Gott ist immer
Sheikh Hassan und ein Weg, der nie endet
January 23, 2023
Iya Affo wuchs als »Vanessa mit den Haaren« auf. »Haare definieren dich als schwarze Frau«, erzählt mir Affo. Ich erreiche sie per Videoanruf in ihrem Haus in Gilbert, Arizona. Während unseres Gesprächs erfahre ich, dass sie sich in einer wichtigen Übergangsphase mit Mitte zwanzig den Kopf rasiert hat, doch als ich Affo jetzt treffe, ist sie bereits Großmutter und ihr Haar ist zu einem glänzenden Turm auf dem Kopf drapiert. Die Wärme und Lebendigkeit in ihren Augen, als sie von ihren Haaren erzählt, haben sofort eine wohltuende Wirkung auf mich. Die besondere Art und Weise, in der schwarze Frauen in Amerika aufgrund ihres Aussehens definiert werden – die Länge und Beschaffenheit ihrer Haare, der exakte Farbton ihrer Haut und wie europäisch ihre Gesichtszüge sind – spiegelt das generationenübergreifende Trauma wider, das der Sklavenhandel, auch in Affos eigener Familie, hinterlassen hat.
Affo wurde in Manhattan, New York, geboren und wuchs nach der Trennung ihrer Eltern sowohl dort als auch in Teaneck, New Jersey, auf. In Teaneck lebte Affo mit ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester in einer jüdischen Nachbarschaft. Obwohl die Familie ihrer Mutter von den Westindischen Inseln stammte und über Barbados in die USA kam, hatte die Mutter an der New York University studieren können und dort eine Hochachtung vor den jüdischen Menschen und ihren Traditionen entwickelt. Dies und der multikulturelle Reichtum, der in Teaneck neben der jüdischen Kultur existierte, hatten sie dazu bewogen, mit ihren beiden Kindern dorthin umzuziehen. In dieser Umgebung wurde Affo bewusst, dass sie kaum Bezug zur Geschichte ihrer eigenen Familie hatte. Der krasse Unterschied zwischen ihren eigenen Erfahrungen und denen ihrer jüdischen Freunde beunruhigte Affo schon in jungen Jahren. Da sie so viel Zeit mit ihnen verbrachte, fragte sie sich, warum der Holocaust in deren Familien so präsent war, während das Erbe der Sklaverei in ihrer eigenen Familie so wenig thematisiert wurde. Als sie sah, wie ihre Freunde Bar Mizwa feierten, fragte sie sich: Wo sind die schwarzen Übergangsriten? Nach einer Pause offenbart mir Affo, dass sie die meiste Zeit ihres Lebens deprimiert war. »Wenn ich an meine Kindheit denke, kann ich mich an depressive Stimmungen seit dem zweiten Schuljahr erinnern. Einfach eine überwältigende Traurigkeit und Trauer.«
Dabei war Affo schon immer beliebt. Das Gefühl, auf einen Sockel gehoben zu werden, weil sie hübsch und beliebt war, schöne Sachen hatte oder ein Auto besaß, vermittelte Affo den Eindruck, dass es nicht »sicher war, sich echt zu zeigen«. Sie wollte die Leute nicht enttäuschen. Es sollte noch viele Jahre dauern, bis Affo den Mut fand, anderen ihr wahres Ich mit all seinem Schmerz zu zeigen. Nachdem sie den Rest der High School hinter sich gebracht hatte, zog Affo, die sich unbedingt neu erfinden wollte, noch am Tag ihres Abschlusses nach Maryland um. Dort wollte sie Physiotherapie studieren, um eines Tages die Praxis ihrer Mutter zu übernehmen, in der sie bereits gearbeitet hatte. Stattdessen plagten sie aber Selbstmordgedanken und sie entwickelte eine Essstörung. Sie schaffte es zwar noch, ihren Abschluss zu machen, aber eine von Gewalt geprägte Beziehung trieb sie nach ihrem Abschluss quer durchs Land. Nachdem ihr Freund sie ins Gesicht geschlagen hatte, machte sich endlich Widerstand in Affo bemerkbar: »Das Aussehen war das Einzige, an dem ich noch festgehalten hatte, als meine Essstörung mein Selbstwertgefühl zerstörte. Der eitelste Teil von mir dachte, dass mein Gesicht das Einzige ist, das man nicht zerstören darf, dafür muss ich sorgen.«
¬ EINE BESSERE WELT GRÜNDET AUF DER HEILUNG VON TRAUMATA. ¬
Also zog Affo nach Kalifornien, wo Kickboxen der unerwartete erste Schritt auf ihrem Weg zur Heilung wurde. Frustriert von einer endlosen Gesprächstherapie, fühlte sie sich von der Stille des Kickboxens angezogen. Unerwarteterweise kam endlich Bewegung in ihre Gefühle: Auch nach dem Kickboxen weinte sie oder musste sich übergeben, aber sie fühlte sich danach stark und emotional gefestigt. Bald merkte Affo, dass es nicht ihre Unförmigkeit war, die ihr Unwohlsein verursachte, sondern die Emotionen, die sie durchströmten, wenn sie ihren Körper bewegte. Dies machte ihr Hoffnung und es folgten kurze, lang ersehnte Erfahrungen des Normalseins, aber erst die Geburt ihres Sohnes, als Affo 22 Jahre alt war, änderte schließlich den Verlauf ihres Lebens grundlegend.
