Zusammen in die Mitte hineinhören

Our Emotional Participation in the World
English Translation
0:00
0:00
Audio Test:
Interview
Published On:

July 17, 2023

Featuring:
Juanita Brown
William Isaacs
Categories of Inquiry:
Tags
No items found.
Issue:
Ausgabe 39/2023
|
July 2023
Wegmarken
Explore this Issue

Please become a member to access evolve Magazine articles.

Die World-Café-Gründerin Juanita Brown und der Dialog-Begleiter William Isaacs sprechen über die Möglichkeiten und die Bedeutung des kreativen Raums zwischen uns.

evolve: Juanita, was hat dich zur Gründung der World Cafés veranlasst und warum sind sie deiner Ansicht nach wichtig?

Juanita Brown: Die Entwicklungen in diesem Bereich der »Wir-Räume« schaffen die Voraussetzungen für Kreativität und neues Denken. Das World Café ist eine dieser Methoden, die diese Form von Kreativität ermöglichen, aber es ist nur eine von vielen Praktiken. Oft nutze ich folgende Metapher dafür: Ich bin in Mexiko aufgewachsen, im Haus meiner Großmutter. Sie lebte in einem alten, typisch mexikanischen Haus, wo es einen wunderschönen Innenhof gab mit einer Mitte, die ein Brunnen und große Blumentöpfe schmückten. Von allen Seiten gab es Bogengänge, wodurch man diese Mitte erreichen konnte. Für mich ist die Arbeit mit dem Kollektiven ähnlich: Es gibt viele Wege in diesen gemeinsamen Raum der menschlichen Erfahrung, den wir als bewussten Dialog, kollektive Intelligenz oder die Magie in der Mitte bezeichnen können. Wenn wir in diesem Garten in der Mitte sitzen, erleben wir etwas Besonderes: Die Grenzen zwischen Ich und Wir werden durchlässig. Beim World Café konzentrieren wir uns auf Fragen, die für die Teilnehmenden wichtig sind, und betrachten sie wechselseitig aus verschiedenen Perspektiven. So können wir ein lebendiges Netzwerk von Gesprächen schaffen, wenn wir zusammen »in die Mitte hineinhören«. Man weiß nicht genau, woher die Ideen kommen, weil sie scheinbar in diesem Garten in der Mitte entstehen.

William Isaacs: Das erinnert mich an den Ausspruch von Rumi: »Jenseits von richtig und falsch liegt ein Garten. Dort werde ich dir begegnen.« Dieser Garten ist das gemeinsame Ganze. Ich habe herausgefunden, dass die interessanteste Herausforderung darin besteht, diese vollkommen präsente Wirklichkeit zu verstärken. In meiner Arbeit untersuche ich, wie wir zu Öffnungen, Eintrittspunkten und Ausdrucksformen für diese gemeinsame Präsenz werden können. Denn die Idee des Ganzen müssen wir holografisch denken. Jeder von uns ist ein Aspekt des Ganzen, ob wir es erkennen oder nicht. Wenn wir es erkennen, haben wir viel mehr Möglichkeiten, in der Welt zu wirken. Diese Fragen habe ich in den vergangenen Jahren in herausfordernden Kontexten untersucht, z. B. in Unternehmen, Leitungsteams großer Konzerne oder mit Politikerinnen und Premierministern.

»Die Grenzen zwischen Ich und Wir werden durchlässig.«

e: Was geschieht in diesen Gesprächen? Was geschieht in der Mitte, wenn sich Menschen so begegnen? Und welches Potenzial seht ihr hier?

