Der dritte Attraktor

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

October 23, 2023

Featuring:
Daniel Schmachtenberger
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Issue:
Ausgabe 40/2023
|
October 2023
Auf der KIppe
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Jenseits von Selbstzerstörung und Fremdkontrolle

Daniel Schmachtenberger hat sich intensiv mit der Metakrise befasst, in der wir uns gegenwärtig befinden. Er erforscht die komplexen Wechselwirkungen der ökologischen, sozialen, politischen und spirituellen Krisen, die durch die rasche Entwicklung künstlicher Intelligenz noch verstärkt werden. Trotz des zunehmenden Risikos katastrophaler Ereignisse sieht er auch Hoffnung.

evolve: Was war deine Reaktion, als ChatGPT veröffentlicht wurde?

Daniel Schmachtenberger: Für mich war es die groß angelegte öffentliche Einführung einer Technologie, die die Menschen schnell für viele Dinge nutzen, von der sie sich abhängig machen und auf der sie Unternehmen aufbauen würden. Aber diese Einführung erfolgte ohne die notwendigen Sicherheitsvorkehrungen. Die Risiken waren nun in der Öffentlichkeit und sehr schwer rückgängig zu machen. Die Fähigkeiten dieser KI-Systeme wurden schnell dezentra­lisiert, sowohl durch undichte Stellen als auch durch das Reverse Engineering, in dem man die Konstruktion dieser Systeme analysiert, nachbauen oder ein Open-Source-Modell erstellen kann.

OpenAI hat ein Papier über die Skalierungsgesetze dieser Technologie verfasst, aus dem hervorgeht, wie viel leistungsfähiger sie mit einer einfachen Erhöhung der Daten und Parameter werden kann. Noch leistungsfähiger wird sie durch Multimodalität, also die Fähigkeit, nicht nur Text in Text, sondern auch Text in Bilder, Videos und Musik zu übertragen.

Ich dachte an die umfassenden Deepfake-Potenziale, wodurch man jedes Medium fälschen kann, aber auch an die Möglichkeit, funktionell über das Äquivalent eines riesigen Forschungsteams zu verfügen, das sich mit Chemie, Physik, Technik und Biologie auskennt. Man kann in natürlicher Sprache Fragen stellen und Antworten für alle möglichen Zwecke erhalten, einschließlich positiver und destruk­tiver Zwecke.

Meine größte Sorge war und ist jedoch, dass die KI die katastrophale Macht radikal dezentralisiert. Infolgedessen nimmt die Zahl der möglichen Katastrophenszenarien zu. Die Eintrittsbarriere zu kata­strophalen Fähigkeiten sinkt. Sie steigert auch das Marktwachstum und die damit verbundene Umweltzerstörung, anstatt zu technologischen Effizienzsteigerungen zu führen, die der Umwelt zugutekommen. Wahrscheinlicher ist, dass durch eine weitere Steigerung der Produktivität die Überschreitung der planetarischen Grenzen, deren Wahrung für eine lebensfreundliche Atmosphäre lebensnotwendig ist, beschleunigt wird.

KI erhöht also das Risiko von Kata­­strophen und eröffnet autoritäre Dystopien. Diese Technologie kann »böse Akteure« dazu befähigen, Dinge zu tun, die zu gewalttätigen, furchtbar zerstörerischen Ereignissen führen könnten. Sie kann aber auch »guten Akteuren« die Möglichkeit geben, durch die Optimierung der Lieferkette und die Nutzung von Energie die Effizienz ihrer Geschäfte zu steigern, was ihnen Wachstum ermöglicht. Das Endergebnis ist mehr Ausbeutung von Ressourcen und mehr Umweltverschmutzung.

Aber KI radikalisiert auch die Dystopien. Wie erdrückend ein Kontrollsystem von oben nach unten sein kann, wird durch die Fähigkeit begrenzt, Informationen darüber zu verarbeiten, was jeder tut. Wenn man ein Internet der Dinge etabliert, das mit Sensoren und Monitoren überwacht, was jeder überall tut, und KI in der Lage ist, all das zu verarbeiten, kann man ein zentralisiertes Regierungssystem schaffen. Wir sehen also: Die Großen Sprachmodelle wie ChatGPT sind eine Technologie, die die Entstehung von Katastrophen und Dystopien begünstigen kann.

Dezentrale Gefahr

e: Was bedeuten diese Technologien für uns Menschen, insbesondere für den menschlichen Geist?

DS: KI ist eine mächtige Technologie. ­Es wäre dumm, die vielen Möglichkeiten nicht anzuerkennen, die wir alle gerne nutzen würden. Wir sind daran interessiert, die Immunonkologie für Krebs bei Kindern voranzutreiben, Technologien zur Verringerung der Umweltverschmutzung oder zur Nutzung von Fusionsenergie einzusetzen. Es gibt auch überraschende positive Auswirkungen der Chat-Funktionen. Aufgrund der Ein-Kind-Politik in China gibt es im Verhältnis zu den Frauen viele Millionen überzählige Männer, die keine Frauen finden. Das ist ein schrecklicher Zustand, der normalerweise zu Gewalt in der Gesellschaft führt. Aber in China wird eine große Anzahl von ihnen jetzt von einem weiblichen Chatbot unterhalten. In mancher Hinsicht ist das besser als totale Einsamkeit und Gewalt.

»Es gibt eine naive Fortschrittserzählung, dass die Dinge immer besser werden.«

Es gibt auch die Erforschung von Chatbot-Funktionen als Betreuer für ältere Menschen. Sie haben jemanden, mit dem sie sich unterhalten können, der mit ihnen spricht und ihren Namen kennt, im Gegensatz ­dazu, dass sie allein vor dem Fernseher­ ­sitzen. Gleichzeitig ist es traurig, dass unsere Antwort nicht darin besteht, die Begegnung zwischen älteren und jungen Menschen zum Zentrum unserer Kultur zu machen. Wir machen es uns zu einfach, wenn wir die Begegnung mit älteren ­Menschen oder Kindern Robotern überlassen.

Ähnlich verhält es sich, wenn wir über die Anwendungen im Bildungswesen nachdenken: Ist es nicht eine unglaubliche Chance für die Bildung, einen Tutor-Bot zu haben, der alles weiß und sich pädagogisch auf den Schüler einstellen und so unterrichten kann, wie der Schüler lernen möchte? Andererseits kann der Bot keine Liebe für den Schüler empfinden, er kümmert sich nicht um ihn. Erfahrungen der Verbundenheit, die von den Spiegelneuronen ausgehen, sind unmöglich. Wie wichtig ist das für den Bildungsprozess?

Es gibt interessante Anwendungen der Technologie für den menschlichen Geist. Aber die Art und Weise, wie der Markt und die Regierungen dies vorantreiben, bewegt sich eher in die Richtung, die die meisten Technologien eingeschlagen haben: Es führt im Allgemeinen eher zu einer Verarmung des Geistes. Dies ist eine Technologie, durch die unsere Spezies nicht nur geistig, sondern auch biologisch aussterben kann.

e: Kannst du das biologische Risiko erklären?

DS: Die großen Labors, die öffentlich zugängliche Versionen von LLMs (Large Language Models) erstellen, handhaben rechtliche Kontrollen, die sie daran hindern, eine Frage wie »Wie stellt man Anthrax her?« zu beantworten. Für illegale Versionen und Open-Source-Versionen gelten diese Einschränkungen jedoch nicht. Nationale US-Laboratorien und Open-Source-Forscher lassen Open-Source-LLMs Fragen beantworten wie »Wie viele Menschen kann ich mit einer Summe von X Dollar mit biologischen Waffen töten? Was wäre ein schrittweiser Prozess zur Synthese spezieller Genome? Woher bekomme ich Gendrucker?« So lassen sich auch Drohnenangriffe auf gefährdete Infrastrukturziele vorbereiten. Mit dieser Art von Informationen ist die KI eine Katastrophenwaffe auf nuklearem Niveau, die radikal dezentralisiert ist.

In einer Situation, in der das Stockholm Resilience Centre gerade gezeigt hat, dass wir sechs der neun planetarischen Grenzen radikal überschritten haben, bedeuten die Vorteile von KI für die Wirtschaft aufgrund von Effizienzsteigerungen nicht, dass man ökologisch nachhaltig wird. Im Gegenteil, man verbraucht mehr, weil die Effizienzsteigerung weniger Material- oder Energiekosten und damit einen billigeren Input für einige Marktbereiche zur Folge hat, die vorher nicht rentabel waren. Insgesamt werden mehr Ressourcen verbraucht, es sei denn, man hat ein entsprechendes Gesetz, das diese Anwendungen reguliert. Dieselben Technologien können von staatlichen Akteuren genutzt werden, um bessere Hyperschallraketen und KI-Waffensysteme herzustellen, wozu es genügend Anreize gibt. Außerdem gibt es die Entwicklung hin zu einer autonomen KI, die als eigenständiger Agent agieren kann. All dies führt zu möglicherweise existenziell bedrohlichen Szenarien.

Naiver Fortschrittsglaube

e: Mit der Technologie ist die Hoffnung verbunden, dass ihr Fortschritt auch zu einem besseren Leben für immer mehr Menschen führen wird. Siehst du diese Vorstellung durch die neue Technologie und ihre Risiken erschüttert?

DS: Es gibt eine naive Fortschrittserzählung, dass die Dinge immer besser werden, dank der Technik, des Kapitalismus, der Wissenschaft und der Demokratie – all der Dinge, die die Moderne mit sich brachte. Aber dieses Narrativ ist das Ergebnis der Geschichte, die von den Gewinnern geschrieben wird, die ausreichend Ressourcen haben, dieses Narrativ zu schaffen und aufrechtzuerhalten. Es kommt selten vor, dass jemand gewinnt und sagt, dass wir eigentlich die Bösen sind: Wir waren gewalttätiger. Sie waren die besseren Menschen, wir hatten nur wirksamere Waffen.

Die Idee des technischen Fortschritts und die Vorstellung, dass alles besser wird, lässt die 100 Millionen ermordeten Ureinwohner Amerikas außen vor. Für sie gilt nicht dieselbe Geschichte des Fortschrittsnarrativs. Die Milliarden von Tieren in der Massentierhaltung und die Arten, die jeden Tag durch menschliches Handeln aussterben, passen auch nicht in diese Fortschrittserzählung.

»Meine größte Sorge ist, dass KI die katastrophale Macht radikal dezentralisiert.«

Mit unserer Technologie lösen wir einige enggefasste Probleme für uns, um unseren unmittelbaren Machtgewinn zu vergrößern, während wir vielen anderen Orten, Menschen, Tier- und Pflanzenarten Schaden zufügen. Wir tun dies mit einer begrenzten Intelligenz, die einen vom Ganzen getrennten Teil betrachtet und sagt: »Ich werde mehr aus diesem Teil herausholen.« Alle Technologien, die der Mensch geschaffen hat, nutzten diese Intelligenz, die bestimmte verwertbare Teile aus dem Ganzen herauslöst und die kausalen Beziehungen findet, um daraus eine Technik zu machen. Alle Technologien, die der Mensch je geschaffen hat, wie die Spaltung von Atomen und die Bearbeitung von Genomen, beruhen auf dieser Intelligenz. Die künstliche Intelligenz macht diese Form der Intelligenz außerhalb von uns selbst exponentiell wirksamer. Es bedeutet, dass diese Art von Intelligenz sich selbst immer weiter verstärkt und verwirklicht. Auf diese Weise unterscheidet sie sich von allen anderen Technologien.

e: Diese Form der Intelligenz trennte auch Geist und Körper. Mit den Großen Sprachmodellen haben wir einen externalisierten Geist und keinen Körper voneinander. Was ist also der Mensch in diesem Kontext? Die KI, die aus eigener Kraft handeln kann, scheint der Gipfel des modernen Geistes zu sein.

