Daten-Autokratie

Our Emotional Participation in the World
English Translation
0:00
0:00
Audio Test:
Essay
Published On:

October 23, 2023

Featuring:
Categories of Inquiry:
Tags
No items found.
Issue:
Ausgabe 40/2023
|
October 2023
Auf der KIppe
Explore this Issue

Please become a member to access evolve Magazine articles.

oder Daten-Demokratie?

Die überwältigenden Krisen der Gegenwart wecken im Politischen Begehrlichkeiten. Es scheint verführerisch, mit den grenzenlosen Kapazitäten Künstlicher Intelligenz menschliche Unzulänglichkeiten zu verändern. Doch was wird dabei aus Politik und Demokratie?

Zwei Drittel der Deutschen haben kein Vertrauen mehr in die Politik – weil die im Namen des Volkes Agierenden »keine Ahnung haben von dem, was sie tun«, so die ernüchternde Erkenntnis einer Studie der Philosophie-Stiftung Identity Foundation. In China wäre ein solches Votum undenkbar. Staatschef Xi Jinping brüstet sich, dass seine Regierung bei 98 Prozent des Volkes auf Zustimmung stößt. Was er nicht sagt: Dieser Konformismus wird mit drastischen Sanktionssystemen erzwungen. Heute trauen sich die wenigsten Chinesen noch, der offiziellen Politik zu widersprechen, weil Künstliche Intelligenz sie bis ins Privateste überwacht und Kritik im Keim erstickt. Auch das von China bedrohte Taiwan hat Künstliche Intelligenz zum Herzen seiner Politik gemacht. Und es geht einen völlig anderen Weg. Die taiwanesische Regierung nutzt KI, um mit der Bevölkerung ins Gespräch zu kommen, um aus der Weisheit der Vielen neue politische Lösungen entstehen zu lassen. China und Taiwan mögen heute noch Einzelfälle sein, doch ihre Beispiele stellen eine Grundsatzfrage an alle politischen Systeme rund um den Globus. Werden wir künftig zu von Regierungsdatenbanken ferngesteuerten Robotern? Oder gelingt es uns noch, die Chance zu ergreifen und KI in den Dienst der menschlichen Schöpferkraft und ihrer Autonomie zu stellen?

Die Wirtschaftswissenschaftlerin ­Shoshana Zuboff warnt vor einer »Instrumentalisierung des menschlichen Verhaltens zum Zwecke der Modifikation«. »Es handelt sich um ein neues Prinzip der sozialen Ordnung. Das ist schrecklich für die Demokratie, weil sie die Kontrolle in Form von für uns völlig unsichtbaren Möglichkeiten der Verhaltensänderung durchsetzt. Eine ganze zukünftige Gesellschaft könnte auf dem Spiel stehen. Die instrumentellen Mächte geben eine Antwort auf die Instabilität der Moderne. Ihre Version: alles kontrollieren. Es wird keine Demokratie sein«, so Zuboff.

Eine Ahnung davon, was »keine Demokratie« bedeutet, vermittelt die aktuelle Kino-Dokumentation »Total Trust« der in den USA lebenden chinesischen Filmemacherin Jialing Zhang. Der Film zeigt, wie die wenigen, die sich der offiziellen politischen Doktrin noch widersetzen, darunter Menschenrechtsanwälte, Journalistinnen oder Künstler, von der Regierung, die über jeden Schritt dieser Menschen informiert ist, umgehend aus dem Verkehr gezogen werden. »Es geht nicht nur um China. Es geht um die potenzielle Gefahr von Technologie in den Händen von unkontrollierter Macht. Es geht darum, wie Technologie zur Nichtbeachtung von Menschenrechten und zur sozialen Kontrolle eingesetzt werden kann«, erklärt Zhang.

