Eine unterschätzte Fähigkeit
Wir leben in unserer Vorstellungskraft, aber wir kultivieren sie nicht. Die Wissenschaft hat uns auch gelehrt, ihr zu misstrauen, denn die Vorstellung liefert keine Fakten. Was braucht es, um ihr vielleicht wieder zu vertrauen?
Der Rorschachtest ist eine wunderbare Sache: Ein paar Farbkleckse und ein offener Blick verbinden sich zu einem Universum, in dem eine neue Wirklichkeit sichtbar wird. Es zeigen sich Bilder, die oft von tiefer Bedeutung sind, seelische Welten, an die man sonst nicht denkt. Diese Bilder und Einsichten warten dicht unter der Oberfläche unseres Alltagsbewusstseins auf uns. Einige Farbkleckse machen sie sichtbar. Ähnliches gilt auch für alte Kulturtechniken wie das Kaffeesatz-Lesen. Wir können darüber lächeln, aber es gab in der Geschichte immer wieder Menschen, ja Kulturen, die davon überzeugt waren, dass wir mit Imaginationstechniken tiefe Einsichten in das Leben finden, die sich uns sonst nicht zeigen. Mit ihnen weicht unser gewohnter Blick auf die Welt manchmal einer neuen Einsicht. Hier wurden schon Welten geboren – einfach, weil sich Bilder in uns formen.
Vor einigen Monaten hatte ich in einem Imaginations-Workshop meiner Freundin Phoebe Tickell, sie nennt diese Arbeit »Moral Imaginations«, eine Begegnung mit einem Menschen der Zukunft. Genauer gesagt war sie eine Frau und sie kam aus der siebten Generation nach uns. Phoebe hatte uns in einer Partnerübung zusammengeführt. So saß ich mit jemandem zusammen, die unsere Klimakatastrophe aus den Geschichtsbüchern kennt. Ihre Vorfahren hatten die Katastrophen unserer Zeit überlebt. Unser Gespräch, halb in einem Workshop, halb in meiner Vorstellung, hat etwas in mir verändert. Es befreite etwas in meinem Herzen, mit jemandem sprechen zu können, die all unsere Katastrophen bereits aus der Zukunft sehen kann, aus einer mir unbekannten Zeit »danach«. Meine Partnerin stellte mir in dieser Übungssituation Fragen – warum wir in unserer Generation nicht konsequenter auf das Offensichtliche der Klimakatastrophe reagiert haben, aber auch: was uns die Kraft gegeben hat, nicht aufzugeben. Beide Fragen, von jemandem aus dieser anderen Zeit gestellt, haben mich im Herzen getroffen. Sie öffneten mich in einer sehr überraschenden Weise. Meine Vorstellungskraft brachte mich mit einer Wirklichkeit in Verbindung, die ich vorher nicht gesehen und auch nicht empfunden hatte.
Die Kraft der Imagination und warum sie heute so oft fehlt
Imaginationsübungen wie diese sprengen manchmal unsere gewohnten Sichtweisen. Wenn wir dem Aufmerksamkeit schenken, was in uns lebendig wird, wenn wir einen Tintenklecks oder auch den Kaffeesatz einfach mit etwas Zeit und Ruhe wahrnehmen, dann begegnen wir überraschenden inneren Bildern. Die Bilderwelten, aus denen unser Bewusstsein ja zu einem guten Teil besteht, werden in diesen Übungen ein wenig »wahrnehmbar«. Das sind keine abgestorbenen oder statischen Bilder. Sie sind lebendig. Sie verbinden sich. Wenn wir ihnen genug Freiraum geben, wachsen sie zu weiteren, miteinander verbundenen und kommunizierenden Einsichten und Wirklichkeiten. Und das ist auch gemeinsam mit anderen Menschen möglich. Haben Sie schon einmal mit jemandem zusammen den Kaffeesatz eines türkischen Kaffees gelesen? Im Gespräch verbinden sich Wahrnehmungen zweier Menschen. Sie treffen sich, reiben sich und gestalten eine gemeinsame, komplexe Geschichte, die, öfter als man denkt, tief und bedeutsam ist. Unsere Vorstellungskraft bildet sich, wenn wir ihr den Raum und die Fürsorge geben, andauernd in uns zu einem lebendigen und kreativen Teil unseres Selbst beizutragen.
In früheren Kulturepochen war das ein selbstverständlicher Teil unseres Lebens, allerdings waren wir uns damals dieses kreativen Ortes in uns nicht wirklich bewusst – nicht als einer kreativen Kraft, die wir selbst besitzen. Unsere Vorfahren haben in diesen Bildern einfach gelebt. Es waren ihre Mythen, und sie dachten, sie wären gottgegeben. Diese Götterwelten, es konnten auch Helden- oder Engelswelten sein, waren für sie anwesend. Sie waren eine stabile, gegebene Wirklichkeit.
¬ WIE WÜRDE SICH UNSERE WELT VERÄNDERN, WENN WIR UNSERER IMAGINATIONSKRAFT MEHR RAUM UND ZEIT GEBEN WÜRDEN? ¬
Unsere moderne wissenschaftliche Kultur war eine Revolte gegen diese Kraft der Bilder, in denen unsere Ahnen seit Vorzeiten lebten. Die Wissenschaft entdeckte das Messbare, das Kalkulierbare, und »zerriss« aus ihrer Sicht für uns den »Schleier der Mythen«. Diese Revolte der Wissenschaft erlaubte es, sich die Welt in einer neuen, technischen Weise anzueignen, die grandios erfolgreich war. Träume gab es weiter, aber sie wurden privatisiert. Ihnen wurden Reservate zugeschrieben, in denen sie wie Tiere in einem Zoo leben konnten. Die eigentliche Welt spielt sich außerhalb des Zoos ab. Andererseits hat auch unsere Wissenschaft ihre Bilderwelt, ihre eigene Vorstellungswelt. In den Gesprächen, die in unserer modernen Gesellschaft wirklich zählten, entwickelten wir eine Sichtweise, in der wir alles, was von Bedeutung ist, nur mehr in der technischen Machbarkeit sehen. Aus dieser Vorstellungswelt heraus lebt die technische Welt. Der englische Philosoph Owen Barfield, ein Freund von J. R. R. Tolkien, hat eine ganze Philosophie darüber geschrieben, dass unsere Vorstellungskraft ein Ort einer sehr subtilen Erkenntnis ist. Er sah, dass sie in unserer gegenständlich ausgerichteten Kultur nicht mehr wertgeschätzt, oft nicht einmal gesehen wird. Dann entsteht auf der einen Seite die technische Welt und auf der anderen Seite, getrennt davon, ein Ort in uns, in dem vor allem willkürliche Fantasien blühen.
Wie würde sich unsere Welt verändern, wenn wir unserer Imaginationskraft mehr Raum und Zeit geben würden, um wahrgenommen zu werden? Sicher würde sich dort manches Verletzte und Beengte zeigen, aber auch Dinge, die für uns wirklich bedeutsam sind, Dinge, die uns unheimlich sind, die uns heilig sind. Die Imaginationskraft ist verletzlich. Sie wird auch erst wirklich lebendig, wenn wir sie miteinander teilen, wenn sie zwischen uns und mit uns lebt.
Natürlich, die technischen und systemischen Fragen, mit denen wir in unserer hochkomplexen Welt konfrontiert sind, verlieren sich nicht. Wir brauchen, wahrscheinlich noch viel mehr als heute, unsere Fähigkeit des abstrakten, auch des systemischen Denkens. Aber diese technischen Dimensionen der Wirklichkeit können wir als eingebettet in etwas anderes erkennen und wir können lernen, sie gemeinsam mit diesen anderen Dimensionen wahrzunehmen. Der amerikanische Kulturforscher Charles Eisenstein spricht in einem seiner Buchtitel, von der »schöneren Welt, von der unser Herz weiß, dass sie möglich ist«. Meines Erachtens deutet er auf eine Öffnung, die sich zeigt, wenn wir erlauben, dass sich unser Herz mit unserer Vorstellungskraft verbindet.
Warum Imagination auch eine spirituelle Arbeit ist
Aber unsere Vorstellungskraft ist auch ein Spiegel. In ihr zeigen sich unsere Neurosen, Ängste und Fixierungen. Oder, besser gesagt, wir sehen die Welt gefärbt durch unsere Neurosen, Ängste und Fixierungen. Wir können uns hier auch in Abgründen verlieren. Deshalb gab es zu allen Zeiten Weisheitsschulen, Formen der Selbstkultivierung, die uns helfen, uns in unseren Vorstellungen nicht zu verirren. Der Kognitionswissenschaftler John Vervaeke definiert Weisheit als unsere Fähigkeit, mit der Wirklichkeit in einer immer komplexeren und integraleren Weise in Kontakt zu sein. Es sind unsere Ängste und Fixierungen, die uns von diesem Kontakt trennen. Die Weisheitsschulen der verschiedenen kulturellen Traditionen waren – mit allen ihren kulturellen Beschränkungen – darauf ausgerichtet, in Menschen innere Integrität sowie innere Klarheit und Tiefe zu pflegen. Auch in unserer abendländischen Tradition kamen aus diesen Weisheitsschulen immer wieder Propheten und Prophetinnen, die eben auch aus einer sehr bewussten Lebenspraxis heraus in der Lage waren, Dinge tiefer zu sehen als andere Zeitgenossen. Ob das alttestamentarische Propheten waren, manche griechische Philosophen oder im Mittelalter Menschen wie Hildegard von Bingen: Es war nicht so sehr die Kraft ihres analytischen Denkens, die diese Menschen kulturell bedeutsam werden ließ – obwohl das auch dazu gehört. Es war oft die Kraft einer inneren Schau, die aus der Kultivierung einer inneren Integrität und Offenheit entstand. In ihren kulturellen Kontexten wurde das häufig mit dem Heiligen in Verbindung gebracht. Es war diese tiefe Integrität, ihre intensive Beziehung zum »Wahren, Guten und Schönen«, die diesen Prophetinnen, manchmal auch Religionserneuerern ihren klareren Blick auf ihre Gesellschaften und ihre Kulturen, deren Missstände und Nöte gegeben hat.
¬ DIESE INDUSTRIELLE BILDERFLUT IST DAS GEGENTEIL EINER EIGENEN, LEBENDIGEN VORSTELLUNGSKRAFT. ¬
Der Islam und andere Beispiele
Die visionäre Kraft dieser Menschen und Gruppen hat auch immer wieder die Geschichte verändert. Die ersten Christen sind ein Beispiel dafür. Auf dem indischen Subkontinent gab es immer wieder Aufbrüche, die aus solchen Zirkeln entstanden sind. Auch die Kraft der europäischen humanistischen Traditionen entstand aus einer Verbindung menschlicher Vorstellungskraft und menschlicher Integrität.
Einer dieser visionären Aufbrüche unserer Kulturgeschichte war der Islam, auch wenn es in Europa Tradition hat, vor allem seine Schattenseiten zu sehen. Damals im 6. Jahrhundert entstand im Islam, mehr als alles andere eine Vision der Universalität und der Einheit des Heiligen. Der junge Islam war eine ungemein kreative Bewegung. Er transformierte nicht nur die arabische Gesellschaft, er verband die Vorstellungswelten der damals heftig zerstrittenen christlichen Gemeinden im Nahen Osten, der jüdischen und der lokalen Traditionen zu einer sozialen Vision, in der alle Menschen in einer gemeinsamen Hingabe an die eine ungeteilte Heiligkeit des Lebens zusammenkommen sollen. Der Name Allah, eine arabische Spielart der althebräischen Bezeichnung für den einen Gott Elohim, stand für diese Einheit. Der einfachen Eleganz der islamischen Vision gelang es, sich mit den christlichen und persischen Mythen der damaligen Zeit, aber auch den Denkleistungen der griechischen Philosophie zu verbinden. Aus diesem kreativen Zusammenschluss entstand die progressivste und toleranteste Sozialordnung der damaligen Welt. Ihre erste Blütezeit endete erst mit der Zerstörung Bagdads durch die Mongolen im Jahr 1258. Natürlich hatte auch der frühe Islam seine eigenen Widersprüche, ja auch Abgründe. Aber ohne diesen kulturellen Aufbruch hätte es die europäische Moderne in dieser Form nicht gegeben.
Die Visionäre und der Kaffeesatz
Und was hat der Kaffeesatz mit all dem zu tun? Unsere analytische und wissenschaftsgeprägte Kultur schätzt die Möglichkeiten, die uns das abstrakte und kalkulierende Denken gibt. Die Säulen unserer Gesellschaftsgestaltung sind abstrakte Modelle und präzise Modellrechnungen, heute auch mit den Fähigkeiten der Künstlichen Intelligenz. Das ist in einem gewissen Rahmen auch gut so. Die Wissenschaft einfach zu verteufeln, ist ein kindischer Akt. Aber die Wirklichkeit hat auch eine andere Seite und diese zeigt sich eher an Orten wie dem Kaffeesatz.
So kennen alle, die schon einmal auf einem längeren Meditationsretreat waren, die Erfahrung, die sich öffnet, wenn man über viele Tage hinweg nichts anderes macht, als in einer sehr bewussten und wachen Weise die Welt, so wie wir sie kennen, einfach einmal loszulassen. Je länger man diese Öffnung kultiviert, desto mehr zeigt sich im Nachklang die Welt mit einer neuen Tiefe und Einsicht, die manchmal unser Leben radikal verändern kann. Es erscheint manchmal, als würde man auf diese Weise der eigenen Welt die Möglichkeit geben, sich neu zu figurieren. Unsere Vorstellungskraft, von der Last unserer gewohnten Sichtweise ein wenig befreit, schöpft aus einer neuen, lebendigen Gegenwart. Wir tragen ja immer Bilder in uns und oft halten uns diese gewohnten Bilderwelten auf unseren alten eingefahrenen Bahnen. Und in unserer gegenwärtigen Zeit werden wir wie noch nie in der Geschichte von Bildern geflutet. Die Bewusstseinsindustrie von Hollywood bis TikTok webt uns in ihre eigene Welt. Diese industrielle Bilderflut ist das Gegenteil einer eigenen, lebendigen Vorstellungskraft.
Eigentlich ist das rationale und wissenschaftliche Denken eine Gegenkraft gegen überwältigende Bilderfluten. Das rationale Denken war bereits in der Aufklärung eine Kraft gegen viele auch falsche Mythen. Aber abstraktes Denken, vor allem, wenn es immer mehr zum berechnenden Denken wird, erfasst eben nur, was berechnet werden kann. So kann es sich den industriellen Bilderfluten auch nicht wirklich dort entgegenstellen, wo sich Bilder formen. Es hat viel mit unserem Herzen zu tun, wie Bilder in uns leben. Unsere ganzheitliche Wahrnehmung von Wirklichkeit zeigt sich in all dem, was uns »am Herzen liegt«. Die Weisheitstraditionen sprachen von der »Herzensbildung«, die uns die »Unterscheidung der Geister« zeigt. Vielleicht können wir von dieser traditionellen Sprache lernen. Eine Befreiung unserer Vorstellungskraft braucht auch die Unterscheidungskraft »der Geister«.
¬ UNSERE VORSTELLUNGSKRAFT BRAUCHT BEZIEHUNGEN UND UNMITTELBARKEIT. ¬
Auf jeden Fall kann man heute eine neue kulturelle Bewegung beobachten, in der die Kraft der Imagination wieder große Beachtung findet. Angesichts der Übermacht der Algorithmen erkämpfen sich immer mehr Menschen Freiräume, um diese alte Kulturtechnik der Kultivierung unserer Vorstellungskraft in neuen, angebrachten Formen miteinander pflegen zu lernen. Interessanterweise zeigen sich hier auch keine neuen Großvisionen unserer menschlichen Zukunft. Unsere imaginative Kraft scheint in eine andere Richtung zu drängen. Wir sehen vielmehr eine Vision korrespondierender Ökosysteme. Völlig überraschend hat auch ein neues Vorstellungsbild unsere kollektive Aufmerksamkeit bekommen. Seit einigen Jahren erscheinen auf einmal Bücher, Filme, YouTube-Videos zum Thema Myzelium, dem Reich der Pilze, jener Form des Lebendigen, das sich neben dem Tierreich und dem Pflanzenreich vor allem durch seine durchdrungene Durchwobenheit auszeichnet. Wie kommt es, dass solche neuen Bilder auf einmal unser kollektives Bewusstsein erfassen und eine Faszination kreieren, die es vorher nicht gab? Vielleicht bildet sich zwischen uns gerade eine neue Vorstellungswelt, in der sich regenerative Ökosysteme und die Verwobenheit allen Lebens eine neue Bilderwelt schaffen.
Auch eine alte Weisheit, die einem der Altmeister des bildhaften Denkens, Johann Wolfgang von Goethe, besonders wichtig war, bekommt gerade neue Aufmerksamkeit. Viele Menschen, die z. B. im Rahmen von Permakultur oder der Transition-Town-Bewegung arbeiten, betonen, wie wichtig es ist, unsere Vorstellungskraft weniger in abstrakten Ideen, sondern in konkreten Erfahrungs- und Begegnungsräumen unseres Lebens zu bilden. Unsere Vorstellungskraft braucht Beziehungen und Unmittelbarkeit. Im Kern dieses Aufbruchs steht die Hoffnung, dass diese mit neuer Lebendigkeit sich zeigende Vorstellungskraft eine Antwort auf die Krise unserer technischen Zeit ist.