Zu dieser Zeit hatte Affos Mutter damit begonnen, Heilarbeit zu leisten und zu meditieren. Sie hatte ihre familiären Wurzeln bis in die Republik Benin in Westafrika zurückverfolgt, und als Affo schwanger wurde, riet ihre Mutter ihr, dorthin zu gehen, um den Schmerz ihrer Familie zu verstehen. »Jeder Mann in unserer Familie ist irgendwann ganz unten gelandet«, erklärt Affo, »und meine Mutter wusste, dass etwas geschehen musste, um zu verhindern, dass sich das auf meinen Sohn auswirkt.« Affo konnte dies sofort nachvollziehen und reiste nach der Geburt ihres Sohnes mit ihrer Mutter in die Republik Benin.
Dort vertiefte sie sich in die traditionelle Religion ihrer Vorfahren, die Vodoun oder Yoruba genannt wird. Dieser Tradition folgend, suchte sie zuerst einen Priester auf. »Die Priester sind die Boten, die dir sagen, wer du bist«, erklärt sie mir. »Sie sagen dir, was dein Schicksal ist und welche Hindernisse du zu überwinden hast.« In diesem Moment erhielt Iya Affo einen neuen Namen: Wekenon, was so viel bedeutet wie »Mutter des Universums«. In ihrer Tradition werden Babys nach ihrem Schicksal benannt; ohne einen solchen Namen »ist es, als ob man ein Blindgänger wäre. Der Name ist der Nordstern, der dich auf deinen Weg zurückbringt, zurück zu dir selbst.« Affos neuer Name enthielt den Hinweis auf die ihr vorbestimmte Arbeit, den Westen mit der indigenen Kultur zu verbinden. Ihr Schwerpunkt verlagerte sich weg von der westlichen Medizin hin zur Heilung. Rituale und Zeremonien oder auch Übergangsriten wie Namensgebungszeremonien, Zeremonien für Männer und Frauen und Hochzeitszeremonien wurden zu einem festen Bestandteil im Leben von Affo und ihren Kindern, um sie bei Entscheidungen und in herausfordernden Lebenssituationen zu unterstützen.
Affos Weg und ihr Bemühen, westliche und indigene Ansätze zur Unterstützung von Heilung zu vereinen, führten sie zu ihrem neuen Schwerpunkt als Trauma-Spezialistin. Indem sie sich bei Trauma-Experten wie Gabor Maté und Bruce Perry ausbilden ließ, erforschte Affo die Auswirkungen historischer und generationenübergreifender Traumata auf die Menschen und die Frage, wie die Kultur Verhaltensweisen beeinflusst. Auf diesem Weg entdeckte sie auch die Grundlagen für ihre eigene Heilung. »Wir haben nicht deshalb Probleme, weil wir mit Widrigkeiten konfrontiert sind (das werden wir immer)«, erklärt sie mir, »sondern weil sich unser Nervensystem ständig in höchster Alarmbereitschaft befindet.« Während Tätigkeiten wie das Waschen der Wäsche mit der Hand oder das Laufen zum Wasserholen einen Rhythmus und eine Körperlichkeit in das Leben unserer Vorfahren brachten, bietet das moderne Leben unseren Nervensystemen wenig Gelegenheit zur Entspannung.
Indem sie Wege fand, das Wissen über das Nervensystem zu nutzen, um ihr Denken, ihre Beziehungen und ihre Emotionen zu steuern, hat sie nicht nur ihr eigenes Leben verändert, sondern auch das Leben all derer, die sie in dieser Arbeit ausgebildet hat. Die Anwen-dung ihres Wissens über das Nervensystem hat es Affo ermöglicht, Wege zur Regulierung eigener Traumata zu finden und zu heilen. Heute arbeitet sie in der Ausbildung von Ausbildern. In Polizeidienststellen ebenso wie in Krankenhäusern erfüllt Iya Affo weiterhin ihre Bestimmung als Brückenbauerin, indem sie auf einer Ebene agiert, die über die persönliche Beziehung hinausgeht, und darauf vertraut, dass diese Arbeit ihre Kreise ziehen wird. »Eine bessere Welt«, sagt sie, während wir uns verabschieden, »gründet auf der Heilung von Traumata. Wahre Spiritualität bedeutet Heilung. Anstelle von Traumata können wir Resilienz und Güte weitergeben, und wir können dies tun, indem wir moderne neurobiologische Erkenntnisse anwenden.« Sie lächelt, und ich spüre, wie ich mich entspanne. »Wir können der nächsten Generation helfen, Identität und Frieden zu finden und sich frei zu fühlen, ihr ganzes Potenzial auszuschöpfen.«