In welchen wollen wir leben?
Mythen – sie erinnern uns an unsere mythische Vergangenheit, an rückwärtsgewandte und verklärte Bilder. Unsere aufgeklärten
Zeiten haben sich von den Mythen losgesagt. Aber vielleicht ist selbst das ein Mythos. Dinge, die man verdrängt, kommen oft gerade in
Krisenzeiten in verzerrter Form zurück. Das hat uns auch die Corona-Pandemie gezeigt. Mit neuer Kraft sprießen gerade überall seltsame Mythen hervor. Vielleicht sind Mythen, diese sinngebenden Geschichten und Bilder, in denen wir leben, ein wesentlicher Bestandteil unserer menschlichen Kultur. Was wäre, wenn wir beginnen, sie gemeinsam bewusst zu gestalten?
Mythen begleiten uns seit dem Beginn der Menschheit und haben sich im Laufe der Geschichte ständig gewandelt. Und damit auch wir selbst und unsere Gesellschaften. In welchem Mythos leben wir heute? Und brauchen wir neue Mythen, um mit den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft angemessen umgehen zu können?
Am 22. Juni 2020, dem Jahrestag des deutschen Überfalls auf Russland, wurde an den Stadtgrenzen Moskaus eine neue russisch-orthodoxe Kathedrale eingeweiht, die Kathedrale der russischen Armee mit dem Namen Auferstehungskathedrale Christi. Sie wurde genau an dem Ort errichtet, an dem es der sowjetischen Armee 1941 gelang, Hitlers Panzer zum Rückzug zu zwingen.
Die Symbolik der Kathedrale steckt in jedem Detail: Die Form ihrer Kuppel ist der Krone von Alexander Newski nachempfunden, dem russischen Nationalheiligen und Kriegshelden des 13. Jahrhunderts. Ihr Durchmesser beträgt 19,45 Meter – die Zahl entspricht damit dem Jahr des sowjetischen Sieges. Die 14,18 Meter der kleineren Kuppel entsprechen den 1418 Tagen des Zweiten Weltkriegs. Im Fußboden der Kathedrale wurde das Metall deutscher Panzer, Feldhaubitzen und Medaillen eingeschmolzen. Große Wandmosaike mit Szenen aus der Heiligen Schrift stehen neben Schlachtszenen aus dem Weltkrieg. Heilige stehen neben Kriegshelden. In dieser neu errichteten Kathedrale wird das russische Volk mit seinen Streitkräften selbst zum christlichen Erlöser der Welt. Die russische Geschichte mit dem Höhepunkt des Zweiten Weltkrieges wird zu einem Akt von Tod und Auferstehung des wahren Christentums.
EIN EIGENTÜMLICH HEFTIGER MYTHISCHER ZEITGEIST GEHT UM.
Vergleichen wir diesen Akt der bewussten staatlichen Mythenbildung mit der Stürmung des Kapitols in Washington am 6. Januar dieses Jahres. Auch das war ein Kampf zwischen Gut und Böse. Die Anhänger der QAnon-Verschwörungsmythen kämpften dort gegen satanische Hollywood-Eliten, die »Kinder foltern und ermorden«. Es war ein Kampf zwischen Freiheit und Tyrannei, zwischen Trump-Wahrheit und den Fake-News einer verlorenen Präsidentenwahl. Mit Pfefferspray bewaffnete, fahnenschwenkende »Patrioten« durchbrachen gewaltsam die Polizeilinien, um dem Guten zum Durchbruch zu verhelfen. Mittendrin und scheinbar überall stand dieser junge QAnon-Schamane mit seinem Büffelkopfschmuck, der die anwesenden Aufständischen im großen Sitzungssaal des US-Kongresses zum Gebet für Trump aufrief.
Ein eigentümlich heftiger mythischer Zeitgeist geht um. Ob als Staatsakt eines autoritären Regimes oder in einem Aufstand amerikanischer Wutbürger, wir erleben einen Drang zu drastischen Narrativen, um der Komplexität einer Zeit, die irgendwie zwischen zwei Welten steht, eine innere Ordnung zu geben. Das Narrativ der westlichen Welt, ihre Geschichte aus Freiheit und demokratischem Fortschritt, zerfranst und wir wissen nicht, was kommt. Globale Herausforderungen wie die Überdominanz der Finanzwirtschaft und der großen digitalen Unternehmen und die neue Dynamik der sozialen Medien fördern eine neue Blüte des mythischen Denkens. Die enorme Popularität der Schauermärchen von QAnon zeigt, welche Kraft gerade in diesen Zeiten von fesselnden Mythen ausgeht. Vielleicht kehrt in diesen Exzessen etwas Verdrängtes zurück, die Karikatur von etwas, das wir verloren haben. Die westliche Aufklärung meinte ja, den Mythos als Aberglauben auf den Müllhaufen der Geschichte werfen zu können. Vielleicht haben wir etwas Wesentliches über die Mythen übersehen.
Eine kleine Geschichte des Mythos
Die Mythen haben uns überhaupt erst zu Menschen gemacht. Sie haben uns neue Augen gegeben. Stellen Sie sich vor, wir würden, so wie unsere Vorfahren vor ungefähr 300.000 Jahren, langsam die Welt der Sprache entdecken. Eindrücke wie ein Bär, ein Wisent oder der Mond am nächtlichen Sternenhimmel sind Bilder, die nicht mehr nur flüchtig kommen und gehen. Es sind Bilder, die wir in Zeichen und Symbolen halten können. Nicht nur halten, durch Nennung können wir sie aus dem Nichts in unser gemeinsames Bewusstsein bringen. Wir können diese Bilder durch bedeutsame Geschichten miteinander in Beziehung setzen. Dieses langsam wachsende Gewebe der Geschichten, das unsere Vorfahren begannen miteinander zu knüpfen und einander zu erzählen, schuf in unseren Schöpfungsmythen, Ahnengeschichten und in der »Erzählung vom Großen Bären« ein Universum voller Sinn und Bedeutung. Der Bär als unser Totem wurde zur Quelle unserer Kraft.
Das ist der Beginn von Sinn und Bedeutung, der Beginn der Kultur. Wir begannen nicht nur in Eindrücken und Instinkten, sondern in gemeinsamen Bildern und Mythen zu leben. Diese Bilderwelten sind selbst lebendig. Sie leben und verwandeln sich im Laufe der Zeit. Der Große Bär trat zurück hinter der Großen Mutter. Irgendwann begannen wir uns am Großen Vater zu orientieren, dem Schöpfergott, der alles erschaffen hat. Mit dem Aufstieg der Wissenschaft wurde dieser Gott wiederum zum großen Uhrmacher. Beginnend im 19. Jahrhundert verlor dieses Uhrwerk seinen Gott und ist heute als technische Welt fast zu seinem Ersatz geworden. Seit Menschengedenken leben wir in der Entfaltung dieser Geschichten. Von der Kraft des Bären, dem Schutz der Großen Mutter bis zu der Ordnung eines Universums, das die Gestalt einer großen Maschine annimmt. Diese Geschichten waren immer das mythische Fundament unserer Welt.
DIE MYTHEN HABEN UNS ÜBERHAUPT ERST ZU MENSCHEN GEMACHT.
Und immer wieder haben große Kulturschaffende neue wirkmächtige Bilderwelten in diesen Prozess mit eingebracht. Was machte das Christentum in der Spätantike so erfolgreich? Einer der Gründe war sicher, dass es mit der Brüder- und Schwesterlichkeit aller Menschen und mit der Vergebung von Sünde und Schuld einen Mythos anzubieten hatte, der eine erfolgreiche Antwort auf die Herausforderungen und Widersprüche der alten hellenistisch-römischen Welt bot.
Die griechisch-römische Götterwelt war über die Jahrhunderte zu einer großen Patchwork-Familie geworden. Vergleichbar mit unserer heutigen Globalisierung wurde es immer schwieriger, lokale Traditionen in einer großen, universalen Welt zu vereinen. Was mit den alten Göttern Homers angefangen hatte, wurde immer wieder angepasst. Die Römer haben die griechischen Götter sozusagen adaptiert und ihre alte lateinische Götterwelt mit den griechischen Göttern vermählt. Zeus wurde Jupiter. Aphrodite wurde Venus. Nach dem gleichen Modell bauten sie die verschiedenen lokalen und regionalen Gottheiten ihrer unterworfenen Stämme und Kulturen in ihren römischen Olymp ein.
Und es gab noch einen anderen inneren Widerspruch in der hellenistisch-römischen Welt. Die Eliten hatten seit dem Beginn der griechischen Philosophie ihre eigene von Plato, Aristoteles, Epikur und den Stoikern geprägte philosophische Weltanschauung, die mit der römischen Volksreligion oft nur die Hülle gemein hatte. In dieser immer brüchiger werdenden Welt hielt das neue Christentum ein besonderes Angebot bereit: einen einheitlichen universellen Gott, der all die komplizierten Beziehungen zwischen den verschiedenen Göttern des Imperiums hinter sich ließ. Es war eine mythische Geschichte, welche die neuplatonische Philosophie der Eliten mit einem neuen Volksglauben und Mysterienkult für die breiten Schichten der Bevölkerung zusammenbrachte. Über 1.000 Jahre lang bis zum Beginn der Neuzeit um 1500 gelang es dem Christentum, alle Schichten der Gesellschaft in einem tragenden Mythos zu vereinigen.
Auch andere Weltkulturen sind durch eine vergleichbare Bewegung gegangen. Sie brachen veraltete mythische Zusammenhänge auf und fügten sie neu zusammen. Buddha Gautama hat die alte vedische Opferkultur Indiens mit seinem philosophisch-meditativen Befreiungsweg aufgebrochen und sie von überbordenden brahmanischen Ritualen befreit. Ähnlich dem Christentum hat der Buddhisms die alten Götter einmal hinter sich gelassen und einen neuen Mythos der Befreiung in die Welt gesetzt. In den weiteren Entwicklungen des Mahayana- und des Vajrayana-Buddhismus verbanden sich dann die alten Götterwelten auf neue Weise wieder mit Buddhas Lehre, ähnlich wie es die katholische Kirche auch mit ihrer Heiligenverehrung tat. Es entstand ein Buddhismus, der sowohl zur Volkskultur als auch zur philosophischen und spirituellen Quelle der Bildungseliten Asiens wurde.
Das soziale Imaginäre
In allen Weltkulturen entstand dieser Lebensbaum der sich entfaltenden und ewig verwandelnden Mythen. Alle unsere Kulturen stehen auf dem Boden dieser Geschichten und Bilder. Auch unsere moderne Welt wird im Innersten von diesen Mythen getragen. Die Soziologie nennt diese Fundamente der Kulturen auch das soziale Imaginäre. Das soziale Imaginäre sind nicht unsere Weltbilder, sondern der tragende Boden, auf dem diese stehen. Oft sehen wir sie nicht, so wie wir die Erde nicht wahrnehmen, auf der wir stehen, oder auch wie wir die Brille nicht sehen, die wir auf der Nase haben. Aber die Geschichten und Bilder des sozialen Imaginären formen unsere Wahrnehmung der Welt.
Oft erkennen wir sie erst in der Abgrenzung zu vergangenen Mythen. Erst wenn wir aus einer Welt herausgetreten sind, sehen wir, was uns vorher selbstverständlich war. Für die mittelalterlichen Mönche waren die alten heidnischen Götter nicht mehr die Vermittler und Träger der Wirklichkeit. Ihre neue christliche Welt war eine andere. Augustinus schilderte sie einprägsam in seinen »Bekenntnissen«. Die Christen erfuhren sich in einer persönlichen Beziehung zu einem geistigen, transzendenten absoluten Du, das unsere materielle Welt aus geistigen Prinzipien geschaffen hat und uns aufruft, uns als geistige Wesen mit ihm zu verbinden. Mit dieser neuen Umgebung wurden die alten Götter fremd. Sie verwandelten sich zu Dämonen, die versuchen, uns an die materielle, diesseitige Welt zu binden. So schuf sich die mittelalterliche Welt einen neuen mythischen Boden, ein neues soziales Imaginäres. Auf diesem Boden entstanden gotische Kathedralen, die sich in den Himmel streckten. Auf diesem Boden fügte sich die neue Welt in die eine heilige, transzendente Ordnung.
Nach gut 1.000 Jahren zeigten sich aber auch die Grenzen und Widersprüche der christlichen Welt. Es wurde immer schwieriger, den kritisch-rationalen Geist, der in Griechenland bereits eine große Blüte hinter sich hatte, auf die Seite zu drängen. Thomas von Aquin, der große Philosoph der Scholastik, versuchte im 13. Jahrhundert noch einmal eine Synthese von Theologie und Philosophie, aber er konnte die neuen Risse in der »christlichen Kathedrale« nicht zum Verschwinden bringen. Mit der beginnenden Neuzeit entstand das Bedürfnis nach neuen Mythen. In ihnen standen die freien Individuen im Mittelpunkt, die sich als Staatbürger zusammentaten, die als Einzelne miteinander Geschäfte führten und als Forschende Wissenschaft betrieben. Es entsteht der Mythos der Moderne.
Mythos und Symbole
Die Moderne ist der Beginn der Wissenschaft als Methode. Das Experiment und die Berechenbarkeit wurden zum Herzstück einer neuen universellen Erzählung. Sie wandte sich gegen alles Mythische und übersah dabei, dass sie selbst ein Mythos war, der Heldenmythos des Verstandes. Aber was verlieren wir, wenn der kalkulierende Verstand zum alleinigen Helden wird? Mythische Bilder können etwas, was dem analytischen Verstand verschlossen bleibt. Das bildhafte Denken umfasst Tiefen und Nuancen unserer Wahrnehmung, die sich der Berechnung verschließen. Es zeigt Ganzheiten, die nur als Bild sichtbar werden.
Der Theologe Paul Tillich entwickelte dazu eine umfangreiche Theorie über die Bedeutung der Symbole in der menschlichen Kultur. Symbole sind Tore zu den tieferen Schichten unseres Menschseins. In den Symbolen werden die »Tiefendimensionen des Lebens« sichtbar. Vielleicht verändert es auch unser Verständnis der Religionen, wenn wir sie als organisch gewachsene Symbolsprachen für jene Dimension des Lebens verstehen, in der wir sowohl das Geheimnis als auch den Sinn des Lebens empfinden. C. G. Jung versuchte mit seiner Archetypenlehre diese Symbolwelt psychologisch zu deuten.
In Wirklichkeit konnten wir uns nie von den Mythen und ihren Symbolen befreien. Selbst unsere eigenenen Familien- und Lebensgeschichten erleben wir als zutiefst mythologisch. Wir können so tun, als wäre unser Leben und Umfeld belangslos, als würde es ausreichen, es wissenschaftlich zu deuten. Aber wir entkommen der Tatsache nicht, dass wir dem Leben zutiefst Bedeutung geben und dass diese Bedeutung in Bildern, Narrativen und Mythen zu uns spricht. Selbst die Worte Tod und Leben besitzen eine mythische Kraft. Es gibt Dinge und Menschen, die wir vergöttern. Es gibt Umstände, die wir verdammen. Es gibt Augenblicke, die uns erlösen oder uns ins Unglück stürzen. Das Leben ist keine wissenschaftliche Abhandlung. Es zeigt sich erst wirklich in den mythischen Bildern, in denen es zu uns spricht.
Aber nicht nur unser eigenes Leben, sondern auch unsere Gesellschaften formen sich in mythischen Bildern. Natürlich öffnet das auch alle Tore zum Klischee und zum Selbstbetrug. Die amerikanische Story mit ihren Mythen von Freiheit und Individualität ist oft leer und ein Selbstbetrug. Die deutsche Erzählung mit ihrer ganzen Romantik hat in der Geschichte schon fürchterliche Abgründe aufgetan. Die »russische Seele« wird gerade jetzt wieder Teil eines politischen Machtkalküls. Auch unsere postmodernen Storys von unbändiger persönlicher Freiheit und Beliebigkeit sind Mythen, deren Schattenseiten wir gerade sehen.
Und trotzdem liegt in all dem auch Wahrheit. In all diesen Mythen und Bildern zeigt sich, wenn sie nicht zum Klischee oder zur Lüge erstarren, eine vielfältige Landschaft, in der wir als Menschen im Leben und in unseren jeweils besonderen Geschichten Sinn erfahren.
Ein neuer Mythos
Brauchen wir keine Mythen mehr, die unsere Gesellschaft zusammenhalten? Wir alle haben vielleicht unsere persönlichen kleinen Mythen, die uns lieb und teuer sind. Als Gesellschaft haben wir sie verloren. Wir glauben nicht einmal mehr an die Wissenschaft. Die »postfaktische« Welt, die wir gerade erleben, zeigt sich unter anderem am Phänomen Trump. Wenn bei fast der Hälfte einer Bevölkerung demokratische Wahlen als gestohlen gelten, obwohl alle Fakten dagegensprechen, dann spielen Fakten keine Rolle mehr. Was zählt, ist der Markt der Meinungen.
Aber als Menschen leben wir immer in einer Geschichte. In welcher Geschichte leben wir also dann? Was uns heute bleibt, ist die Geschichte, die uns erzählt, dass es keinen Sinn mehr gibt, dass nichts heilig ist. Was bleibt, ist die Geschichte der Sinnlosigkeit. Vielleicht ist das ja der große Mythos unserer Zeit.
Aber wenn wir wirklich an diesem Nullpunkt angekommen sind, dann eröffnet sich hier nicht nur ein Abgrund, sondern auch eine große Möglichkeit. Wenn wir sehen, dass die alten Mythen – auch der Mythos der Moderne – in ihrer Form nicht mehr halten, aber gleichzeitig auch sehen, dass wir als Menschen immer in Mythen leben, dann bleibt uns gar nichts anderes übrig, als uns darüber zu verständigen, in welchen Mythen wir leben wollen. Vielleicht ist das die Geburt eines neuen Mythos, des Mythos unserer bewussten Verständigung. Dieser sich entfaltende Verständigungsprozess über den Sinn des Lebens, den wir, oft unbewusst, über die Jahrtausende mit einander betreiben – von unserer Beziehung zum Großen Bären, über die Große Mutter, die Götter, die Erkenntnisse der Philosophie, der Mystik und der Wissenschaft bis zur heutigen Technologie –, wird so selbst zur Geschichte vom Heiligen Gral.