DS: Ja, genau. Wenn wir der naiven Fortschrittserzählung Glauben schenken, besteht die Standardannahme darin, dass KI gut ist, weil sie Fortschritt bedeutet. Wenn wir jedoch die naive Fortschrittserzählung hinterfragen, stellen wir fest, dass sich die Lebensqualität einer kleinen Anzahl von Lebewesen innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums verbessert hat. Viele Lebewesen wurden in dieser ganzen Zeit geschädigt, und die Zukunft aller Lebewesen wird durch diesen Prozess gefährdet. Vielleicht werden wir dieses wunderschöne blaue Juwel von einem Planeten zur Wüste und für alles komplexe Leben unwirtlich machen. Und das alles, weil wir Kutschen ohne Pferde nutzen wollen. Für diese pferdelosen Kutschen haben wir den Verbrennungsmotor entwickelt, für den das Öl etwa 125 Jahre lang nützlich war.

Als Nebeneffekt dieser Entwicklung vergiften wir den Planeten, und wir können nicht aufhören, weil wir so sehr von der Nutzung des Öls abhängig sind. In ähnlicher Weise werden wir nicht mehr aufhören können, wenn wir die KI so weit eingesetzt haben, dass ihre schädlichen Auswirkungen sichtbar werden. Aber die Geschwindigkeit der Auswirkungen und das Ausmaß stellen alles bisher Dagewesene in den Schatten.

Der Weg zwischen den Katastrophen

e: Dieser Vergleich ist sehr vielsagend. Wir nutzen fossile Brennstoffe erst so kurze Zeit und die Zerstörung ist außergewöhnlich. Aber bei der KI reden wir über Jahre, nicht Jahrzehnte.

DS: Ja, ChatGPT hat in fünf Wochen 100 Millionen Nutzer erreicht. Der Verbrennungsmotor brauchte sehr lange, um auf 100 Millionen Nutzer zu kommen. Ich kann viel mit einem Verbrennungsmotor machen, ich kann Züge, Traktoren, Boote bauen, aber nichts von dem, was man mit KI machen kann, denn das ist buchstäblich alles, was die menschliche Intelligenz kann.

Mit dieser Macht sehe ich zwei mögliche katastrophale Attraktoren und suche nach einem dritten Attraktor, der über diese katastrophalen Risiken hinausgeht.

Mit dem ersten Attraktor meine ich die Katastrophen, die sich aus dem Verlust der biologischen Vielfalt, dem Aussterben der Arten, der Umweltverschmutzung, dem Klimawandel und der dadurch verursachten Migration der Menschen, den Ressourcenkriegen und dem Zusammenbruch der Versorgungsketten ergeben. Der zweite Attraktor ist eine Reaktion auf dieses globale Katastrophenrisiko. Einige wollen der Regierung mehr zentralisierte Kontrolle geben, ohne ausreichende Beaufsichtigung, meist in öffentlich-privaten Partnerschaften mit den Unternehmen, die mit diesen Aktivitäten Profit machen. Ein Weg, schreckliche Ereignisse zu vermeiden, besteht in verstärkten Kontrollen, was zu immer mehr Kontrolldystopien führt. Gegenwärtig nimmt die Wahrscheinlichkeit von Katastrophen größeren Ausmaßes radikal zu, und gleichzeitig steigt die Wahrscheinlichkeit solcher Kontrolldystopien. Aber wir wollen eine Zukunft, die weder das eine noch das andere ist.

Was könnte ein dritter Attraktor sein? Es wäre eine menschliche Zivilisation mit einer Technosphäre und einer sozialen Sphäre, die mit der Biosphäre kompatibel sind. Das setzt voraus, dass wir die Macht unserer Technologie sicher verwalten, so dass wir weder den Planeten noch uns gegenseitig zerstören, sondern unseren ganzen Einfluss für das Leben einsetzen. Aber das haben wir bisher in der Geschichte noch nie getan. Es bedeutet also, dass wir eine noch nie dagewesene menschliche Präsenz entwickeln müssen. Es gab zwar vereinzelt lebensbejahende Kulturen, die als Präzedenzfälle gelten können, aber in diesem historischen Ausmaß ist es beispiellos.

Der dritte Attraktor erfordert also, dass wir über die nötige Weisheit verfügen, um nicht nur zu lenken und zu leiten, sondern die gesamte Bandbreite unserer technologischen Möglichkeiten zu nutzen und die menschlichen Bedürfnisse in einer Weise zu erfüllen, die mit der Biosphäre vereinbar ist. Ich glaube nicht, dass KI allein viel für einen dritten Attraktor tun kann, aber sie kann Teil einer Reihe von inte­grierten Lösungen sein. Im Kern geht es dabei um eine viel bessere menschliche kollektive Intelligenz und kollektive Weisheit, durch die der einzelne Mensch die Welt weitaus besser versteht und erkennt, was wahr, gut und schön ist. Dies würde wesentlich bessere Kommunikationsprozesse mit anderen Menschen erfordern, um kollektiv Sinn bilden und Entscheidungen treffen zu können. KI könnte dies durch die Verarbeitung riesiger Datenmengen unterstützen, ohne den Menschen zu ersetzen. Sie könnte einen auf den Menschen ausgerichteten, auf Weisheit basierenden Prozess unterstützen. Jede Version eines dritten Attraktors muss über eine solche Architektur verfügen.

e: Das würde bedeuten, dass die menschliche Weisheit den Weg der KI bestimmt und nicht die Marktlogik.

DS: Die menschliche Weisheit muss den Weg des Menschen leiten, der alle unsere technologischen Entwicklungen und Anwendungen, einschließlich der KI, einschließen muss. KI muss gute menschliche Entscheidungen unterstützen, sie nicht ersetzen und sie nicht zum Zwecke von Eigeninteressen manipulieren. Es ist sehr einfach, Menschen dazu zu bringen, auf Facebook-Anzeigen zu klicken, anstatt Menschen dabei zu unterstützen, gute Entscheidungen zu treffen. Auf diese Weise wird die Technologie zu einer Waffe gegen die Souveränität des Menschen, sie manipuliert seine Entscheidungsfindung.

Können wir nun KI nutzen, um den Menschen eine viel bessere Verarbeitung von Daten zu ermöglichen? Stellen wir uns vor, ich hätte meinen ChatGPT so strukturiert, dass ich ihn gebeten hätte, mir eine bestimmte Nachrichtensituation aus dem Schwerpunkt der politisch linken oder progressiven Perspektive und dann aus dem Schwerpunkt der politisch rechten oder konservativen Perspektive zu präsentieren und mir dann zusätzliche alternative Nachrichtenperspektiven zu geben – einschließlich der Quelle der Informationen, die jede dieser Perspektiven unterstützen. Dann kann ich herausfinden, ob es eine übergeordnete Synthese gibt, die all diese Informationen am besten in Einklang bringt. Wenn wir die Informationstechnologie so strukturieren würden, um solche Prozesse zu unterstützen, könnte sie sehr hilfreich sein.

Kluger Umgang mit Macht

e: Welche Fähigkeiten müssen die Menschen entwickeln, damit dies geschehen kann?

DS: Wir haben gerade verschiedene Aspekte angedeutet, die für eine Zivilisation, die dem dritten Attraktor folgt, berücksichtigt werden müssten – und an denen schon einige Leute arbeiten und mehr Leute arbeiten müssen. So müssen wir zum Beispiel daran arbeiten, das KI-Risiko auf der Ebene von Hardware, Software und Politik zu mindern. Wir müssen auch an der Umkehrung der planetarischen Grenzen arbeiten, indem wir alle Pestizide aus der Umwelt entfernen. Wir müssen an der Zukunft des Regierens und der politischen Ökonomie arbeiten, die kollektive Intelligenz und kollektive Entscheidungsfindung einschließt. Und wir müssen auch über folgende Fragen nachdenken: Welche Arten von Weisheit sind am wichtigsten, um gut mit exponentiellen Technologien umzugehen, und wie können wir diese Weisheit am besten in den Menschen entwickeln? All diese Wege müssen beschritten werden. Und wir alle müssen uns auf die Art und Weise engagieren, zu der wir am besten fähig und inspiriert sind.

»Wir handeln aus einer begrenzten Intelligenz, die einen vom Ganzen getrennten Teil betrachtet.«

e: Kannst du etwas genauer erklären, warum du von einem dritten Attraktor sprichst?

DS: Wenn man sich ein Wassereinzugs-gebiet auf der einen Seite eines Berges vorstellt, kann das Wasser viele verschiedene Wege nach unten nehmen, aber es wird zur tiefsten Stelle fließen. Diese tiefe Stelle ist ein Attraktor, und das Wasser kann auf vielen verschiedenen Wegen zu diesem Attraktor gelangen. Migranten, die durch den Klimawandel in einen Ressourcenkrieg geraten, sind also etwas ganz anderes als KI. Synthetische Biotechnologie, die neue Pandemien schafft, ist etwas ganz anderes als riesige Waldbrände.

Es gibt viele Katastrophen, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, aber sie sind alle Teil einer Zukunft, die zunehmend von katastrophalen Zusammenbrüchen geprägt ist. Wir nennen das einen Attraktor. Es ist ein zukünftiger Zustand, der durch sehr unterschiedliche Dinge definiert ist, die alle bestimmte Eigenschaften gemeinsam haben. Mächtige Nationalstaaten, die immer mehr Kontrolle erlangen, oder sehr einflussreiche Unternehmen, die immer mehr Daten und damit Überwachungsmöglichkeiten gewinnen, sind ein weiterer dystopischer Attraktor. Der dritte Attraktor wäre ein Zustand, der gleichzeitig schädliche Machtanwendungen und schädliche Machtkonzentrationen vermeidet, was einen klugen Umgang mit der Macht voraussetzt.

Vereinnahmte Sehnsucht

e: Es scheint, dass dieser dritte Attraktor in der menschlichen Motivation begründet sein muss. Die Ursachen für die Veränderungen in der Zivilisation auf diesem Planeten waren meist Impulse, die man als religiös bezeichnen würde oder die die menschliche Sehnsucht einfangen. Was kann der Mensch angesichts der Wettbewerbsdynamik, die in der Welt herrscht, dem entgegensetzen?

DS: Ich befinde mich gerade zufällig in dem Dorf in den Schweizer Alpen, in dem J. R. R.Tolkien die Idee für »Der Herrn der Ringe« hatte. In dieser Geschichte gibt es den Ring, der es einem ermöglicht, über alle zu herrschen. In unserer Geschichte war das Geld die erste Technologie, die wie der Ring war, der alle beherrschte. Die nächste Technologie, die solche Eigenschaften hat, ist die künstliche Intelligenz, denn sie ist auf jedes andere Produkt, jede Dienstleistung, jedes Problem und jedes menschliche Ziel anwendbar.

Geld ist ein Stellvertreter für jede andere Art von Wert, der an sich wertlos ist, aber für jede Form von Wert ein Träger sein kann. Es wurde das Einzige, was jeder wollte, weil es die Möglichkeit bot, alles andere zu bekommen, was man wollte. Das System, welches Geld und all die Dinge, die man mit Geld bekommt, erzeugt, hat die Sehnsucht, von der du sprichst, diese spirituelle Sehnsucht nach etwas Sinnvollem, vereinnahmt. Jeder will das, was ihm durch Facebook, Instagram oder die Werbung vorgegaukelt wird. So bin ich Teil der Maschine, in der ich das Geld verdiene, um das zu bekommen, was ich will. Das ist eine Vereinnahmung der menschlichen Sehnsucht.

