauf dem Laufband absolvieren, verlieren die Jahreszeiten an Bedeutung.Trotzdem, oder vielleicht auch deswegen: seit der Industriegesellschaftbegleitet uns diese Suche nach Lebendigkeit. Wir finden sie in der Romantik.Wir finden sie in der Jugendbewegung. Diese Suche wurde ebenfalls Teil derIndustriegesellschaft. Sie wurde zu einer Triebfeder der Freizeitkultur. Wennwir schon nicht nach Bali fliegen, so gehen wir doch zum Wandern in die Alpen.Wir laufen Marathon und suchen nach einer neuen sexuellen Sinnlichkeit. Auch inder neuen Esskultur zeigt sich diese Sehnsucht. Bio ist nicht nurGesundheitstrend. Es ist unsere Abkehr von der »Plastiktomate«, von derIndustrienahrung der letzten Jahrzehnte. Die vegane Küche wurde zur Leitkultur fürjunge Hipster. Die Paleo-Diät bezieht sich direkt auf die Ernährung unsererfrühen Vorfahren, aus einer Zeit vor Ackerbau und Viehzucht. Diese »neueReligion des Essens«, wie es das »Zeit-Magazin« ausdrückt, ist ebenso eineSuche nach der verlorenen Lebendigkeit wie Fitness und Yoga.

DerUrlaub auf Bali, die Zeit in den Bergen, unsere Yogapraxis können eine tiefeBereicherung sein. Sind sie auch der Anfang einer neuen Kultur derLebendigkeit? Man muss nicht so weit gehen wie der Philosoph Theodor W. Adorno,der meinte: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.« Aber sehen wir, wiesehr wir auch Teil einer lebensfeindlichen Zeit sind? Jürgen Habermas spricht davon, dass sich mit der Geburt der modernen Gesellschaft die Systemwelt vonWirtschaft und Verwaltung von unserer Lebenswelt getrennt hat. Habermas ist kein Romantiker, der meint, dass traditionelle Gesellschaften keine Formen vonHerrschaft und Entfremdung hatten. Er spricht davon, dass sich mit der Moderneein abstraktes System von Wirtschaft und Verwaltung entfaltet hat, desseninnere Logik sich nicht mehr mit der Lebenswelt verbindet. Diese Systemlogik,in der zum Beispiel immer mehr menschliche Beziehungen zu reinenWarenbeziehungen werden – man denke an den »Leihopa« – kolonisiert unsere Lebenswelt.Dabei braucht unsere komplexe Gesellschaft funktionierende Systeme. Wir lebennicht mehr in kleinen Dorfgemeinschaften. Aber wie können wir sie mit demLebensimpuls der Welt verbinden?

Weg von der Natur

Die Eiche hier in Niederursel ist vielleicht hundert Jahre alt, aber die Eichen insgesamt haben auch in unserer Kultur eine lange Geschichte. An der alten Außenmauer des Kirchgartens erinnert eine Tafel an den heiligen Bonifatius.Bonifatius war jener christliche Heilige, der im 7. Jahrhundert die Deutschen bekehrte. Durch unsere kleine Straße führt ein Pilgerweg, der an ihn erinnert –der Bonifatius-Weg, ein Wanderweg, der vom Mainzer Dom bis zum Grab desBonifatius in Fulda führt. Und Bonifatius hatte auch eine besondere Beziehungzu Eichen. Er bekehrte im frühen Mittelalter die oberfränkischen Stämme, indemer die heilige Eiche der Germanen, die Donar-Eiche in der Nähe des heutigenKassel, fällte. Das Fällen der heiligen Bäume der Kelten und Germanen wardamals bei den christlichen Missionaren eine beliebte Methode, um gegen diealten Naturreligionen vorzugehen. Diese Abkehr von der Natur war natürlich aucheine Hinkehr zu einer neuen, geistigen Form der Spiritualität. Es war dasSymbol eines großen kulturellen Übergangs. Es beendete einen jahrtausendealtenKult der lebendigen Natur, aber es war auch der Beginn einer neuenKlosterkultur, einer geistigen Kultur, die später etwa in den gotischenKathedralen und einer neuen, geistlichen Musik ihren Ausdruck fand.

Lebendigkeit begegnet uns nicht als ein Etwas oder ein Ding.

Fast tausend Jahre später gab es in Europa noch eine zweite Welle, die sich gegendie Reste der alten Naturreligionen richtete. Der Beginn der Neuzeit, als sichaus der Alchemie die ersten Formen der Naturwissenschaft bildeten und dieHumanisten die menschliche Individualität und Rationalität wieder neuentdeckten, war auch die Zeit der großen Hexenverfolgungen. Die Hexen und Hexerwaren die letzten Vertreter eines alten, magischen Naturkultes. Am Anfang derModerne stand auch ein Gewaltexzess.

Trotzdem war die Aufklärung nicht nur die Geburt der Menschenrechte und der Demokratie. Sie ermöglichte unserem Denken auch, große und komplexe Zusammenhänge zu denkenund zu verstehen. Es ist diese Komplexität, die unser Leben vom Leben eines Baumes unterscheidet. Ein Baum ist ein Baum, ist ein Baum, ist ein Baum. Darinsteckt auch seine Kraft. Er hat von der Systemwelt nichts gehört. Wir Menschen haben eine Geschichte, eine Gesellschaft, ein System, das uns prägt. In unssteckt so viel Information und Reflexion.

Aber Lebendigkeit lässt sich nicht so einfach denken. Sie ist kein Etwas, sie istkein Ding. Deswegen tut sich auch die Naturwissenschaft so schwer mit ihr. Wiekönnen wir uns heute, als denkende, aufgeklärte Menschen wieder derLebendigkeit nähern? Manche Philosophen wie der Darmstädter Philosoph GernotBöhme sehen einen Weg in der Entdeckung unseres Leibes – unseres Leibes, nicht unseres Körpers. Das scheint eine spitzfindige Unterscheidung zu sein, und dochhängt an ihr eine ganze Kosmologie. Der deutsche Zen-Lehrer und Leibtherapeut Graf Dürkheim nannte es den Unterschied »zwischen dem Körper, den ich habe, unddem Leib, der ich bin«. Leib ist immer ungetrennte lebendige Gegenwart. UnserLeib ist die Lebendigkeit, die wir selber sind. Doch wo hört diese Lebendigkeitauf?

Von Mensch zu Mensch

Die Eiche in meiner Straße verbreitet eine ganz eigene Atmosphäre. Der 30 Meterhohe Baum steht einfach da, die Krone in den Himmel gespreizt, die Wurzeln imBoden verankert. Manchmal, wenn ich so neben ihr stehe, bin ich mir nicht sosicher, wo die Eiche anfängt und wo ich aufhöre. Die Eiche – aber auch dieKirche nebenan, das Dorf, der Garten, bilden ein lebendiges Ganzes und das istmehr eine leibliche Erfahrung als eine gedankliche Einsicht. Auch dieAtmosphäre in meinem Arbeitszimmer, an meinem Computer ist eine ganz eigene Erfahrung. Da ist das Licht des Raumes, die Nüchternheit des Computers. Da ist das ganze digitale Universum, das sich hinter meinem Bildschirm öffnet. DiesesUniversum hat die Atmosphäre meines Arbeitsraumes drastisch verändert. Früher waren Arbeitsräume einmal geschlossene Räume. Man ging durch Türen hinein unddurch Türen hinaus. Durch das Fenster sah man die unmittelbare Umgebung. Heutehat die ganze digitale Welt direkten Zutritt zu meinem Raum. Das ändert seineAtmosphäre auch leiblich, körperlich.

Wenn wir uns von Mensch zu Mensch begegnen, begegnen wir uns in einer lebendigenGegenwart. Sind wir uns dieser Gegenwart bewusst? Diese gemeinsame Gegenwartkann selbst kulturelle und geschichtliche Dimensionen beinhalten. Sie istgleichzeitig unendlich weit und völlig konkret. Manchmal gelingt uns lebendigeBegegnung. Da sind Beziehungen keine Zweckbeziehungen, auch keineWarenbeziehung. Sie verhaken sich nicht in psychologischen Mustern. Da entstehtdas gelebte Potenzial eines gemeinsamen Augenblicks. Die Dialogarbeit und HigherWe-Arbeit, in die ich auch involviert bin, versuchtdiese Begegnung in einem gemeinsamen, lebendigen Bewusstseinsfeld zu kultivieren.

Die Menschheit als Ganzes ist ein lebendiges Kind dieser Erde.

Jemand,der schon in den 60er Jahren mit dieser erweiterten Leiblichkeit unsererBegegnungsräume und unserer Gesellschaft gearbeitet hat, war der Künstler und Sozialaktivist Joseph Beuys. Er, der Bildhauer, nannte diese Arbeit die SozialePlastik. In der leiblichen Erfahrung unserer sozialen Welt entdecken wir einenOrganismus, dessen Teil wir auf eine bestimmte Weise schon immer waren. DerHerzschlag eines Stadtviertels, die Atmosphäre eines Sitzungsraums, derLebensimpuls eines Freundschaftskreises – sie werden Teil einer erweitertenLeiblichkeit, in der wir uns nicht mehr nur als Objekte gegenüberstehen. JosephBeuys hat seine Praxis der Sozialen Plastik bis tief in politische undgesellschaftliche Prozesse hineingetragen. In der Nachfolge von Beuys tragenMenschen wie Shelley Sacks und Wolfgang Zumdick, die auch in dieser Ausgabe vonevolve zu Wort kommen, diese Arbeit weiter.

Heilung und Entfaltung

Lebendigkeitist unmittelbar wie ein Baumblatt, das sich im leichten Wind bewegt.Lebendigkeit ist aber auch universell. Die kulturelle Evolution der Menschheitist Teil dieser Lebendigkeit. Vielleicht mussten wir uns von der lebendigenNatur entfernen. Vielleicht musste Bonifatius die Eichen fällen, um den Weg füretwas Neues frei zu machen. Aber Lebendigkeit braucht immer wieder auchHeilung. Ich glaube, das hat auch Joseph Beuys so verstanden. Seine letztegroße Arbeit vor seinem Tod entstand 1982 auf der Kunstausstellung documenta.Er nannte sie »Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung« und er ließ in denStraßen von Kassel 7000 Eichen pflanzen. Sie stehen dort noch heute und habenlangsam begonnen, das Stadtbild Kassels zu verwandeln.

Ich habe einmal recherchiert, wo genau Bonifatius eigentlich vor 700 Jahren dieheilige Donar-Eiche gefällt hat – es war in Geismar, 25 Kilometer außerhalb derStadt Kassel. Joseph Beuys, der sich auch als ein moderner Schamane und Heilerverstand, hat das sicher gewusst. Die Entdeckung der Lebendigkeit ist auch dieEntdeckung eines großen Lebensprozesses – sei es die Menschheit, sei es die Erde, sei es der Kosmos –, der immer wieder Heilung und Entfaltung braucht.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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