Die Pause vor dem großen Einatmen

Our Emotional Participation in the World
English Translation
0:00
0:00
Audio Test:
Interview
Published On:

July 17, 2023

Featuring:
Ruth Langford
Categories of Inquiry:
Tags
No items found.
Issue:
Ausgabe 39/2023
|
July 2023
Wegmarken
Explore this Issue

Please become a member to access evolve Magazine articles.

Die Zukunft aus der Sicht einer 40.000 Jahre alten Kultur

Ruth Langford kommt aus der viele Jahrtausende alten Tradition der Aborigines Tasmaniens. Ihre Vorfahren überlebten zwei Eiszeiten und glaubten zutiefst an die Regenerationsfähigkeit unserer Erde, trotz aller offensichtlichen Zerstörung.

evolve: Du stammst aus einer lebendigen indigenen Tradition. Verstehst du die Weltsicht und Lebenspraxis, mit der und in der du lebst, als Religion?

Ruth Langford: Es ist unser Geburtsrecht als Menschen, in Verbindung zu sein, uns zugehörig zu fühlen und zu verstehen, dass wir im Ganzen eine wichtige Rolle innehaben. Zu diesem Geburtsrecht gehört auch die Fähigkeit, aus allen uns zugänglichen Quellen der Weisheit zu schöpfen. Religiöse Systeme können uns dieses Geburtsrecht zugänglich machen oder sie können dazu genutzt werden, es zu ersticken. Nach dem Verständnis der Aborigines leben wir in einer neuen Zeit, die als die Pause zwischen Ein- und Ausatmen bezeichnet wird. Seitdem sich die Menschheit ihres Menschseins bewusst wurde, entstand in uns das Wissen, dass wir als das Eine verbunden sind. Während der letzten Jahrtausende haben wir uns von diesem Wissen entfernt. Weltweit haben wir uns in Stämme aufgespalten, in tektonische Platten, in Länder und Staaten. Das war das große Ausatmen in Richtung Unterscheidung und Trennung. Religion ist nur eine Manifestation dieser vielfältigen Formen von Trennung.

Wir können beobachten, wie die Religionen in den vergangenen fünf- bis zehntausend Jahren die Trennung als Konzept der Wirklichkeit zum Ausdruck gebracht haben und sich dies in unterschiedlichen Formen zeigte. Der Große Kosmos hat sich auf diese Weise entfaltet. Aber es führt die Menschheit auch an diesen Punkt der Krise, wo die Menschen die beschränkte Sichtweise einer einzelnen, separaten Religion tatsächlich übernehmen. Wir verstehen nicht mehr, dass wir multidimensionale Wesen mit vielschichtigen Wahrheiten sind und dass es in Wirklichkeit nur das Eine gibt. Wenn wir die Oberfläche anschauen, sehen wir diese große Trennung. Aber wir können in eine andere Wirklichkeit eintauchen, in diese Pause vor dem großen Einatmen, bevor wir uns wieder mit dem Wissen verbinden, dass wir multidimensionale spirituelle Lebensformen in dem Einen sind.

Eine Zeit der Wiederverknüpfung

e: Wie hat sich dieser weite Blick auf unser Leben im Kosmos für dich aufgetan?

RL: Diese Lehren erhielt ich schon als junge 23-jährige Aktivistin. Ich spürte, dass die Welt sich ändern muss, weil alles im Chaos versinkt. Doch die Ältesten meiner Tradition sagten mir, dass ich nur die Oberfläche sehe. Wenn ich tiefer blickte, könnte ich sehen, dass wir uns in dieser Zeit befinden, in der das Netz der Menschheit wieder zusammengeknüpft wird. Die Lieder, die wir singen, stammen aus allen Teilen der Welt, wir tanzen Tänze von überall her auf dem Globus. Es gibt diese andere Wirklichkeit, die tatsächlich auf dem ganzen Planeten wirkt, um uns an die Verbundenheit zu erinnern. Die machtvollste Manifestation dieser Wiederverbindung ist die Tatsache, dass wir Kinder mit gemischter genetischer Herkunft gebären. Diese genetischen Abstammungslinien kommen zusammen und manifestieren sich physisch in den Kindern.

»Wir sind die Kinder der Erde.«

Religionen und spirituelle Ideen manifestieren sich ebenfalls in dieser neuen Weise der Wiederverknüpfung. Vielfältige Strömungen und Ideen, die in unseren Religionen weitgehend getrennt erschienen, kommen nun zusammen. Ich war bei Versammlungen, wo man ein Didgeridoo zusammen mit einer tibetischen Klangschale hören konnte. Die Menschen sitzen zusammen und erleben die Verbindung zu unterschiedlichen Gottheiten, die nicht zu ihrer ursprünglichen Abstammungslinie gehören. Wir wissen, dass wir in dieser neuen Zeit leben. Es gibt die neue Ausformung alter Weisheiten, die eine neue Art von Ursprünglichkeit für diese neue Zeit erweckt und uns auf das Einatmen vorbereitet. Wir sind noch nicht im Einatmen, aber die Vorbereitung dazu läuft im gegenwärtigen Moment.

Eine neue Ursprünglichkeit

e: Kannst du erklären, was du mit »einer neuen Art von Ursprünglichkeit« meinst?

RL: In vielen Prophezeiungen und Zeremonien sehen wir das Erwachen des Mysteriums. Verborgene schöpferische Wesen, Gedankenformen, spirituelles Wissen oder uralte Geheimnisse überall auf der Welt, die bislang überwiegend im Schlummer lagen, erwachen. Sie lassen neue Formen der Wiederverbindung entstehen und bilden neue Formen des Dialogs, die die Ursprünglichkeit wieder erwecken werden. Wir sprechen von »Aboriginality«, der Weisheit der Aborigines, der indigenen Völker, um damit den ursprünglichen Weg zu beschreiben, auf dem wir Menschen unser Geburtsrecht der Verbundenheit kennengelernt haben. Wir kommen nun in eine neue Zeit, in der wir eine neue Ursprünglichkeit erwecken werden. Es gibt keinen Weg zurück, wir können die uralten Traditionen nicht wieder aufnehmen, wir müssen unsere eigene Ursprünglichkeit finden.

e: Wie schöpfst du Hoffnung in diesen Zeiten der Zerstörung?

RL: In meiner Jugend habe ich von Aborigines-Familien, die an unserem Küchentisch saßen, viel über Abstammungslinien und die Geschichten über große Zerstörungen gehört. Ich habe auch stolze Geschichten über die Widerstandsfähigkeit und das Wissen unseres Volkes gehört. Diese Widerstandsfähigkeit kam aus dem Wissen, dass die Aborigines im südlichen Australien gut vernetzt sind. Wir haben zwei Eiszeiten überlebt, in denen das Eis das gesamte Land bedeckte und man über Landbrücken gehen konnte, die jetzt unterm Wasser verschwunden sind. Die alten Völker verstanden es, auf Veränderungen zu reagieren. Die Weisheitstraditionen und unser Verständnis haben uns die Fähigkeit gegeben, uns im Einklang mit der Mutter selbst zu bewegen, während sie diese Stadien des Übergangs durchläuft.

Wir sind die Kinder der Erde und wir stehen auf, wenn sie uns zu Hilfe ruft. Es ist für uns ganz natürlich, uns mit einem Felsen, einem Baum, einem Stern oder mit unseren Ahnen zu verbinden. ■

Das Gespräch führte Elizabeth Debold für die Ausgabe 21/2019 – das gesamte Interview finden Sie auf evolve-world.org

Author:
Dr. Elizabeth Debold
Share this article: