Gaia: Eine Idee wird erwachsen
Auf den Tag genau an seinem 103. Geburtstag verstarb unlängst James Lovelock, Atmosphärenchemiker und zusammen mit der Mikrobiologin Lynn Margulis Urheber der »Gaia-Hypothese«. Diese besagt, die Erde sei kein Ding, sondern ein lebendes System, das durch Selbstregulierung über immense Zeiträume hinweg dynamische Gleichgewichte erzeugt. Den Namen Gaia – in der griechischen Mythologie die Erdgottheit – soll Lovelocks damaliger Nachbar im südenglischen Wiltshire, der spätere Literaturnobelpreisträger William Golding vorgeschlagen haben. In den 70er-Jahren stießen Lovelock und Margulis damit in der naturwissenschaftlichen Welt auf Skepsis bis hin zu Spott, während die New-Age-Bewegung ihren Befund vereinnahmte. Heute, wo die Erde bis ins alltägliche Wahrnehmen hinein erschüttert, erwacht scheint, katastrophisch auf die Aktivitäten des Menschen reagiert, wirkt die Gaia-Hypothese – inzwischen zur Gaia-Theorie avanciert – ausgesprochen aktuell und relevant.
Eine akademische Renaissance erlebte sie in den letzten Jahren namentlich durch den Wissenschaftsphilosophen und Anthropozän-Vordenker Bruno Latour, der ebenfalls kürzlich, im Oktober, verstorben ist. Er sah darin eine ebenso radikale Wende wie jene, die Galilei zu seiner Zeit einleitete. »Und sie bewegt sich doch«, soll Galilei über die Erde gesagt haben. »Und es bewegt sie doch«, fügt Latour hinzu. Wobei ihm zufolge Gaia weniger ein Bild für den Planeten ist als vielmehr für die »kritische Zone« – jenen nur einige Kilometer breiten Bereich zwischen der äußeren Atmosphärengrenze und den Bodenschichten, der seit den ersten Bakterien durch Lebensaktivitäten verändert und gestaltet wurde. Latours als »Kampf um Gaia« veröffentlichte Vorlesungen von 2013 verbinden den Ansatz von Lovelock und Margulis mit seiner eigenen Kritik an der dualistisch von Oppositionen wie Natur und Kultur, Subjekt und Objekt, handelnder Mensch und nicht-handelndes Ding geprägten Moderne.
So plädiert Latour dafür, neu »irdisch«, »terrestrisch« zu werden. Das heißt nicht zuletzt, auch denen, die keine rationalen Subjekte sind, endlich die gleichen Rechte zuzugestehen wie der eigenen Spezies. Weil alle Lebewesen gleichermaßen »Erdverbundene« sind – jeweils spezifische Manifestationen eines lebenden Systems, das permanent in dynamischen Anpassungsprozessen begriffen ist.
¬ ALLE LEBEWESEN SIND GLEICHERMASSEN »ERDVERBUNDENE«.¬
Tatsächlich gibt es derzeit am Horizont des drohenden ökologischen Abgrundes weltweit Anstrengungen, mithilfe juristischer Instrumente eine Versöhnung mit der lebendigen Mitwelt voranzubringen. So erhob der Staat Ecuador 2008, anknüpfend an indigene Traditionen, »Pachamama« (Mutter Erde) zum Rechtssubjekt. In Indien, Neuseeland und Kolumbien sind bedeutende Flüsse zu Rechtspersonen erklärt worden. Damit können sie, vertreten durch Treuhänderinnen, selbst als Kläger auftreten, wenn ihre Rechte verletzt sind. Das mag seltsam anmuten. Doch ist das Erstreiten der Rechte juristischer Personen, die nicht für sich selbst sprechen können, vor Gerichten gang und gäbe, wenn es darum geht, etwa die Belange von Institutionen oder Unternehmen zu verhandeln.
In diesem September erhielt das erste Ökosystem Europas den Status einer Rechtspersönlichkeit: Spaniens Mar Menor, die größte Salzwasserlagune im westlichen Mittelmeer, deren ökologischer Kollaps in vollem Gange ist. Fortan verbürgt ein Gesetz das Recht der Lagune, »als Ökosystem zu existieren und sich auf natürliche Weise zu entwickeln«. Ein Komitee aus Vertreterinnen der Behörden und der Zivilgesellschaft soll über den Schutz und die Regenerierung des Mar Menor wachen. Gegenwind kommt von den Produzenten im nördlich des Mar Menor gelegenen »Garten Europas«, wo man auf mehr als 60.000 Hektar – intensiv bewässert, mit Unmengen von Kunstdünger und Plastik – Obst und Gemüse auch für die deutschen Supermärkte anbaut. Hierzulande nimmt unterdessen nach dem erfolgreichen Volksbegehren »Rettet die Bienen« von 2019 in Bayern eine Kampagne Fahrt auf, die darauf zielt, die »Rechte der Natur« in der Bayerischen Landesverfassung zu verankern.
Wegweisend nicht zuletzt die derzeitigen Bemühungen um eine »globale Umweltverfassung«: Unterstützt durch die noch junge Erdsystemwissenschaft – auch deren Anfänge sind von der Gaia-These inspiriert – arbeiten Akteure wie der Politologe Claus Leggewie daran, »Global Governance« und Internationale Beziehungen auf eine planetare Perspektive zu erweitern, die nicht-menschliche Akteure angemessen als Wirkmächtige und Mitwirkende einbezieht. Werden wir es je schaffen, solche Politiken des Lebens zu etablieren? Wieviel Zeit bleibt dafür?