Jenseits der Fragmentierung

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

April 30, 2024

Featuring:
Joana Breidenbach
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Issue:
Ausgabe 42/2024
|
April 2024
Die Kraft der Rituale
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Wie Räume der Verbundenheit entstehen

Joana Breidenbach hat in der »New Work«-Bewegung und der Transformation von Beziehungsfeldern durch das Internet immer wieder Impulse gesetzt, die auf die Notwendigkeit innerer Reifung verweisen. Denn dadurch können wir auch in neue Felder der Bezogenheit wachsen.

evolve: Welche neuen Entwicklungen und Notwendigkeiten siehst du aktuell in der »New Work«-Bewegung?

Joana Breidenbach: Es gibt einen Backlash, da viele Arbeitgeber wieder mehr auf Präsenz im Unternehmen drängen und viele Mitarbeitende damit nicht mehr mitgehen wollen und kündigen. Viele Menschen haben entdeckt, wie sensibel sie sind und dass sie einiges an ihrem vermeintlich normalen Alltag überwältigt. Und wir haben alle gemerkt, dass wir ganz anders leben und arbeiten würden, wenn wir mehr Zeit zur Reflexion hätten.

Es geht jetzt darum, sich viel tiefer mit dem zu verbinden, was gerade ist, nicht mit der Geschichte, die wir von uns und von der Welt erzählen. Die Wurzel von etwas Neuem liegt für mich in meditativen Räumen. In Räumen, in denen wir an etwas Essenzielles und Tiefes in uns selbst herankommen, das uns führt und leiten kann. Im Großen, aber auch in unseren alltäglichen Entscheidungen.

e: Du sprichst davon, dass diese Veränderung auch innere Arbeit braucht. Wie gehst du mit diesem Dilemma um, dass »Inner Work« ein langfristiger Prozess ist, während sich viele Organisationen weiterhin kurzfristigen und klar messbaren Zielen ausgesetzt fühlen?

JB: Organisationen, die versuchen, mit innerer Arbeit einen Transformationsweg zu gehen, sind ständig in der Spannung zwischen diesen Polaritäten. Sie wollen etwas Neues, müssen sich aber nach alten Logiken finanzieren. Diese Spannung spürt man als Individuum unweigerlich. Früher habe ich gedacht, dass das ein Problem ist. Mittlerweile denke ich, dass diese Spannung genau das ist, was wir durcharbeiten müssen. Sich dieser Spannung zu stellen, ist Transformation. Wie gelingt es mir mit einer Logik, die ich als nicht mehr angemessen empfinde, weiterhin liebevoll und verantwortungsvoll umzugehen, während ich eigentlich schon das Neue gestalten will?

Der Umgang mit dieser Grenzerfahrung ist nicht immer leicht und vielleicht eine der höchsten Kompetenzen, die wir jetzt entwickeln dürfen. Ich erlebe das als einen Prozess des Vertikutierens, in dem ich in mir selbst an Strukturen arbeite, die ich durch etwas Neues ersetzen möchte. Es geht darum, das Kollektive in mir anzuerkennen und damit zu arbeiten. Das ist mir wichtig hervorzuheben, da bei dem Thema »Inner Work« leicht die Gefahr entsteht, dass wir zu stark Individualisieren, uns nur noch uns selbst zuwenden und die großen sozialen Fragen verlassen.

e: Wie begegnest du in deiner Arbeit dieser Gefahr?

JB: Ich habe mich lange damit beschäftigt, wie wir Organisationen aufbauen können, die etwas Neues in die Welt bringen. Aktuell lege ich den Fokus mehr darauf, Räume zu gestalten, in denen ganz unterschiedliche Menschen einen Erkenntnisprozess für sich entwickeln können, durch den sie Multiperspektivität erfahren und emergent an der Entwicklung des Lebens teilhaben, ohne genau zu wissen, was dabei herauskommt.

Dafür habe ich ein Netzwerk mit aufgebaut, das brafe.space heißt: eine diverse Gruppe aus Risikokapitalgebern, Unternehmerinnen, Non-Profit-Organisationen, jungen Gründerinnen und Aktivisten, mittlerweile 120 Menschen. Dabei haben wir uns bemüht, eine Vielfalt an Menschen zusammenzubringen, z. B. auch schwarze Deutsche, Menschen mit Behinderungen und mit Neurodiversität einzubeziehen. Uns bewegt die Frage, wie wir mehr Perspektiven zusammenbringen können, für unsere Unterschiedlichkeit und unsere Traumata sensibel sein und uns gleichzeitig auch etwas trauen können.

