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Den Mythos wirtschaftlichen Wachstums durchschauen
Unsere Wirtschaft beruht auf dem Mythos vom nie endenden Wachstum. Der Wirtschaftswissenschaftler und Dramatiker Tim Jackson hinterfragt diese Idee, die uns so selbstverständlich erscheint. Er fragt: Wo finden wir tiefere Quellen des Wachstums, die mit dem zu tun haben, was uns im Leben wirklich wichtig ist?
evolve: Wachstum ist ein zentraler Aspekt des Mythos des Marktes. Wie hängen Wachstum und Markt zusammen?
Tim Jackson: Wachstum ist ein grundlegendes Element unseres Mythos des Marktes. Der Kapitalismus beruht auf der Annahme, dass alle Waren und Dienstleistungen, die für die Menschen von Wert sind, auf monetären Märkten verkauft und gekauft werden können oder sollten. Daraus wiederum leitet sich die Vorstellung ab, wir müssten dafür sorgen, die Wirtschaft immer weiter wachsen zu lassen, damit der Markt als effizienter Mechanismus erhalten bleibt.Je mehr man die Märkte nutzen kann, um zuvor nicht vermarktete Güter zu Waren zu machen, desto mehr Wachstum kann man aus der Wirtschaft herauspressen.
Wachstum ist ein grundlegendes Element unseres Mythos des Marktes.
Aber das führt zu Problemen. Eines dieser Probleme ist natürlich die Tatsache, dass wir auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen leben. Wenn man sich nur auf Wachstum konzentriert, vernachlässigt man außerdem weitere Aspekte, die zum Wohlergehen der Menschen beitragen. Und das führt uns wieder auf die Idee vom Markt zurück, weil einige Dinge, die zum Wohlergehen der Menschen beitragen, nicht unbedingt dazu geeignet sind, sie auf Märkten gegen Geld tauschen zu können oder zu müssen.
Die Qualität menschlicher Interaktion
e:Ja, zum Beispiel wird die menschliche Fürsorge für ältere Menschen oder Kinder im Markt nicht wirklich wertgeschätzt. Es wird versucht, auch solche Tätigkeiten dem Markt zu überlassen, anstatt zu sagen: Moment mal, es ist nicht richtig, dass unser Wirtschaftssystem der menschlichen Fürsorge keinen Wert beimisst.
TJ: Das ist wirklich ein entscheidender Punkt. Die DNA des Kapitalismus wertet systematisch zeitintensive Arbeit ab. Es wird versucht, die Zeitintensität solcher Tätigkeiten zu verringern, damit die Kosten des Produktionsprozesses gesenkt werden und die Produktionsleistung dadurch höher ausfällt. Auf diese Weise werden die Taschen der Aktionäre gefüllt, die mit ihrem Kapital in solche Projekte des Gesundheits- und Sozialwesens investieren. Dies benachteiligt vor allem die pflegenden und betreuenden Berufe, bei denen es nicht darum geht, Dinge immer schneller zu erledigen, sondern die Qualität menschlicher Interaktion in den Mittelpunkt ihres Handelns zu stellen.
Es gibt sehr starke und mächtige wirtschaftliche Kräfte, die die umsorgende Arbeit verdrängen und versuchen, die Zeit, die Menschen in der Pflege aufbringen, durch etwas anderes zu ersetzen. Geht man nach der Marktlogik, wird der Wert der Pflege immer weiter geschwächt. Dadurch entsteht eine Art von sozialer Armut.
e:Heute haben wir diese großen Organisationen, die Pflege- und Betreuungskräfte im Gesundheitssystem oder in der Kinderbetreuung organisieren. Sie schaffen Unternehmensstrukturen, damit ihre Aktien an der Börse gehandelt werden können. So wird die natürliche Pflege durch Familienmitglieder mehr und mehr durch Zeitarbeitskräfte ersetzt, damit alle Erwachsenen in der Familie dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen können. Das ist der Versuch, die Pflege zu monetarisieren. Wenn sich nicht bald radikal etwas ändert, werden wir in der Konsequenz irgendwann jede menschliche Emotion und Erfahrung monetarisiert haben.
TJ: Auch dagegen formiert sich Widerstand, denn das Eindringen der Finanzwelt in die Pflege- und Sozialsysteme stellt definitiv eine Gefahr dar. In unseren Gesundheits- und Sozialsystemen ist es Kapitalgebern gestattet worden, auf praktisch unregulierte Weise finanzielle Gewinne zu erzielen, was den Wert der Pflege- und Betreuungskräfte in diesem System zunehmend untergräbt. Dieser Prozess wird durch öffentliche Mittel gestützt und finanziert, die noch einen gewissen Standard an Fürsorge in der Gemeinschaft ermöglichen. Auf der anderen Seite wird den Anteilseignern privater Kapitalbeteiligungsgesellschaften mit Sitz in einem Steuerparadies ein Vielfaches an Rendite versprochen.
Verschiedene Formen des Wachstums
e:Ich frage mich, wie man zwischen materiellem Wachstum und einem Wachstum unterscheiden kann, das sich auf eine tiefere und kreativere Weise auf die Entfaltung unserer Menschlichkeit bezieht. Wie kann man ein Wirtschaftssystem schaffen, das zwischen dem einen und dem anderen unterscheidet?
TJ: Wir verwenden diese Begriffe des Wachstums sehr, sehr unterschiedlich. Spirituelles Wachstum oder das Wachstum in unseren Beziehungen und sicherlich das Wachstum in unseren Gemeinschaften und unserer Kultur und die Fähigkeit, füreinander zu sorgen, sind ganz bestimmte Wachstums-entwicklungen. Dagegen schafft die wachstumsorientierte Wirtschaft eine Dynamik, die geistiges Wachstum sowie das Wachstum von Beziehungen, Sinnhaftigkeit und gegenseitiger Fürsorge untergräbt oder abwertet. Die Wirtschaftsdebatte hat den Begriff »Wachstum« mehr oder weniger als Bezeichnung für materielles und wirtschaftliches Wachstum okkupiert, während z. B. das Wachstum von Kreativität kaum noch eine Rolle spielt.
»Wachstum« als dominantes Wort in unseren Wirtschaftsideologien bezieht einen Teil seiner Legitimität aus der Vorstellung, dass Wachstum ein Grundprinzip in der Natur sei. Junge Organismen wachsen, bis sie ausgereift sind. Aber die Ideologie des Wirtschaftswachstums versucht, ihre Legitimation aus der Natur zu beziehen. Es gibt eine vielsagende Formulierung von Ronald -Reagan, die, glaube ich, aus dem Jahr 1983 stammt, mit der er auf den Bericht »Die Grenzen des Wachstums« des Club of -Rome antwortet und im Grunde genommen sagt, dass es keine Grenzen des Wachstums geben kann, weil es keine Grenzen für unsere Vorstellungskraft, für unsere Kreativität und für unseren Einfallsreichtum usw. gibt. Bis zu einem gewissen Grad ist die Unbegrenztheit unserer Vorstellungskraft und unserer Kreativität, die die potenzielle Grundlage für ein Wachstum des Geistes, der Gemeinschaft und der Beziehungen bildet, ja tatsächlich gegeben. Wenn aber dieser Ansatz mit der Idee in eine Linie gebracht wird, dass endlose Kreativität den wirtschaftlichen und materiellen Zielen des Wirtschaftswachstums gewidmet werden soll, entsteht in Wirklichkeit eine toxische Verbindung und die Vereinnahmung des Wachstumskonzepts ist endgültig gelungen.
Als Gesellschaft fällt es uns heute schwer, über Fortschritt und Zukunft nachzudenken, weil diese einseitig auf wirtschaftliches und materielles Wachstum ausgerichtet sind. Die Wahrnehmung, dass die Wirtschaft -ihre Legitimation für diese Ausrichtung von grundlegenden sinnstiftenden Leitkategorien entliehen hat, ist eine tragische Folge dieser Dynamik.
Die Wirtschaftsdebatte hat den Begriff »Wachstum« als Bezeichnung für materielles und wirtschaftliches Wachstum okkupiert.
e:Was wäre notwendig, um uns von dem Glauben zu befreien, dass Wirtschaftswachstum normal, gerecht und eine gute Sache ist?
TJ: Das ist eine schwierige Frage. Man kann zum Beispiel politische Rahmenbedingungen einführen, die die Arbeit schützen, einen Arbeitsplatz garantieren, gerechtere Löhne vorschreiben, Kapitalrenditen regulieren und insgesamt verhindern, dass der Wert der Arbeit und der Löhne für Normalbürger untergraben wird, und ein Steuersystem schaffen, das all dies unterstützt. Das alles ist durchaus denkbar, und vieles davon fand auch Eingang in den Bericht »Prosperity without Growth«, den ich vor seiner Veröffentlichung zunächst der britischen Regierung vorgelegt habe. Interessanterweise -habe ich in den Folgejahren beobachtet, dass nichts davon umgesetzt wurde. Ich würde behaupten, dass es eine tiefer liegende Aufgabe gibt, die es parallel zu bewältigen gilt und die in gewissem Sinne Maßnahmen zur Veränderung der Rahmenbedingungen unterstützen -könnte: Wir müssen hinterfragen, inwieweit bestimmte Metaphern und Mythen uns und unsere Vorstellungskraft weiterhin zutiefst beherrschen.
Was sind das für Mythen? Dass Wettbewerb besser sei als Zusammenarbeit. Dass Produktivität wertvoller sei als Fürsorge. Dass fürsorgendes Arbeiten und herstellendes Arbeiten in der Gesellschaft verunglimpft werden dürften und nicht so interessant seien wie Kapitalrenditen. Und dass die Rolle der Wirtschaft und der wirtschaftlichen Institutionen darin bestehe, die in diesen Mythen verankerten Werte zu unterstützen. In gewisser Weise möchte ich dazu anregen, dass wir tiefer schauen und den Wachstumsmythos philosophisch reflektieren. Einerseits wird dadurch sichtbar gemacht, wie sehr wir bestimmten Mythen verhaftet sind, und andererseits zeigt es, dass es jenseits dieser Mythen eine weitere Schicht von Mythen mit anderen Werten gibt, die tief in einer ganzheitlicheren, natürlicheren Logik verwurzelt sind und die wir zugunsten einer solchen wachstumsbasierten, marktorientierten Wirtschaft aufgegeben haben. Dieser andere Blick auf unsere Beziehungen zueinander, auf das Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital und auf die Beziehung zwischen Gegenwart und Zukunft sind allesamt tief verwurzelte Fäden in der Geschichte des menschlichen Denkens, die uns auch heute noch als Quelle für eine andere Perspektive auf die Welt dienen können.
Teilhabe am Leben der Gesellschaft
e:Welches sind die Mythen oder Werte, die die Grundlage für eine andere Sicht auf die Welt und die Wirtschaft bilden können?
TJ: Ein interessantes Beispiel ist in dieser Hinsicht die Rolle des »Herstellens« im Sinne von produktiver Arbeit (work) und »Arbeiten« im Sinne der unproduktiven Arbeit (labor). Ich beziehe mich dabei auf Hannah Arendts Unterscheidung zwischen diesen beiden. »Arbeiten« ist diese tiefgreifende innere Tätigkeit der Fürsorge, über die wir gesprochen haben; ihre Bedeutung liegt in der Aufrechterhaltung des Wohls und der Sorge für das menschliche Leben und die Gesundheit. Wie wir schon besprochen haben, der Kapitalismus neigt dazu, diese Arbeit in der Gesellschaft auf ganz besondere Weise abzuwerten. Arendt macht einen Unterschied zwischen solch tiefgreifenden inneren Aufgaben des Sorgens und Aufrechterhaltens und dem »herstellenden Arbeiten«, durch das wir unsere Angst vor der Sterblichkeit vertreiben wollen. Erst wenn wir unseren Kopf aus der inneren Versenkung des erhaltenden und fürsorgenden Arbeitens heben und uns Zeit nehmen, die Welt um uns herum wahrzunehmen, werden wir uns unmittelbar unserer eigenen Sterblichkeit gewahr und suchen nach einer Antwort darauf. Wir suchen eine Möglichkeit, uns selbst über die kurze Spanne eines individuellen menschlichen Lebens hinaus Bedeutung zu geben. Beim herstellenden Arbeiten geht es also darum, ein Gefühl der Beständigkeit in der Welt zu schaffen, sei es durch langlebige Produkte, Denkmäler oder Kunstwerke. Es geht um die Dinge, die uns über die Spanne eines einzelnen Lebens hinausführen und uns die Möglichkeit geben, unsere eigene Sterblichkeit direkt zu adressieren.
Aber der Kapitalismus untergräbt auch diese Aufgabe. Dauerhaftigkeit ist ja das Letzte, was der Kapitalismus will, denn wenn die Dinge Bestand hätten, bräuchte man keine neuen mehr. Und so entgehen uns die inneren Früchte des fürsorgenden Arbeitens und die kreativen Früchte des herstellenden Arbeitens. In der kapitalistischen Gleichung fehlen uns diese beiden Aspekte, die es den Menschen ermöglichen, an der Gesellschaft teilzuhaben – und diese Teilhabe ist ein aktives Element unserer Entfaltung. Durch die Verunglimpfung des erhaltenden, sorgenden Arbeitens und die Untergrabung der Dauerhaftigkeit kreativer, herstellender Arbeit verhindern wir eigentlich das Glück, das diese Aspekte uns als Menschen in der Gesellschaft bringen können. Die Teilhabe am Leben der Gesellschaft und ein Sinn für Dauerhaftigkeit über unser eigenes individuelles Leben ermöglichen eine Wiederaneignung von Sinnhaftigkeit.
Der Kapitalismus beginnt auf bizarre Weise an einem sehr ähnlichen Ausgangspunkt wie der Buddhismus.
e: Mir fallen hier sofort ein paar Dinge auf. Zum einen ist da diese Verfügbarkeit, denn in gewisser Weise tun wir mit den Dingen das, was wir mit unserem menschlichen Leben machen. Der Tod wird geleugnet, aber das führt letztendlich zur Verfügbarkeit. Wir befassen uns nicht mit der Würde des Todes oder der Art und Weise, wie der Tod die Gegenwart veredelt. Wir erschaffen eine Kultur, in der alles verfügbar ist.
TJ: Genau, und wir machen uns selbst dadurch noch verfügbarer. Es gibt eine weitere Dynamik, die mich fasziniert: Der Kapitalismus beginnt auf bizarre Weise an einem sehr ähnlichen Ausgangspunkt wie der Buddhismus. Nämlich bei der Vorstellung, dass das Leben Kampf und Leiden ist. Die kapitalistische Antwort darauf lautet dann, dass jeder kämpfen muss. Also muss man so schnell wie möglich gegeneinander antreten, um selbst nicht derjenige zu sein, der zurückbleibt. Der Buddhismus reagiert auf denselben Ausgangspunkt mit einer völlig anderen Haltung. Er sagt: Wenn man Leiden sieht, wendet man sich nicht von ihm ab. Man wendet sich ihm zu, denn das Leiden verbindet uns miteinander.
e: Das ist wirklich faszinierend.
TJ: Oft beziehe ich mich auch auf die Poesie von Emily Dickinson. Sie wurde oft in die Nähe der Philosophie Martin Heideggers gestellt, der ja der Lehrer und eine Zeit lang auch Geliebter von Hannah Arendt war. Es gibt hier interessante Verbindungen, denen wir nachgehen können. Es ist ein goldener Faden von Ideen, der bei der Überwindung der Ungleichgewichte, die durch einen dominanten marktbasierten, wachstumsorientierten Kapitalismus entstanden sind, zu einer gegenkulturellen Ressource für uns werden kann.
e:Setzen Sie auch Hoffnung in das Potenzial der Token-Ökonomie oder der Kryptowährung?
TJ: Diese Ansätze bewegen sich genau zwischen der Wirkung als positive Kraft und einer zutiefst dysfunktionalen Ausweitung bestehender marktbasierter Ideologien. Es ist nicht leicht vorauszusehen, wie sich das entwickeln wird. Bis dahin würde ich immer für eine Rückbesinnung auf die Ressource eines gegenkulturellen Ideennetzwerks plädieren – diesen goldenen Faden.
Das Gespräch führte Elizabeth Debold.
Video zum Thema: Tim Jackson über »Wohlstand ohne Wirtschaftswachstum«: https://t1p.de/b692
Author:
Dr. Elizabeth Debold
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