»Statt um Kontrolle geht es um Kollaboration.«

In China wird Künstliche Intelligenz dazu eingesetzt, Menschen gezielt zu brechen. In chinesischen Fabriken müssen Arbeiter Sensoren am Kopf tragen, die ihre Gehirnwellen überwachen und nach Zeichen für Angst und Depressionen suchen. Offiziell geht es darum, »die Moral der Arbeiter zu stärken – und zwar bevor emotionaler Stress ein Problem auslöst«, beschönigt die South China Morning Post das orwellsche Szenario. In den so genannten »Smart ­Cities«, von denen es in naher Zukunft 500 geben soll, entstehen sensorgesteuerte Überwachungsarchitekturen im gesamten öffentlichen Raum, die beispielsweise die Polizei direkt warnen, wenn ein möglicher Demonstrant auch nur ein Transparent aufrollt. »Die Polizei lebt in ihrem Kopf. Man überlegt immer zweimal, bevor man etwas auf WeChat postet. Die Sperrung deines Kontos ist sehr unangenehm, weil du es für alles benutzt – von der Kommunikation bis zu Zahlungen«, beschreibt die Filmemacherin die Selbstzensur, die die Bürger immer mehr verinnerlichen.

Auch die taiwanesische Regierung hat großes Interesse an dem, was die Bürgerinnen denken. Sie vertritt jedoch eine Politik der radikalen Öffnung. Auf der offiziellen Plattform für ePartizipation haben sich fünf der 23 Millionen Bürgerinnen registriert, um sich politisch zu engagieren. »Wenn wir das Internet der Dinge sehen, sollten wir es zu einem Internet der Lebewesen machen«, sagt die Digitalministerin Audrey Tang. Es geht darum, eine gemeinsam geteilte Realität gemeinsam zu gestalten und die gesellschaftliche Pluralität in den Dialog zu bringen. »So finden wir heraus, wie KI mit Menschen zusammenleben sollte, anstatt dass die KI uns das sagt«, erklärt Tang. ­Alle Daten auf der Plattform sind öffentlich zugänglich. Und die Bürgerinnen können Informationen aus ihren Lebenswelten in das System einspeisen, so dass diese dann in bürgernahe Lösungen einfließen.

»Früher haben wir Demokratie als Konflikt zwischen divergierenden Werten gesehen, jetzt muss Demokratie zu einem Gespräch vieler verschiedener Werte werden«, erklärt Tang. Die Bevölkerung kann auf der Plattform Argumente bewerten oder eigene einbringen. Es gibt regelmäßige Konsultationen, und Politikerinnen stellen sich dem persönlichen Gespräch. Audrey Tang beispielsweise hört sich jede Woche zwölf Stunden Veränderungswünsche oder Kritik an. Und alle Gespräche mit den Bürgern können auf der Online-Plattform angesehen werden. Wie groß das Vertrauen und Engagement der Taiwanesen in diesen bürgerzentrierten Ansatz ist, zeigte sich, als die Politik das Thema Luftreinheit aufgriff. Rund 2.000 Bürgerinnen investierten umgerechnet etwa 100 Euro, um sich Messgeräte zu kaufen und die Daten aus ihrer Umgebung in das Regierungssystem einzuspeisen.

Es ist beeindruckend, wie es Taiwan innerhalb weniger Jahre gelungen ist, einer sich verselbstständigenden Künstlichen Intelligenz damit Wege des konstruktiven menschlichen Umgangs zur Seite zu stellen. Im Inselstaat scheint KI wirksam den Menschen zu dienen und niemand hat die Macht, sie gegen die Interessen der Bevölkerung zu wenden. Statt um Kontrolle geht es hier um Kollaboration. Darum, wem wir Vertrauen schenken können. Experten warnen bereits, dass die dynamische Entwicklung Künstlicher Intelligenz selbst demokratische Gesellschaften zunehmend bedroht. Sind wir bereit, das Menschliche in der Politik zu verteidigen?

Author:
Dr. Nadja Rosmann
Share this article: