Am Anfang war das Wort

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

April 21, 2017

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Ausgabe 14 / 2017:
|
April 2017
Leben lernen
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Seit 1977 wählt die Gesellschaft für deutsche Sprache Anfang Dezember das Wort des Jahres. Es handelt sich um eine – oft neue – Vokabel, in der sich etwas vom Zeitgeist spiegelt. Als für 2016 das Wort postfaktisch ausgezeichnet wurde, ließ es mich mehr aufschrecken, als es in den Vorjahren die Lichtgrenze, der Wutbürger oder die GroKo getan hatten. Gefühlsmäßig, populistisch, unsachlich sind die Adjektive, die im Wiktionary als Synonyme für postfaktisch angeführt werden. Die verbalen Entgleisungen populistischer PolitikerInnen oder die Kommentare in den sozialen Medien bringen zurzeit eine emotionale Dimension von Sprache zum Vorschein, die nicht nur mich erschrecken lässt. Enthüllungen, fake news, Provokation und Polemik zeigen, was passiert, wenn die Sprache weder der sozialen Verständigung noch der Erkenntnisvermittlung dient, sondern zum Machtinstrument wird. Diese Entwicklung scheint uns dazu aufzurufen, der vielfältigen Bedeutung der Worte, dem Raum, der sich dahinter auftut, sowie der Gefahr des Missbrauchs mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

Obwohl es offensichtlich ist, dass die Bedeutung eines Wortes nicht nur auf der Definition im Wörterbuch basiert, vergessen wir dennoch oft, dass sie genauso von unseren Emotionen, Projektionen und Erfahrungen gespeist wird. Es verbirgt sich sowohl bei demjenigen, der spricht, wie auch bei demjenigen, der zuhört, eine ganze Welt hinter einem Wort und damit auch eine Vielzahl von Interpretationen, die uns zunächst oft nicht bewusst sind. Zwei kleine Beispiele dazu: Die Mutter einer Freundin schenkte einem geflüchteten syrischen Paar auf Nachfrage der Tochter lieber eine neue Wiege, als die alte, in der die eigenen Kinder und Enkelkinder geschlafen hatten, herzugeben. Hinter dem Wort Wiege lag für sie das ganze Universum ihrer Erfahrungen, die sie nicht so einfach hergeben wollte. Oder wenn ein Studienfreund aus Nigeria von seinem heimatlichen Zuhause spricht, heißt es noch lange nicht, dass er in einer Hütte mit gestampftem Lehmboden aufgewachsen ist, wie wir es uns vorstellen mögen. In Lagos, der früheren Hauptstadt Nigerias, wohnen Menschen unter anderem in Hochhäusern, Pfahlbauten, Schiffscontainern und auf Wohnbooten. Hinter der Verwendung eines jeden Wortes öffnet sich eine teils sehr individuelle Welt.

¬ Hinter der Verwendung eines jeden Wortes öffnet sich eine individuelle Welt. ¬

Das gesprochene Wort lädt uns mehr noch als das geschriebene in diese persönliche Welt hinter der Definition ein. Ein kleines Experiment eines Musikstudenten am Institut für Waldorfpädagogik macht das deutlich: Er skizzierte fiktive Personen und veränderte dann seine eigene Stimme beim Lesen eines Textes dahingehend, dass er die ebenfalls erfundene Stimme der jeweiligen Charaktere zu Gehör brachte. Zehn Menschen hörten zu und sollten jedes Mal angeben, welche persönlichen Merkmale ihrer Einschätzung nach zu der jeweiligen Stimmlage gehörten. Die Angaben passten zu 90 % zu dem, was er sich ausgedacht hatte. Um diese Ergebnisse zu deuten, kann man natürlich vieles ins Feld führen, aber sicher ist, dass wir jenseits von Inhalten viele weitere Informationen preisgeben und auch aufnehmen.

Wie wenig die Macht des Wortes dem westlich-aufgeklärten Menschen bewusst ist, wird in einer Anekdote, die einem indischen Lehrer zugeschrieben wird, schnell deutlich. Er hielt im Westen eine Lesung über die Kraft der Mantren und deren Bedeutung auf dem spirituellen Weg. Ein Mann im Publikum lehnte seine Ausführungen ab und fand es lächerlich, ein und dasselbe Wort mehrmals zu wiederholen und zu erwarten, dass dies eine Wirkung zeitigen würde. Daraufhin erwiderte der Redner recht vehement: »Halten Sie den Mund und setzen Sie sich, Sie Esel.« Verständlicherweise war der Adressat völlig aufgebracht. Woraufhin der Meister milde lächelte und anmerkte, dass er das Wort Esel nur ein einziges Mal benutzt habe und dass es offensichtlich bereits eine große Kraft entfaltet habe.

Wenn angesichts des Postfaktischen die manipulative Kraft des Wortes in den Vordergrund rückt, erhält die Frage nach der positiven Kraft, dem Wahrheitsgehalt und dem geistigen Wesen des Wortes zurzeit eine neue Relevanz. Literatur und Bühnenkunst, Poesie und Lieder leben von der Fähigkeit des Wortes, eine Offenheit für etwas, das jenseits des kommunikativen Miteinanders oder des sachlichen Austausches liegt, zu entwickeln. In den religiösen und spirituellen Traditionen aller Kulturen gibt es ebenfalls ein Wissen davon. Das Rezitieren oder Kontemplieren von Mantren gilt seit Jahrtausenden in vielen Traditionen als ein Tor in ein erweitertes oder erwachtes Bewusstsein. Bei einer Koranrezitation sind die Zuhörenden oft zu Tränen gerührt, denn es geht nicht in erster Linie um den Inhalt, sondern um die Herzöffnung, die durch die Darbietung entsteht.

»Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott …« Diese ersten Worte des Johannes-Evangeliums sind vielen Menschen geläufig. Eine völlig andere Dimension von Sprache leuchtet auf: das Wort als Brücke zu dem Nicht-Sichtbaren, dem Heiligen, dem Göttlichen. Vielleicht gilt es, angesichts des achtlosen und manipulativen Gebrauchs von Sprache diese Dimension des Wortes wieder neu zu entdecken. Denn »am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott und die Finsternis konnte ihm nichts­anhaben«.

Griet Hellinckx ist Künstlerin, Autorin und Pädagogin und lehrt am Institut für Waldorfpädagogik Witten.

www.one-light.de

Author:
Griet Hellinckx
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