WI: In der Arbeit mit dem Intersubjektiven geht es heute vor allem darum, herauszufinden, wie dieses bereits existierende Ganze überhaupt funktioniert. Wir haben diese außergewöhnliche Fähigkeit des Bewusstseins, wissen aber kaum, wie es eigentlich wirkt. Unser Bewusstsein ist ein kollektives, ganzheitliches System, aber wir sind so konditioniert, dass wir in Trennungen leben. Einander wahrzunehmen, scheint wie ein großer Schritt zu sein; aber das ist nur der Anfang. Etwas viel Subtileres kann in unserer Begegnung möglich sein und das hängt von der Qualität des Bewusstseins ab, die wir zwischen uns schaffen können. Deshalb ist es so wichtig für Gruppen, die Qualität des Bewusstseins, die sie in den Dialog bringen, zu verfeinern.

JB: Die Schaffung dieser kollektiven Substanz oder dieses intersubjektiven Bewusstseins ist sehr wichtig. Das führt zu einer weiteren Frage: Formt das Kollektiv das Individuum oder das Individuum das Kollektiv? Wodurch kann diese kollektive Substanz im Raum zwischen uns entstehen, »jenseits von richtig und falsch«? Welche Voraussetzungen können dazu führen, dass dieses Phänomen wahrscheinlicher wird, sodass es die Menschen nicht mehr nur anziehend und interessant finden, sondern dass es auch ihre tiefsten Hoffnungen berührt?

e: In den Gesprächen, die wir beschreiben, weiß jeder, dass sie oder er etwas erfahren hat, das über alle bisherigen Erfahrungen der Begegnung hinausgeht. Jeder scheint zu spüren, wie wichtig es ist. Wie ihr schon gesagt habt, es zeigt sich eine tiefere Empathie und ein Erkennen unseres gemeinsamen Menschseins. Die Grenzen werden transparent, aber sie verschwinden nicht – wir sind weiterhin autonome Individuen.

Universelle Intimität

JB: Es entstehen viele verschiedene Qualitäten in solchen Dialogen. Es zeigt sich eine wunderbare Essenz, die wir Liebe nennen können. Keine romantische Liebe, aber ein tiefes Gefühl der Freundschaft. In diesem Gefühl der Freundschaft spüren wir »Wir sind«, aber das bedeutet nicht »Ich bin nicht«. Ich bin und wir sind. Die besten kollektiven Lernerfahrungen, wo immer sie auch auftreten – in einer sozialen Bewegung oder in einem Vorstandstreffen –, ermöglichen dieses Wechselspiel zwischen dem Individuellen und dem Kollektiven. Wir erfahren eine individuelle und kollektive Authentizität als gemeinsame Wirklichkeit. Dann finden wir Zugang zu dieser Ganzheit. Wir finden individuell Zugang zu den Erfahrungen der kollektiven Energie.

WI: Wie wir gleichzeitig einzigartiger wir selbst und mit anderen tiefer verbunden sein können, ist nur dann ein Paradox, wenn wir von der Annahme ausgehen, dass wir im Grunde getrennt sind. Aber wir erkennen in solchen Erfahrungen: Ich bin Teil des Ganzen. Wir entdecken die natürliche Erfahrung, Teil eines lebendigen Ganzen zu sein. Jeder Aspekt dieses Ganzen ist einzigartig. Auf jeder Ebene – mikroskopisch, makro­skopisch, kosmisch – gibt es diese beeindruckende Verschiedenheit, die in Einem vereint ist. Das kann der Verstand nicht erfassen. Angesichts dessen ist es angemessen, Demut zu empfinden. Unsere intellektuellen Anstrengungen, es vollkommen zu verstehen, sind zum Scheitern verurteilt. Man kann es nicht vollkommen ergründen. Aber wir können es durch dieses Gefühl der Verbundenheit erfahren. Freundschaft ist ein schönes Wort dafür. Viele frühe christliche Gemeinden nannten es »Koinonia«.

Das Gespräch führte Elizabeth Debold für die Ausgabe 6/2015 – das gesamte Interview finden Sie auf evolve-world.org unter dem Titel "Die Magie in der Mitte"

Author:
Dr. Elizabeth Debold
Share this article: