Das Leben stirbt nicht

Our Emotional Participation in the World
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Essay
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February 2, 2024

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Ausgabe 41/2024
|
February 2024
Leben, Tod
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Können wir von den Kosmologien der Naturvölker lernen?

Wenn ein geliebter Mensch stirbt, spüren wir den Verlust. Viele indigene Kulturen sehen in unserer Endlichkeit aber auch einen Übergang, der uns mit der umfassenderen Lebendigkeit des Lebens über den Tod hinaus verbindet. Welche Samen neuen Lebens liegen im Vergehen?


Als vor zehn Jahren meine Mutter starb, war dies ein Ende. Sie war tot und ich war allein. Ihre Beerdigung war mehr als schlicht, denn als überzeugte Atheistin hatte meine Mutter sich jeglichen »Schnickschnack« verbeten. Ihr wären wahrscheinlich der säkulare Trauerredner, den ich engagiert hatte, damit er noch einmal bedeutsame Momente ihres Lebens Revue passieren ließ, und Schuberts »Ave Maria« vom Band, mit dem ich versuchte, der Zeremonie etwas Würde zu verleihen, schon zu viel gewesen. Für mich fühlte es sich nach sehr wenig an, um einen geliebten Menschen zu verabschieden, der 80 Jahre auf dieser Welt verbracht hatte. Mit dem Tod meines Vaters 16 Jahre zuvor war es mir ähnlich ergangen. Er hatte zwar eine katholische Beerdigung mit Pfarrer, und seine Freunde aus dem Gesangverein sangen ein letztes Mal für ihn. Doch auch hier empfand ich damals eine merkwürdige Leere. Am Tag nach seiner Beerdigung ging das Leben ohne ihn einfach weiter. Und am Tag nach der Bestattung meiner Mutter fuhr ich zu einem beruflichen Meeting, als wäre nichts geschehen. Meine Trauer um meine Eltern und wie ich ihr Andenken ehren kann waren fortan meine Privatsache.

Vielleicht fühle ich mich als Kulturanthropologin deshalb so angezogen von Kulturen, denen es bis zum heutigen Tag gelingt, Brücken zu bauen zwischen den Lebenden und den Toten, zwischen den Generationen der eigenen Familie und der Kultur im Ganzen. Mich erfüllt es mit Staunen, dass schon die frühen Menschen der Steinzeit vor 120.000 Jahren, noch bevor sie komplexe Kulturtechniken entwickelten, dem Ende des Lebens und seinem »Danach« Aufmerksamkeit schenkten. Wir wissen nicht, was sie über den Tod dachten. Doch schon Homo Sapiens und Neandertaler verwendeten bei ihren Bestattungen Ocker als »Farbe des Lebens«. Womöglich ein Zeichen dafür, dass sie auch nach dem Tod ihrer Stammesmitglieder eine Beziehung zu ihnen aufrechterhielten. Die Aborigines Australiens pflegen diese Art von Banden in ihrer nun schon 60.000 Jahre währenden Kultur bis heute. Für sie, ähnlich wie für die Ureinwohner Amerikas, ist Leben ein ewiges Kontinuum, an dem die Verstorbenen weiter Anteil haben. Rituale der Ahnenverehrung, die auch im modernen Japan durch die Tradition des Shintoismus immer noch tief verwurzelt sind, tragen dazu bei, die Wahrnehmung offen zu halten für den Prozess des Lebens als etwas Größerem. Natürlich geht es in diesen Kulturen immer auch darum, die persönlichen Verlusterfahrungen, die mit dem Tod von nahestehenden Menschen verbunden sind, zu verarbeiten und Frieden zu finden. Mindestens genauso wesentlich erscheint mir, dass diese Kosmologien die Lebenden mit den Toten und der gesamten Geschichte des menschlichen Wirkens in der Welt verbunden halten. Wie fühlt es sich an, in der durch Rituale immer wieder vergegenwärtigten Erfahrung zu leben, dass das eigene Leben nicht auf die persönliche Lebensspanne beschränkt ist, sondern vom Wirken unzähliger Generationen über die Jahrtausende mitgetragen wird? Und dass es über den eigenen Tod hinaus ausstrahlt, weil die Nachfahren sich dessen bewusst sind?