»Es geht darum, die kleinen Neben­straßen des Lebens zu nehmen.«

Diese Arbeit hat viel mit einer Überwindung der Fragmentierung zu tun, um wieder in einen gemeinsam geteilten Raum zu kommen. Fragmentierung bedeutet, dass ich zu vielen Aspekten in der Welt nicht mehr den Kontakt halten kann. Wenn jetzt jemand in meinem Bekanntenkreis AfD wählt, dann ist das für mich so unangenehm, dass ich den Kontakt abbreche. In der Fragmentierung kann ich mit ganz vielen Menschen nicht mehr reden, kann mich nicht mehr in sie einfühlen. In einer weiteren Erkenntnis verstehen wir, dass wir alle eigentlich nur Facetten eines großen schöpferischen Prozesses sind. Deshalb ist es so wichtig, dass wir die Trennung voneinander, die wir im politischen Prozess erleben, aber auch von der Natur um uns herum, die auch unsere eigene Natur ist, überwinden. Das erscheint mir essenziell, wenn wir als Menschheit wieder große Lösungen entwickeln wollen.

e: Du sprichst auch von einem bezogenen Aktivismus. Was meinst du damit?

JB: Ich erlebe viele Beispiele von gescheitertem Aktivismus. Eine Welle von Burnout und die häufig schlechten Lebensbedingungen von Aktivisten. Die These des bezogenen Aktivismus sagt, dass viele Probleme im Aktivismus damit zusammenhängen, dass Aktivisten auch fragmentieren: »Wir« haben die Lösung, und »ihr« da drüben, »ihr« seid schuld. Wenn ich etwas verändern will und Druck ausübe, wird es einen Gegendruck erzeugen.

Wir leben in einer Welt, in der es nicht so ist, dass eine Gruppe weiß, was richtig ist. Wir müssen Koalitionen bilden, denn ich kann nur das verändern, zu dem ich einen gefühlten Kontakt aufnehmen kann. In einem geteilten Raum entsteht Sicherheit, da fühle ich mich einbezogen.

Meine These ist auch, dass wir sowieso nichts bewegen können, sondern nur Räume gestalten, in denen sich das Leben entlang einer bestimmten Dynamik entfalten will. Was bedeutet es, wenn Aktivisten sich darauf einlassen, dass sie nichts kontrollieren können? Das heißt nicht, dass wir nicht an Regulierung arbeiten sollen, aber es geht mir um den Prozess, wie ich durch meinen Einsatz für Veränderung andere ausgrenze.

e: Welche Herausforderungen erlebst du beim Einsatz für diese neue Form des verbundenen Wandels?

JB: Ich begegne vielen Herausforderungen. Da ist das permanente Dilemma, etwas Neues in die Welt bringen zu wollen und gleichzeitig an das Alte angekoppelt zu sein. Das Finden einer neuen Sprache über innere Prozesse, die gesellschaftliche Akzeptanz und Interesse findet, und auch die Finanzierung einer neuen Art von Organisationen und Gemeinschaften. Viele Menschen denken, sie geben Geld für etwas Gutes, wenn sie ökologische Projekte finanzieren. Doch leider sind das oft Projekte, die den Kontrollwahn unserer Gesellschaft weiter fortschreiben und der Annahme folgen, dass es zielführend ist, möglichst viele Parameter zu kontrollieren.

Für mich ist der eigentlich wichtige Schritt jetzt ein anderer. Er setzt daran an, dass wir noch viel tiefer reflektieren, wer wir sind und wie wir leben wollen. Es geht darum, die kleinen Nebenstraßen des Lebens zu nehmen und in diesen zu lernen, wie wir neue, kleinere und resilientere Strukturen aufbauen können. Hier kann ein anderer Kontakt zu mir und zur Lebendigkeit, zum Leben selbst entstehen. Solche Erfahrungen zeigen mir eine Art von Sicherheit auf, die nicht durch Kontrolle entsteht, sondern durch den Halt in mir selbst. Ein Halt, in dem ich mich an meine eigene Lebensenergie, die Lebensenergie von Gruppen und einen vertikalen Strom von Inspiration und Kraft angebunden fühle. Das ist eine Form von Sicherheit, die mir kein Kontrollmechanismus geben kann.

Author:
Julia Wenzel
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