By clicking “Accept All Cookies”, you agree to the storing of cookies on your device to enhance site navigation, analyze site usage, and assist in our marketing efforts. View our Privacy Policy for more information.
Die Vielzahl der Krisen, in denen wir uns befinden, ist allgegenwärtig und fordert uns zum schnellen Handeln auf. Aber aus welcher Vorstellung über eine zukünftige, lebenswerte Welt kommt dieses Handeln? Wir haben vier Menschen, die sich mit der Relevanz unserer Imagination beschäftigen, gefragt:
Welche Rolle spielt unsere Vorstellungskraft bei der Lösung der Krisen unserer Zeit?
Im Deutschen übersetzen wir Imagination häufig mit »Vorstellungskraft«, was die Sache sehr gut bezeichnet. Denn im Tiefsten benötigt die Imagination eine innere Kraft, um etwas geistig »vor uns hinzustellen«. Sie fliegt uns in der Regel nicht so einfach zu, sondern es bedarf einer gewissen inneren Spannung, um sie in uns zu erzeugen.
Dabei ist es interessant zu beobachten, dass Imaginationen besonders in Gesprächen wachgerufen werden, in denen die Teilnehmenden ganz »bei der Sache« sind und sich ihr nicht nur intellektuell-analytisch, sondern vor allem auch bildhafthingeben. In solchen Fällen ergänzen und dynamisieren sich die Vorstellungskräfte der Beteiligten gegenseitig, und im besten Fall kann aus den Facetten der unterschiedlichen Vorstellungskräfte eine reiche und inspirierende Imagination entstehen. So gesehen wäre Imagination nicht das, was das Bild des einsamen Genius suggeriert, der das Werk aus sich heraus schafft, sondern ein inspiriertes gemeinsames Denken, das gerade mit und durch den Austausch mit anderen lebt .
Das heißt allerdings nicht, dass dieser Austausch mit anderen nicht auch in Einsamkeit geschehen könnte. Denn jede Form des kreativen Arbeitens ist auch ein inneres Gespräch und die Vorstellung oder eine Hereinnahme dieses Austauschs mit anderen in den intimen und geschützten Raum der Fantasie.
Die Vorstellungskraft als geistiges Erbe ist bereits in der Kindheit der Dreh- und Angelpunkt des Lernens und Entdeckens der Welt und des Selbst; Prägungen in Erziehung und Bildung hinterlassen immer wieder ihre empfindlichen Spuren in unserer individuellen Art und Weise, eigene Vorstellungen zu bilden.
Wir denken mit Bildern, und diese wirken sich unmittelbar auf unser Sein aus, ist doch die Vorstellungskraft die elementare Verbindung zwischen innen und außen, womit ihre prinzipielle »Störanfälligkeit« für Manipulationen gegeben ist.
Werden Angstbilder transportiert und besetzen unsere Aufmerksamkeit – wie momentan in den Medien überall zu beobachten – können höhere Seelenbereiche im Menschen für ein aufbauendes imaginatives Denken kaum verwendet werden. Dann schaltet sich das Prinzip »Flucht, Angriff oder Erstarrung« ein und Konkurrenz, Kampf und Trauma prägen unsere Vorstellungsbilder von der Zukunft.
Wir können jedoch bewusst aus den Bildern aussteigen und von außen darauf schauen. Wir können der Idee erlebend gegenüberstehen und spüren, welche Resonanz sie in uns findet, welche innere Haltung. Das bedeutet, sich seiner Verantwortung im Denken bewusst zu werden und zu erleben, wie wir durch unsere inneren Bilder individuelle und gesellschaftliche Realitäten schaffen.
Sich darüber in einer gegenseitigen Kultur der Achtsamkeit auseinanderzusetzen, wird eine Zukunft kreativer Zusammenarbeit ermöglichen und neue, spielerische Fähigkeiten im Umgang mit gesellschaftlichen Herausforderungen ins Feld bringen.
Die Frage ist: welche Vorstellungskraft?
Manchmal entspringt das, was man Imagination nennt, dem Rühren im Kessel der eigenen Erfahrungen. In diesem Fall sind die Erkenntnisse, die dabei zutage treten, tief in bestehende Erkenntnisweisen, Wahrnehmungsgewohnheiten und Erwartungen eingewoben, die von den mechanistischen Industriemetaphern der letzten paar hundert Jahre geprägt sind. Diese Art von »Arbeit« mit der Imagination wird keinen systemischen Wandel bewirken. Im Gegenteil, sie wird nur neue Versionen der gleichen Rechtfertigungen und Muster hervorbringen … sie wird die gleichen alten Systeme aufrechterhalten.
Aber hin und wieder erscheint eine andere Art von Vorstellungskraft aus einer Welt der Symbiose. Diese Vorstellungskraft entspringt der Art und Weise, wie wir alle als Lebensformen die Enkel von Millionen von Organismen sind, die über Jahrtausende hinweg zusammengewachsen sind – es ist das Leben selbst, das schafft. Diese Art der Vorstellungskraft geht von der Fortsetzung des Lebens aus, nicht von der Fortsetzung »unseres« Lebens in der Welt, wie wir sie kennen. Die Ergebnisse, die aus dieser Art von Vorstellungskraft hervorgehen, sind höchstwahrscheinlich inkohärent, irrational, ungewohnt, ungeschrieben, unvorhersehbar, unpraktisch, unerkennbar – aber das ist der Stoff, aus dem tiefgreifende Veränderungen entstehen werden.
Eine ganz entscheidende, die aber auch selbst »evolvieren« muss. Es geht im Zeitalter von Bilderflut und Fake News mehr denn je darum, eine präzise Vorstellungs- und auch Einbildungskraft zu entwickeln, und das wird immer mehr zur Voraussetzung von Gestaltung.
Die zentrale Bedeutung der Schulung der Vorstellungskraft hat auch die UNESCO, die Welt-Bildungs-, -Kultur- und -Wissenschaftseinrichtung, als die große Zeitaufgabe erkannt. Sie hat dazu den Ansatz der »Zukünftebildung« (Futures Literacy) entwickelt. Grundidee der Zukünftebildung ist, dass es nicht eine Zukunft, sondern viele Zukünfte gibt. Diese vielen Zukünfte existieren gleichzeitig nebeneinander und bewegen sich miteinander in einem dauernden Wechselspiel. Die eigene Vorstellungskraft ist dabei Grundfähigkeit für eine nachhaltige Entwicklung unserer Zukunft.
Die UNESCO-Zukünftebildung besteht in der Organisation gemeinsamer Zukunftsdialoge zwischen Menschen aller Altersstufen, Berufsgruppen und Geschlechter sowie sozialer und kultureller Zugehörigkeit. Diese soll in Schulen, an Universitäten und in der Zivilgesellschaft neue Möglichkeiten der Teilhabe an möglichen Zukünften eröffnen – und dadurch diese Zukünfte als gemeinsames und offenes Gesellschaftsprojekt entstehen und reifen lassen. Der Plural ist bewusst gewählt. Denn im gemeinsamen Nachdenken über »Zukunft« ist es nicht eine, sondern sind es viele mögliche Zukünfte, die sich eröffnen. Politik, Entscheidungstragende, Bürgerinnen und Bürger können dadurch gleichermaßen zur Gestaltung inspiriert werden.
Mit der UNESCO-Zukünftebildung wird die Nutzung der Vorstellungskraft für mögliche Zukünfte im Idealfall auf eine neue Stufe gehoben. Das stärkt die Widerstands- und Selbsterneuerungsfähigkeit von Menschen und Organisationen – sowohl für Wohlstands- als auch für Krisenzeiten. Vor allem aber lässt es eine Vielfalt von Ideen sprießen, macht Vorstellungen klarer, gleicht unterschiedliche Erwartungen, Hoffnungen und Sorgen einander an und ist ein Projekt der Freude im Menschheitsgeist der UNESCO. Zukunft wird hier nicht als Ort oder Raum, sondern als menschliche Fähigkeit verstanden. Sie ist nicht weit entfernt, sondern hier und jetzt, zwischen und in den Menschen. Und die Imagination ist der entscheidende Zugang dazu.
Author:
Wolfgang Zumdick
Author:
Sabine Wettig
Author:
Nora Bateson
Share this article:
Related Articles:
Telling a New Story:
How do we find our way into a new history, a new connected and appreciative relationship with the earth and with each other? Elizabeth Debold is sure that this path will not be possible without a radical transformation of our gender identities. This is the only way to open the view for a co-creative and life-promoting togetherness.
Lee Mingwei designs experiential spaces in the museum in which the human encounter is central. He asks people to bring their favorite things to the museum and to share the stories behind them, he invites visitors to mend clothes with him, or spend a night with him in the museum. What inspires him is the unpredictable moment of encounter, of exchange, giving, and the ritual deepening of everyday situations. We spoke to the artist, who recently had an exhibition at Berlin's Gropius Bau designed under exceptional conditions.
Claude Alvares lives in Goa, India, where he and his wife, Norma, are local heroes for protecting the coast that so many Westerners visit for its beauty. We wanted to speak to Claude to get an outside perspective on the existential struggle that seems to plague the West. Could someone who had seen the effects of colonialism on his own culture offer any insights on the source of the West’s crisis about meaning?