Tod inmitten von Leben

In der japanischen Tradition des Shintoismus gibt es den Glauben, dass jeder Mensch einen Kami, einen göttlichen Geist, beherbergt, der im menschlichen Körper gebunden ist und im Moment des Sterbens aus dem Verstorbenen heraustritt. Dieser Kami wird Teil der Welt der Lebenden. Mit dem Norito, einem Gebet, bitten die Trauernden um Führung und Schutz für diese Geister der Verstorbenen: »O barmherziger Kami, möge diese Seele in die Welt der Wiedergeburt geführt werden und den Weg des Lichts gehen, um das Reine Land zu erreichen. Auch wenn diese Person ihren physischen Körper verloren hat, bleibt ihr Geist mit dieser Welt verbunden. Ich danke dir.« In gebildeten Kreisen ist es bis heute nicht unüblich, mit einem Todesgedicht über das Ende des eigenen Lebens zu reflektieren und sich für diesen Übergang bereit zu machen. Der weltbekannte Maler ­Katsushika ­Hokusai, der Mitte des 19. Jahrhunderts verstarb, etwa hinterließ die folgenden Zeilen:

Als ein Geist werde ich jetzt

umherschweifen

in den Sommerfeldern.

Für die westliche Wahrnehmung mag es überraschend sein, welche Gelöstheit zwischen diesen Zeilen schwingt. Da ist kein Bedauern über das eigene irdische Ende. Eher eine innige Verbindung zum Prozess des Lebens, der sich ohne die eigene Person, doch durchzogen von ihrem Nachklang fortsetzen wird. Das persönliche ­Leben geht, wenn sein Ende gekommen ist, in etwas Größerem auf und lebt dort weiter. Es ist eine Transformation, die schon zu Lebzeiten eine besondere Verantwortung mit sich bringt. Denn dann bedeutet zu leben nicht nur, für die eigene Existenz zu sorgen, sondern auch dem Lebensprozess dienlich zu sein, weil das persönliche Wirken über die eigene Lebensspanne hinausreicht.

»Leben und Tod, Sterben und Schöpfung sind wie Yin und Yang miteinander verbunden.«

Die Kami der Menschen leben in der Welt, die auch von den shintoistischen Naturgöttern bevölkert ist, weiter, in den Bergen, Meeren und im Himmel. Viele Familien ehren die Kami ihrer Vorfahren mit regelmäßigen Opfergaben an einem Hausaltar, damit diese ehrenvoll in der Ewigkeit weiterleben können – und die Hinterbliebenen vor Bösem schützen. »Die Kommunikation zwischen den Lebenden und den Toten wird dadurch möglich, dass die Welten der Lebenden und der Toten nicht klar voneinander getrennt sind. Beide Welten können gleichzeitig an ein und demselben Ort und zu ein und derselben Zeit existieren. Die Kami und ihre Handlungen wirken auf das heutige menschliche Leben ein und beeinflussen es. Die Welt der Lebenden ist durchdrungen von Erfahrungen, Handlungen und Einflüssen derer, die der Welt der Toten oder der Welt der Kami angehören«, beschreibt der Philosoph und Japanforscher Stuart D. B. Picken dieses Miteinander von Menschen und Geistern. Leben und Tod, Sterben und Schöpfung sind wie Yin und Yang miteinander verbunden. Es geht letztlich nicht nur um die eigene Bedeutung als Individuum, um persönliche Einzigartigkeit, sondern auch darum, was sich daraus für die Mitwelt entfaltet. Die Würdebezeugungen der Ahnenverehrung richten sich auf diesen schöpferischen Beitrag im Leben, das hinter den Verstorbenen liegt. Die noch am Leben sind, wertschätzen ihn, und er wird zur Richtschnur für sie selbst und folgende Generationen.