Die Sehnsucht ist der Grund dafür, dass ich die Metapher des Attraktors verwende. Es gibt ein Verlangen nach einer radikal besseren, schöneren Zukunft als die beiden katastrophalen Formen von Zukunft, auf die wir derzeit zugehen. Das Tückische daran ist, dass das derzeitige Weltsystem, das die katastrophalen Formen von Zukunft vorantreibt, den Menschen einredet, dass sie nur so alles bekommen können, was sie wollen. Ihre Sehnsucht wird gefangen und ausgenutzt.

e: Das System sagt den Menschen, was sie wollen sollen.

DS: Ja, die meisten Menschen haben ­eine Art Stockholm-Syndrom in Bezug zum herrschenden System. Beim Stockholm-Syndrom entwickeln Geiseln eine psychologische Bindung zu ihren Geiselnehmern. Das derzeitige System macht die Menschen nicht glücklich. Es erfüllt sie nicht. Sie sind einsam. Sie nehmen Psychopharmaka, sie suchen ihr Glück im Außen. Sie leiden unter Nihilismus, Existenzangst, generalisierter Angst, Posttraumatischer Belastungsstörung und Süchten, aber sie wollen das System trotzdem nicht aufgeben.

»Es gibt in uns ein Verlangen nach einer radikal besseren, schöneren Zukunft.«

Ich glaube schon, dass es eine tiefere Sehnsucht gibt, die dieses System nicht erfüllen kann. Wir müssen uns das selbst gegenüber ehrlich eingestehen. Das kann dann eine Art Entzug oder Entgiftung nötig machen. Wenn man erkennt, was wirklich erstrebenswert ist, erkennt man den tatsächlichen Zustand der Welt und der Zeit, in der man lebt. Man erkennt, was wirklich sinnvoll ist. Dann kann man sich fragen: Wie gut spiegeln die Stunden meines Lebens diese Einsicht wider? Und wenn sie es nicht perfekt widerspiegeln, dann überlege, wie es aussehen würde, wenn sie es perfekt widerspiegeln würden und wie man von hier nach dort kommt.

Die wichtigen Fragen stellen

e: Könnte KI dabei helfen?

DS: Vielleicht geringfügig, wenn jemand seinen KI-Chatbot fragt: »Ich habe so viel Geld gespart. Ich möchte nicht mehr in dem Job arbeiten, von dem ich weiß, dass er schlecht für die Umwelt ist. Wo könnte ich mit dem Geld, das ich habe, auf der Welt leben?« ChatGPT hilft mir bei dieser Recherche. Das setzt aber voraus, dass ich mich bereits so verändert habe, dass ich mir diese Fragen stelle.

e: Dieser innere Wandel ist also der erste Schritt.

DS: Wenn die Menschen wirklich über den Klimawandel, die Erwärmung der Ozeane und die damit verbundenen Folgen nachdenken und auch das Artensterben, die chemische Verschmutzung, die Grenzen des Planeten und die neue Bedrohung durch die künstliche Intelligenz in Betracht ziehen, werden sie sich fragen: Ist es möglich, dass sich diese katastrophalen Veränderungen in meinem Leben und dem meines Kindes ereignen? Die Antwort lautet: Ja. Dann würden sie sich fragen: Was sollte ich angesichts dessen, was ich wertschätze und was mir wichtig ist, als vernünftige Antwort tun, um möglicherweise den Verlauf der Zukunft zu ändern und dabei meine Würde zu wahren? Ich hoffe, die Menschen nehmen diese Frage ernst. Ich hoffe, dass mehr Menschen beginnen, sich intensiver mit alternativen Zukunftsmöglichkeiten zu beschäftigen und ihre ganze Lebenskraft und kreative Energie in die Richtung lenken, die sie am meisten inspiriert. ■

Das Gespräch führte Elizabeth Debold. Es wurde aus Gründen der Kürze und Lesbarkeit aus der Mitschrift eines Live-Gesprächs zusammengestellt und entspricht daher nicht genau dem Wortlaut des Sprechers.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
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