Ästhetik als eine Form der Gesellschaftsgestaltung
Wohnt der Ästhetik eine revolutionäre Kraft inne? Und wenn ja, worin liegt diese Wirkkraft und wie können wir sie befördern? In einem lebendigen Dialog voller überraschender Wendungen suchen evolve Herausgeber Thomas Steininger und der Philosoph und Waldorfpädagoge Bodo von Plato nach der transformierenden Kraft der Berührbarkeit.
evolve: Wie sehen Sie die Rolle der Ästhetik in der Transformation unserer Kultur?
Bodo von Plato: Gerne möchte ich Ästhetik als eine Erkenntnis- oder Wissensform vorschlagen, ja mehr noch als eine schöpferische Lebensform. Ästhetik meint dann nicht mehr in erster Linie Urteilsbildung über das Schöne oder Kunstwissenschaft, sondern innovative Lebensgestaltung oder »Lebenskunst«. Ich knüpfe damit unmittelbar an Friedrich Schiller an, der Ästhetik als Anthropologie, als Lebenskunst und eine daraus hervorgehende Gesellschaftsgestaltung angelegt hat.
Sein wunderbares Werk »Briefe über die Erziehung des Menschen« stellt eine sozialgestalterische, eine politische Frage. Diese Briefe sind inspiriert von der Französischen Revolution, von der Hoffnung, feudale und pyramidal organisierte Machtsysteme zu überwinden und eine menschenwürdige Gesellschaftsordnung zu schaffen; zugleich aber auch von der Enttäuschung, dass sofort neue Machtorgien neues Elend erzeugten. Beides, Hoffnung und Enttäuschung, schreiben wir ja bis heute fort. Vor allem die Enttäuschung, dass wir Gesellschaft anders als unterdrückend und ausbeutend hoffen und denken, aber nur schwer anders realisieren können, spüren wir vermutlich heute noch viel tiefer – nach dem 20. Jahrhundert mit seinen menschenverachtenden Totalitarismen und angesichts der weltweiten ökologischen Zerstörung.
Gegensätze verbinden
e: In welche Richtung denkt Schiller diese transformative Kraft der Ästhetik?
BvP: Schillers Untersuchungen zu einer ästhetischen Kultur und Erziehung führen ihn zu einem Staat, der die zu jedem Menschen gehörigen Gegensätze voll umfasst – und verwandelt. Dieser »Staat des schönen Scheins« wird der Wirklichkeit des Menschlichen gerecht, »weil er den Willen des Ganzen durch die Natur des Individuums vollzieht.«
Und Schiller schließt seine Entdeckungen mit der Frage, ob und wo ein solcher Staat existiere. Seine Antwort führt uns mitten in das Heute: »Dem Bedürfnis nach existiert er in jeder feingestimmten Seele; der Tat nach möchte man ihn wohl nur, wie die reine Kirche und die reine Republik, in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln finden, wo nicht die geistlose Nachahmung fremder Sitten, sondern eigene, schöne Natur das Betragen lenkt, wo der Mensch durch die verwickeltsten Verhältnisse mit kühner Einfalt und ruhiger Unschuld geht und weder nötig hat, fremde Freiheit zu kränken, um die seinige zu behaupten, noch seine Würde wegzuwerfen, um Anmut zu zeigen.«
Er weiß am Ende des 18. Jahrhunderts, dass es nicht leicht ist, zu einer individuellen Erfahrung des Wahren, Schönen und Guten zu gelangen, und dass es noch viel anspruchsvoller ist, eine entsprechende gesellschaftliche Lebensform zu verwirklichen. Erkenntnis und Handlung, Individuum und Gesellschaft, Innen und Außen erweisen sich als kaum überbrückbare Gegensätze. Zweifellos sind sie am Anfang des 21. Jahrhunderts nicht geringer, eher schärfer, sicherlich global existenzieller. Und gerade hier öffnet sich ein Wirkungsfeld für die Kraft der Ästhetik. Denn sie fragt im Schiller’schen Sinne: Wie kann ich unvereinbare Gegensätze so miteinander verbinden, dass die Qualität und Kraft des einen zur Kraft und Qualität des anderen wird und daraus etwas Neues entsteht?
Vor diesem Hintergrund würde ich Ästhetik als eine wirklichkeitsorientierte gesellschaftliche Transformationskraft beschreiben. Ästhetik als die Anschauung und Handhabung des Lebens in einer Weise, die Gegensätze erkennt und zu verstehen versucht, sie annimmt und wertschätzt, sie aber nicht mehr im Modus des Entweder-oder einander ausschließend behandelt, sondern integrativ, nicht vermischend, aber sich wechselseitig verwandelnd.
Die Herausforderung der hier gemeinten ästhetischen Kraft liegt zuerst darin, sie zu denken, dann aber gesteigert im Tun, in der Verwandlung selbst.
e: Indem Sie Ästhetik so auf den Punkt bringen, dass sie Gegensätze miteinander in Verbindung bringt, schimmert darin schon unsere ganze Gesellschaft und Kultur in ihrer Widersprüchlichkeit durch. Die Verbindung der Gegensätze ist ja auch ein gesellschaftlicher Anspruch. Inwiefern ist die Ästhetik eine Möglichkeit, die Widersprüche zu einer Einheit zu führen?
BvP: Als erstes hat sie die Möglichkeit vielleicht dadurch, dass wir überhaupt einen solchen Begriff bilden. Einen Begriff zu bilden, ist vielleicht zugleich das freieste und einflussreichste Vermögen. Einen Begriff in diesem Fall für etwas irgendwie Unmögliches, für etwas, was wir leben, ohne es leben zu wollen. Denn wir Menschen leben in einer unmöglichen Weise zusammen. Wir töten einander, wir unterdrücken einander, wir betrügen einander, missbrauchen einander usw. Wir machen dasselbe mit der Natur. Jeder weiß heute, dass wir Verursacher eines Klimawandels sind, der für den Planeten tödliche Folgen hat.
Wir haben also Bewusstsein davon, wie wir zueinander sein wollen und es nicht sind, Bewusstsein davon, wie wir mit der Natur umgehen sollten und es nicht tun. Aus diesem Bewusstsein entstehen – langsam – entsprechende Regeln und Gesetze, die uns das verbieten, was wir für unangemessen halten, die uns Strafe androhen, wenn wir es doch tun. Dann aber werden die Systeme komplexer und undurchschaubarer und es geht weiter mit der Unmöglichkeit, ja, was die Natur betrifft, wird es sogar schlimmer. Und selbst wenn Rechtsstaatlichkeit einen riesigen Fortschritt bedeutet, wie auch alle Gesetzgebungen zur Eindämmung der Umweltzerstörung, wird sich vermutlich durch Machteinwirkung von außen nicht prinzipiell etwas ändern. Das sehen wir heute. Das wissen wir heute. Wir wissen, dass wir einsichtsabhängige Wesen sind: Erst wenn der einzelne Mensch etwas selbst eingesehen hat und es wirklich mit sich selbst verbunden hat, besteht Hoffnung auf Wandlung über den Einzelnen hinaus.
In dieser herausfordernden Lage kann ein erweiterter Begriff der Ästhetik helfen, kann eine ästhetische Erfahrung – denn sie kann nur der einzelne Mensch machen! – helfen, indem sie uns einsehen lässt: Ja, es ist eine mir vertraute Situation, dass wir Gegensätze miteinander verbinden wollen und können. Schön wird etwas, wenn zwei Aspekte zusammenkommen, die eigentlich ganz unterschiedlich sind, wie beispielsweise Licht und Dunkel in der Farbe oder Geist und Stoff im Menschen.
Geist ist nicht Stoff und Stoff ist nicht Geist. Das können wir klar unterscheiden. Wirkliche Gegensätze. In dem Moment, wo aber das eine das andere so durchdringt, dass der Stoff in Form des Geistes als Kultur erscheint und der Geist in der Materie als Natur Wirklichkeit wird, empfinden wir Schönheit. Die freie Schönheit der Kultur ist ja ebenso berührend wie die notwendige Schönheit der Natur. In der begreifbaren und sichtbaren Schönheit machen wir die erste Erfahrung eines Begriffs – eine ästhetische Erfahrung. Gerade diese Erfahrung und ihr Begriff vermögen etwas, was wir im Leben meistens, jedenfalls gesamtgesellschaftlich, noch nicht vermögen.
Schmerzhafte Widersprüchlichkeiten
e: Wenn ich Sie richtig verstehe, setzt die Ästhetik schon einen Schritt vorher an, also nicht bei der Erfahrung des Schönen, sondern bei der Erfahrung des Gegensatzes. Allein, dass ich den Gegensatz erfahren kann, ist in sich schon eine ästhetische Erfahrung. Normalerweise denken wir, Ästhetik sei, sich etwas Schönes vorzustellen. Aber allein in dem schmerzhaften Wahrnehmen von Gegensätzen oder Widersprüchlichkeiten ist eine Sehnsucht nach Einheit in der Erfahrung inhärent.
BvP: Ja, sagen wir: Die Erfahrung von Gegensätzen ist die Voraussetzung, die Bedingung schlechthin für eine ästhetische Erfahrung, in der wir die Sehnsucht nach Einheit realisieren und mehr oder weniger »Schönes« hervorbringen. Und das gilt auch für das soziale, gesellschaftliche Leben: Wo es uns gelingt, Gegensätze miteinander zu verbinden, indem sie sich wandeln, statt durch Machtkampf zu entscheiden, wer sich durchsetzt und wer sich fügen muss, wird uns eine Gesellschaft schön, also lebenswert erscheinen.
Ich würde gerne noch einen damit verbundenen Schritt hervorheben: Die Aufmerksamkeit für die Gegensätze beginnt zuallererst einmal in mir selbst. Ich beginne, die Not der gegenwärtig menschengemachten Welt zu sehen, zu empfinden und anzuerkennen. Die Not eines sterbenden Planeten, eines sterbenden lebendigen Organismus und drückender Sozialsysteme. Dafür bin ich ja mit-zuständig, denn alles das ist menschengemacht. Ich muss es zunächst einmal anerkennen, annehmen, ja, es erst einmal empfinden. Bei jedem wirklichen Künstler und Wissenschaftler sehe ich eine große Leidensfähigkeit. Es ensteht spontan oder sich langsam aufbauend ein Leidensdruck an dem So-Sein eines Gegenstandes, Wesens oder Zustandes. Die Sehnsucht drängt, Veränderung zu ermöglichen oder herbeizuführen. Das Mitleiden, aus dem das Empfinden der Dringlichkeit wächst, für Verwandlung zu sorgen, ist unumgänglich für eine ästhetische Urteilsbildung. Ich beginne im Grunde in mir mit einer, wie Sie sagen, schmerzhaften Erfahrung, aus der eine Art Ferment oder Sehnsucht, eine Kraft entstehen kann.
DIE AUFMERKSAMKEIT FÜR DIE GEGENSÄTZE BEGINNT ZUALLERERST EINMAL IN MIR SELBST.
Dann taucht die nächste Herausforderung auf. Ich kann ja nicht alles machen und weiß genau wie Sie, ich werde die Welt nicht retten können. Unser Interview wird auch die Welt nicht retten. Und doch wird es Teil einer Bemühung von vielen, vielen Menschen sein. Angesichts dieser Grenzen möglicher Wirksamkeit möchte ich den Horizont meines Bewusstseins und den Horizont meines Einflusses unterscheiden. Ich kann und muss entscheiden, worauf ich meine Aufmerksamkeit richte, was mir wichtig wird, was in meinem Bewusstsein lebt, sich entfaltet, zur Fähigkeit und zu einem Beitrag werden kann. Aber neben dieser Entscheidung für die Weite meines Bewusstseinshorizonts gibt es den Horizont des Einflusses, den nicht ich bestimme, sondern den die Welt mir zumisst, den ich nicht hervorbringe, sondern den ich empfange. Der Wirksamkeitshorizont wächst mir aus der Umgebung entgegen.
Ästhetisch gesehen ist die Beziehung, die Spannung zwischen dem Horizont des Bewusstseins, den ich tatsächlich selbst in hohem Maße bestimmen kann, und dem Horizont des Einflusses, der mir aus dem Leben zukommt, ein ganz wesentliches Moment. Aus der Durchdringung beider zeichnet sich mein individuelles Schicksal ab –, ein Schicksal, dem ich nicht mehr wie einem Fatum, wie einer Notwendigkeit ausgesetzt bin, sondern das mehr und mehr von einem freien Teil durchzogen ist, der aus dem Bewusstseinshorizont entsteht. Denn in meinem Bewusstseinshorizont sind meiner Initiative keine Grenzen gesetzt, außer denen, die ich selbst setze. Ist das nachvollziehbar?
Berührender Widerstand
e: Es ist sehr nachvollziehbar, weil es auch die Frage der Stimmigkeit anspricht. Das innere Anliegen und das Wahrnehmen des Wirkungsfeldes so zu verbinden, dass Einklang, Stimmigkeit entsteht. Aber ich kann auch wahrnehmen, wo ich wirkend anwesend bin, und dazu gehört auch der Widerspruch, dass mein Wirkungskreis nicht in meiner Hand liegt. Und trotzdem gibt es die Möglichkeit, auf eine stimmige Weise darauf zu antworten. Und das ist eine Frage der Ästhetik: stimmig, authentisch, wahrhaft das zu tun, was angebracht erscheint. Und das obliegt nicht dem eigenen Vermögen, sondern es ist ein Sich-Einlassen auf die Wahrnehmung, was jetzt angebracht ist, um mich einzubringen – mit dem, wie ich die Welt empfinde, dort, wo ich bin.
BvP: Könnte man das, etwas provozierend formuliert, eine neue Form der Militanz nennen? Eine neue Form des Widerstands? Dieser Widerstand ist nicht mehr idealistischer Natur, d. h. ich versuche nicht das durchzusetzen, was in meinen Augen das Bessere ist, das bessere Gesellschaftsmodell, die bessere Kunst, die bessere Wissenschaft; ich lasse mich vielmehr auf eine Wechselseitigkeit ein. Ich lasse mich auf eine Form der Authentizität und Berührbarkeit ein, auf Dialog, auf ein Miteinander, auf Stimmigkeit, auf eine ästhetische Erfahrung, die mich innerlich bewegt, die sich formt und berührt.
Das ist doch bei der Kunst die entscheidende Frage: Was berührt mich? Eine Kunst, die nicht berührt, ist keine Kunst. Diese Berührung kann in der Welt ein Echo, eine Frage, eine Beziehung hervorrufen. Dieser Einfluss mag größer oder kleiner sein.
e: Das ist interessant, dass Sie hier von Militanz sprechen. Mir scheint, es ist eine Militanz der Verletzlichkeit ...
BvP: Ein schöner Ausdruck: Militanz der Verletzlichkeit!
e: ... Wenn ich offen in meinem Wirkungsbereich stehe, so wie ich bin und auch mit den Grenzen meines Wirkens, ist das auch eine innere und äußere radikale Form von Verletzlichkeit, die durchaus auch einer Militanz bedarf, um sie aufrechterhalten zu können.
BvP: Ja, was Militanz jetzt in diesem verwandelten Sinn in einer Gesellschaft bedeuten kann! Kann es sein, dass das Beuys’sche Votum »Zeige deine Wunde« auch damit zu tun hat? Ich habe nie das Gefühl gehabt, das sei irgendwie sentimental gemeint. Mir sagte es, dass ich die Not, die »Wunde« der Welt in mir spüre, sie annehme, und dass sich aus ihr etwas formt – »zeigt«. Dieses Zeigen ist wohl eine Kraft der Verwandlung.
DIE FREIE SCHÖNHEIT DER KULTUR IST EBENSO BERÜHREND WIE DIE NOTWENDIGE SCHÖNHEIT DER NATUR.
Für mein Leben, für die Entwicklung meiner eigenen ästhetischen Erfahrung und auch für die allgemeine Rezeption seiner Kunst war eines von Beuys’ bedeutendsten Werken die Aktion, in der er 1965 einem toten Hasen die Bilder erklärt. In meinen Augen zeigt sich darin so viel Schönheit – der goldene Kopf, dieses goldene Menschenhaupt, und der Hase als das Tier schlechthin in seiner Hilflosigkeit und Verletzlichkeit. Dieses Tier ist tot. Und ihm erklärt Beuys die Bilder. Wir wissen ja genau, tief, ohne jedes Nachdenken, dass das aus zwei Gründen gar nicht geht: Der Hase ist tot und ein Tier kann Bilder nicht verstehen. Wenn aber Beuys dem toten Hasen mit unendlicher Hingabe, Zärtlichkeit, ja andächtig die Bilder erklärt, transzendiert das in meinen Augen die Schönheit und den bis dahin gültigen Begriff von Kunst. In dieser Performance kommt für mich die Militanz der Verletzlichkeit, die wir eben formulierten, berührend zum Ausdruck – und wirkt. Und meine Frage wäre: Können Sie und kann ich dieselbe Authentizität, dieselbe Übereinstimmung mit mir selbst in meiner Ohnmacht gewinnen?
e: Diese Aktion ist schön, aber sie ist auch unerträglich. Auch wenn man es auf Video sieht, löst es eine Betroffenheit und Irritation aus. Ich weiß gar nicht genau, was angesprochen wird, aber es hinterlässt eine Wirkung.
BvP: Eine inspirierende und gesellschaftsverändernde Kraft wohnt dieser Aktion inne. Sie bleibt rätselhaft, ist zugleich stark im Ausdruck, sie weckt in mir den Mut und die Zuversicht, mit Widersprüchen zu leben, nicht gegen sie. Doch, Transformation ist möglich. Diese Aktion lebt aus einer ihr innewohnenden Kraft, kraft des Bildes, aus der Erscheinung, aus dem Schein, der die Welt verändert.
Revolutionäre Ästhetik
Ästhetik als Urteilsbildung über das Schöne antwortet auf die Frage: Was ist schön? In einer erweiterten, »militanten« oder revolutionären Ästhetik, über die wir sprechen, ist die Frage: Was macht einen Gegenstand, einen Vorgang oder ein Wesen schön? Und: Was erscheint Ihnen als schön? Was erscheint Ihnen wahr?
An der Wahrheit kann man es noch deutlicher machen. Wissenschaft fragt: Was ist wahr? Hier gibt es eine Konkurrenz der Wahrheitsannäherung und der wissenschaftlichen Methodologie in den Geistes- und Naturwissenschaften. Es ist die Suche nach dem, was der Wahrheit verifizierbar näherkommt. Vor dem Hintergrund der heute so nötigen Lebens- und Gesellschafts-Transformation würde ich vorschlagen, auch diese Frage zu verändern. Ich würde nicht mehr allein versuchen zu falsifizieren oder zu verifizieren, also zu untersuchen, ob und inwieweit Ihre Wahrheitserkenntnis zutrifft, vielmehr würde ich mich dafür interessieren, wie Ihr Wahrheitsbegriff zustande gekommen ist. Denn dann werde ich nicht nur etwas über die Wahrheit erfahren, sondern zudem viel über Sie – und in beidem etwas, was ich auf keinem anderen Weg kennenlernen kann als durch Sie. Also auch in der Wahrheitsfrage würde ich die Relation in den Vordergrund rücken: Ich interessiere mich für das besondere Verhältnis, das Sie zur Wahrheit hergestellt haben, und beide, Sie und die Wahrheit, werden mir gleichermaßen wichtig.
Oder wenn Sie mich fragen: »Was ist für Sie eine ästhetisch-transformative Kraft?«, dann hören Sie von mir etwas, was Sie von niemand anderem hören können, und ich kann etwas sagen, was ich sonst nie sagen könnte – beide haben wir eine Beziehung zur ästhetisch-transformativen Kraft, sonst würden Sie mich nicht danach fragen, wir haben gemeinsame Referenzen, wie die sozial-ökologische Not unserer Gegenwart oder Schiller oder Beuys.
Aber letztendlich formt sich in Ihnen wie in mir etwas, was einmalig ist – und es wird immer uninteressanter, ob das eine besser, schöner oder wahrer ist als das andere; immer interessanter wird das Ich-Verwandte dessen, was über uns hinausgeht wie das Wahre, das Schöne oder das Gute. Je ichverwandter das über uns Hinausgehende, umso wertvoller – könnte man das sagen? Liegt darin eine neue »Militanz«? Jedenfalls können wir in dieser Militanz ganz anders zusammenfinden, nicht mehr als Konkurrenten, eher als einander Ergänzende. Wer lebt oder wirkt mit wem zusammen? Eine ganz offensichtlich ästhetische Frage. Mit wem tun Sie sich zusammen, um an der Transformation mitzuwirken? Wir wirken jetzt zum Beispiel gerade für einige Augenblicke zusammen.
e: Ich finde es spannend, dass Sie Ästhetik hier auch mit Wahrheit zusammenbringen in der Wahrnehmung: Woher kommt der andere mit seiner Wahrheit? Darin erlebe ich, gerade, wenn unterschiedliche Wahrheiten auftauchen, dass der Gegensatz schmerzhaft wahrnehmbar ist. Wenn wir darin verletzlich anwesend sind, dann verändert sich auch unsere Suche nach Wahrheit. Es transformiert uns. Wir suchen nach Verbindung in dieser schmerzhaften Unterschiedlichkeit von Wahrheit. Und es geht nicht darum, sich dann in einer gemeinsamen Wahrheit zu finden. Das Spannende ist allein, sich dem auszusetzen. Und das ist das Transformierende. Wenn ich mich aber Ihrer Wahrheit so aussetze, dass ich mich von ihr berühren lasse, macht sie etwas mit mir und verändert mich. Und das ist ein dialogischer Prozess, der uns alle, indem wir miteinander in Beziehung sind, verändert. Vielleicht gehört zur Radikalität von Ästhetik auch, sich einander auszusetzen.
BvP: Ja, und die Militanz der Verletzlichkeit ereignet sich im dialogischen Prozess. Das ist vielleicht ihr angemessenster Modus. Damit hätten wir im Grunde eine Formulierung über die transformative Kraft der Ästhetik im Hinblick auf gesellschaftliche Neuordnung, für eine mit- und zwischenmenschliche Ordnung gefunden – Ordnung als Angemessenheit und Hingehörigkeit verstanden.
e: Ich würde es gern mit der Aktion von Beuys mit dem toten Hasen in Beziehung bringen, die Sie angesprochen haben. Sie erzeugt eine Wirkung, die sich nach 55 Jahren immer noch entfaltet. Mit dieser Aktion hat Beuys etwas in die Welt gesetzt. Ähnlich ist es mit seiner Idee der Sozialen Plastik, die zwischen Menschen noch immer ihre Wirkkraft entfaltet. Sie berührt, sie löst etwas aus. Wenn wir diese Ästhetik ernst nehmen und uns aufeinander einlassen, ist etwas zwischen uns lebendig, das eine transformative Kraft hat. Wobei niemand weiß, wo es hingeht.
ÄSTHETIK HAT SEHR VIEL MIT ENTSCHEIDUNG ZU TUN UND UMGEKEHRT.
BvP: Wir wissen nicht, wo es hingeht, aber wir lassen uns ein. Warum lasse ich mich auf das eine ein, auf anderes nicht? Wir entscheiden uns täglich, womit wir uns verbinden und womit nicht. Kann ich das auch als eine ästhetische Entscheidung ansehen? Die Entscheidung, was ich in jedem Moment tue und unterlasse, geschieht zum größten Teil unbewusst, viel halb bewusst, ein wenig nur wirklich bewusst. Und in diesen drei unterschiedlichen Modi zeichnet sich mein transformativer Weg ab, auf dem sich meine Urteilsbildung realisiert und verwandelt. Ästhetik hat in diesem Sinne sehr viel mit Entscheidung zu tun und umgekehrt.
Zusammenklang des Lebendigen
e: Hier habe ich noch eine letzte Frage: Überlasten wir damit die Ästhetik? Es gibt ja auch so etwas wie eine kalte Schönheit. Kommen wir hier mit Ästhetik und Schönheit aus oder braucht es mehr, um auf die Wirklichkeit zu reagieren? Oder muss Ästhetik anders verstanden werden, um sie von einer kalten Schönheit abzugrenzen?
BvP: Indem Sie kalte Schönheit sagen, haben Sie die Sache schon qualifiziert. Und es ist ganz klar, dass wir da nicht leben wollen, sondern wir werden die temperierte Zone suchen, nicht als Mittelmaß oder Kompromiss, sondern als den Ort eigentlicher Schönheit.
Aber natürlich kann man den Begriff der Ästhetik – wie jeden Begriff – auch überlasten. Man kann ihn instrumentalisieren und beugen, damit er zu etwas herhält, was ihm eigentlich nicht eignet. Ich möchte Ihre Frage als Warnung hören. Andererseits geben wir der Wissenschaft in einer bestimmten Prägung heute die Macht, nahezu alles zu bestimmen. Ich möchte das nicht mindern, aber es scheint mir so dringed nötig, ihr die Frage nach einer ästhetischen Erfahrung und Praxis an die Seite zu stellen. Die Suche nach einer Verbindung von Unvereinbarem, die allein ein Ich leisten kann. Sie kann sich in einer dialogischen, sozialen, verwandelnden Bewusstseinstätigkeit entfalten, deren Ziel in erster Linie die Schönheit ist, etwas Zusammenklingendes und Lebendiges.
Ich möchte jetzt nicht durch Ästhetik militant die Welt retten, aber ich möchte dazu beitragen, dass wir die in den Wohlfühl- oder Luxusbereich geschobene Schönheit und Kunst samt den Erfahrungen und Erkenntnissen, die wir aus ihnen gewinnen, in den Bereich rücken, wo sich die großen Herausforderungen unseres Daseins heute tatsächlich abspielen. Ich glaube, dass ästhetische Erfahrung und Praxis uns um eine unendliche Dimension in dem gemeinsamen Suchen danach bereichern, wie wir eine natürliche und soziale Welt menschlicher und lebenswerter gestalten können. Das wird auch unsere Wissenschaftlichkeit, unsere Wahrheitssuche verändern, wenn wir verstehen, wie Ästhetik uns durch die Verbindung und Verwandlung von Gegensätzen in einem verletzlichen, dialogischen Prozess neue Wege in der Gestaltung der Welt zeigen kann.