Die Ahnenverehrung ist keine rein private Angelegenheit. Da die Geister der Vorfahren mit den Geistern der Schöpfung zusammenleben, erneuern die Rituale immer auch das Band zum Lebensprozess als Ganzem, und die Beziehung zur gesamten lebendigen Mitwelt wird im Bewusstsein der Hinterbliebenen wachgerufen. In manchen Landstrichen Japans ist dieser Brauch noch fest im gemeinschaftlichen Leben verankert. Im Dorf ­Toyamatsu in der Präfektur Hiroshima etwa wird im Hochsommer das Ritual Megurigito vollzogen, bei dem die Ältesten des Dorfes mit tragbaren Schreinen mit den Ahnen-Kami von Haus zu Haus ziehen und ihnen in der Gemeinschaft Gebete und Opfergaben darbieten. Anschließend werden in Anwesenheit der Geister öffentliche Angelegenheiten des Dorfes besprochen. Man kann allenfalls erahnen, wie deren die Zeiten überdauernder Horizont diese Beschäftigung mit ganz alltäglichen Fragen zu öffnen vermag für eine Perspektive, die über den Moment hinausreicht. So wird die Verehrung der Kami auch zu einem Dienst an dem Leben, das sich gerade entfaltet, indem sie die Weisheit der Ahnen nicht vergisst. Und sie trägt die Lebenden in der tiefen Verbindung zu einer Genealogie, die die Geschichte der eigenen Vorfahren in die Menschheitsgeschichte integriert. Wahrzunehmen, dass ich selbst wie ein Faden in einem solchen sich immer weiter entfaltenden Gewebe bin, hilft mir dabei, meinen eigenen Beitrag in dieser Zeit und Welt zu finden. Meine Mutter war Schriftstellerin, und auch ich erzähle heute als Journalistin Geschichten. Wenn ich schreibe, schwingt immer auch meine Beziehung zu ihr mit. Es ist meine Form der Ahnenverehrung, in der das Potenzial, das mir durch meine Mutter persönlich nahe ist, sich einen neuen Ausdruck sucht und uns beide weiterhin verbindet. Meine Geschichten bringen etwas Neues in die Welt und meine familiären Bande leben in ihnen weiter und in dieses Neue hinein.

Individuelles Leben wirkt über Jahrtausende

Die Wahrnehmung allumfassender Verbundenheit bettet das individuelle Vergehen in einen Prozess größeren Werdens ein. In den Traditionen der amerikanischen Ureinwohner sind die Lebenden und bleiben die Toten eingebunden in den ewigen Kreislauf des Lebens. »Die Westlichen Cherokee glauben, dass das Leben ein kontinuierlicher Kreis ist. Der Kreis existiert seit Anbeginn der Zeit und wird bis zum Ende der Zeit bestehen. Du wirst in den Kreis hineingeboren, lebst dein Leben, und wenn der Schöpfer dich nach Hause ruft, verlässt du den Kreis. Alles, was du sagst und tust, verändert den Kreis und alles, was im Kreis ist, verändert dich. Es gibt keine Trennung, du und der Kreis sind eins«, beschreibt Murl Dreamwalker Pierson, Executive Director der Western Cherokee Nation, die Kosmologie seines Stammes. Der Tod mag einen Menschen aus diesem Kreis herausreißen, doch das Vermächtnis seines Lebens bleibt: »Die Veränderungen, die du im Kreis gemacht hast, werden für hunderte oder tausende von Jahren im Kreis bleiben, je nachdem, wie du deine Zeit im Kreis gelebt hast.«

Diese Überzeitlichkeit der Spuren, die ein Mensch hinterlässt, bettet sein Leben in einen größeren Sinnzusammenhang ein. Und sie setzt eine Verantwortlichkeit. Nicht im Sterben wird letzte Rechenschaft abgelegt, sondern die endlose Lebendigkeit des Lebens fragt jeden Menschen schon zu Lebzeiten danach, rechtschaffen zu leben, damit diese Lebendigkeit weiter bestehen kann. In diesem Weltverständnis steht das persönliche Leben im Dienst für etwas Größeres. »Die Westlichen Cherokee glauben, dass die Welt nicht uns gehört, sondern dass wir die Verantwortung haben, sie für unsere Kinder und Enkelkinder zu bewahren. Wenn du dein Leben lebst, dann lebe es so, dass es den Kreis erhebt, und der Kreis wird das Leben für kommende Generationen erheben«, so Murl Dreamwalker Pierson.

»Das Träumen ist ein Ort der Erneuerung, um eine bessere Zukunft für uns zu schaffen.«

Meine Urgroßeltern entstammten alle einer bäuerlich-ländlichen Tradition. Die Eltern meines Vaters hielten Hühner, bauten Gemüse an und produzierten Wein. Und im Schrebergarten der Eltern meiner Mutter war die Erdbeerernte für mich immer eine ganz besondere Zeit. Etwas von ihrer Naturbeziehung scheint in mir weiterzuleben. In meinem eigenen Garten ist mir die Artenvielfalt ein Herzensanliegen, und ich freue mich über die Vögel, Bienen und Schmetterlinge, die sich im Sommerflieder und Salbei und all den Sträuchern, die ich gepflanzt habe, tummeln. Im Gärtnern sind mir meine Vorfahren nahe, selbst meine Urgroßeltern, die ich nie kennengelernt habe. Und ihre Lebensenergie erwacht in mir zu neuem Leben. Ich kann spüren, wie ihre Liebe zum Lebendigen in mir weiterlebt und sich durch mich in die Zukunft streckt.

Über das Ende hinaus

Bei den Aborigines verändert dieses Weiterleben über die menschliche Endlichkeit hinaus das Dreaming, ihre alle Zeiten überspannende ewige Wirklichkeit. Erschaffen von den Urahnen, immer wieder neu belebt von denen, die auf der Erde weilen und all jenen, die bereits von ihr gegangen sind, ist dieses Dreaming ein anhaltender Schöpfungsprozess. Und im Tod liegt eine Transformation. »Das Träumen ist ein Ort der Erneuerung, an dem wir zu einem neuen Leben wiedergeboren werden. Es ist eine Chance, aus unseren Fehlern der Vergangenheit zu lernen und eine bessere Zukunft für uns zu schaffen«, beschreibt dies ein Aborigine-Ältester. Vielleicht war es diese innige Beziehung zum schöpferischen Impuls des Lebens, die es der Kultur der Aborigines ermöglicht hat, die letzten 250 Jahre des Kolonialismus zu überleben, sich mit neuen Lebensweisen zu arrangieren und doch die alten zu bewahren. »Das Dreaming ist ein großes Netzwerk von Beziehungen, ein Gewebe des Lebens«, so der Aborigine-Aktivist Onkel Jack Charles. In den Verlusten, die sich durch ihre zehntausende von Jahren währende Geschichte ziehen, haben die Aborigines erfahren, dass durch die vielen Enden immer wieder auch etwas Neues, vielleicht sogar Heilendes zum Vorschein kommen kann, weil dieses Gewebe des Lebendigen nicht reißt, solange sich die Menschen mit ihm verbinden.

Ich weiß nur um drei Generationen, die vor mir lebten, und die längere Geschichte meiner Familie ist mir ungewiss. Ihre Erfahrungen von Krieg und Vertreibung scheinen auch in meinem Leben immer wieder auf und lassen mich die Brüche der Endlichkeit spüren. Noch gegenwärtiger ist mir allerdings, wie alle meine Vorfahren, die ich kannte, trotz Entbehrungen und Verlusten ihre ureigenen Spuren hinterlassen haben in diesem Leben, von dem jetzt ich ein Teil bin. Es sind diese Samen neuen Lebens, die mich heute tragen und auch durch mich etwas hervorbringen. In ihnen lebt meine Familie, nicht nur für mich, weiter.

Author:
Dr. Nadja Rosmann
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