Auf den kollektiven Geist hören

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

October 23, 2023

Featuring:
Kassie Hartendorp
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Issue:
Ausgabe 40/2023
|
October 2023
Auf der KIppe
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Gelebte indigene Werte in Neuseeland

Kassie Hartendorp ist eine langjährige Aktivistin und Leiterin von ActionStation, einer Organisation in Aotearoa (Neuseeland), die Menschen zusammenbringt, die zu den Themen Gleichberechtigung, wirtschaftliche Gerechtigkeit, Unterdrückung, Armutsbekämpfung, Klimagerechtigkeit, ökologische Belange und Einbeziehung indigener Menschen aktiv werden wollen. Wir haben mit Kassie, die selbst eine Maori ist, darüber gesprochen, wie dieser Hintergrund ihren Aktivismus beeinflusst.

evolve: Welche Rolle spielt dein indigener Hintergrund in dem Aktivismus, den du mit ActionStation verfolgst?

Kassie Hartendorp: ActionStation ist keine indigene Organisation, sie wurde von Nicht-Indigenen gegründet, aber wir haben uns immer von indigenen Werten leiten lassen und wollten die Maori bei der Erlangung indigener Souveränität unterstützen. Unser früherer Leiter setzte sich beispielsweise für den ersten indigenen Feiertag in unserem Land ein, ein Fest namens Matariki in der Mitte des Winters, wenn in der Nacht eine bestimmte Gruppe von Sternen aufgeht. Das war eher ein symbolischer Akt, aber wir haben die Ureinwohner auch konkret dabei unterstützt, ihr Land, das während der Kolonialisierung konfisziert worden war, von der Regierung zurückzuerhalten.

e: Glaubst du, dass die indigene Lebensweise auch die Kultur im weiteren Sinne beeinflussen kann, damit wir besser in der Lage sind, auf die Klimakrise oder globale Ungerechtigkeit zu antworten?

KH: Wir sind uns in unserer Kultur als Indigene unserer Werte sehr bewusst. Bei diesen Grundwerten geht es darum, wie wir miteinander leben und wie wir für das Land sorgen. Wir leben in Gemeinschaften, was sich in unseren Beziehungen untereinander und zum Land, zum Meer oder zu den Flüssen zeigt. Wenn wir uns jemandem neu vorstellen, erwähnen wir als Erstes den Berg, von dem wir abstammen: Von meinem Berg fließt mein Fluss, auf meinem Fluss schwimmt mein Kanu den Fluss hinunter zu meinem Dorf und meinem Stamm. Dort ist das Haus, in dem wir uns versammeln, und das ist der Name meiner Familie. Erst ganz zum Schluss nennst du dich selbst.

e: Nimmst du bei deiner Arbeit mit­ Action­­Station wahr, dass ein solches Miteinander stattfindet, wenn dort indigene und nicht-indigene Menschen für eine gemeinsame Sache zusammenarbeiten?

KH: Wir haben bisher nicht zugelassen, dass uns Rassismus auseinandertreibt. Wir kommen immer noch jeden Tag zusammen, um unsere Arbeit fortzusetzen. Heute machen sich viele Menschen und Organisationen Gedanken darüber, wie sie indigene Völker in der Vergangenheit behandelt haben. Das kann manchmal hilfreich und transformativ sein, aber zuweilen erstarren Menschen auch in Schuldgefühlen. Sie haben das Gefühl, dass sie nie die perfekte Antwort auf die Folgen der Kolonialisierung finden werden und fühlen sich gelähmt. Meine Aufgabe als Leiterin ist es, uns aus dieser Sackgasse herauszuführen, damit wir weiter vorankommen und uns für Gerechtigkeit einsetzen.

»Meine Vorfahren fühlen sich wie eine sehr gegenwärtige Kraft an, die mit mir ist.«

e: Was ist deiner Meinung nach am hilfreichsten, um aus dieser festgefahrenen Situation herauszukommen?

KH: Ich bin sowohl indigen als auch Pākehā, was nicht-indigen bedeutet. Der indigene Teil treibt mich an, wenn mich der Pākehā-Teil zurückhält. Ich kann mich nur befreien, wenn ich zu meiner indigenen Kultur zurückkehre, um mich von diesem Grund aus neu zu orientieren. Manchmal bedeutet das einfach, ein Geschirrtuch in die Hand zu nehmen und den Abwasch für eine Veranstaltung mit meiner Familie zu erledigen oder dass eine Tante zu mir sagt: »Es dreht sich nicht alles nur um dich. Es geht um mehr als um dich. Wer bist du, dich so lähmen zu lassen? Es gibt Arbeit zu tun.«

Wir als indigene Völker wollen uns nicht für das rächen, was uns widerfahren ist. Wir wollen einfach wir selbst sein. Wir wollen ungehindert als wir selbst leben und unser Leben selbst bestimmen können. Es unterstützt uns, wenn Menschen ihre eigenen kulturellen Wurzeln finden und sie mit uns teilen. Wenn sie uns ihre eigenen Geschichten erzählen. Ich habe viele jüngere Pākehā gesehen, die ihre eigene Geschichte zurückverfolgt haben, um das Schöne und die positiven Werte zu finden, die vielleicht im Laufe der Jahre durch den kolonialen Kapitalismus verloren gegangen sind. Dann stehen sie fest zu dem, was sie sind, und wir können uns Auge in Auge begegnen.

e: Das ist ein Weg zu einem tieferen Grund, den wir spirituell nennen könnten. Hast du auch eine Verbindung zur Spiritualität deiner indigenen Tradition?

KH: Spirituelle Werte waren immer in unserer Kultur und Identität verankert. Das Spirituelle ist für mich das Gefühl, dass man nicht allein ist, dass man ein Teil von etwas Größerem ist. In unserer Kultur ist das Konzept von Whakapapa wichtig, was Abstammung bedeutet. Viele von uns können ihre Vorfahren über Generationen hinweg benennen. Meine Vorfahren fühlen sich wie eine sehr gegenwärtige Kraft an, die um mich herum und mit mir ist. Manchmal zeigt sich einem im Leben ein Zeichen bei dem man direkt weiß: »Oh, ich bin für diesen Weg bestimmt.« Für mich bedeutet das, dass meine Vorfahren zu mir sprechen oder mich führen.

Wenn es um politische Arbeit geht, hat alles, was wir als Maori tun, ein spirituelles und ein politisches Element. Viele unserer politischen Führer waren auch spirituelle Führer. Über spirituelle Kraft und spirituelles Wissen zu verfügen bedeutet, dass man die Welt und die Menschen um sich herum beeinflusst. Wie meine Freundin Heleyni Pratley sagt, ist es die Rolle des Aktivisten, in diesen Zeiten spirituell präsent zu sein. Das bezieht sich auch auf unseren kollektiven Geist, denn wir sind darauf angewiesen, aus einem kollektiven Bewusstsein zu schöpfen, um herauszufinden, wohin wir als Nächstes gehen könnten.

e: Habt ihr bei ActionStation Möglichkeiten, diese Art der Verbindung zu praktizieren?

KH: Als Leiterin von ActionStation ­schaf­fe ich Raum für das Spirituelle. Unsere Lebenskultur orientiert sich nicht an westlichen Zeitvorstellungen, sondern an Beziehungszeit. Wir tun das, was für unsere Beziehungen wichtig ist. Ein Beispiel: Man kann ein perfekt geplantes und zeitlich festgelegtes Treffen organisieren, aber für uns ist das oft nicht wichtig. Interessanter sind für uns die spontanen Handlungen, die geschehen, wenn wir in Beziehung miteinander sind. Solche spontanen Handlungen können Singen oder ein Haka, ein ritueller Tanz, sein. Es gibt viele verschiedene Lieder und Hakas, die jeweils unterschiedliche Bedeutungen haben. Bei einem Treffen kann jemand daran appellieren, dass wir mehr kollektiven Geist brauchen. Dann kann es sein, dass jemand spontan einen ­Haka initiiert oder ein Lied anstimmt, um das zu unterstützen, was jemand gesagt hat. Er oder sie fängt dann einfach an zu singen, und der ganze Raum wird davon ergriffen und die Sitzung wird nicht einfach fortgeführt, weil es in diesem Moment wichtiger ist, stimmliche Unterstützung für das Gesagte zu zeigen. Für mich ist das wie Demokratie in Aktion, man spürt, wie sich der kollektive Geist in einem Raum völlig verändert.

e: Gibt es eine Möglichkeit, die Arbeit so zu lenken, dass man sieht, wie der kollektive Geist von ActionStation oder einer Gruppe, mit der du gerade arbeitest, sich am sinnvollsten bewegen kann?

KH: Es ist wichtig, sich mit dem kollektiven Geist zu verbinden. Viele Menschen, sowohl indigene als auch nicht-indigene, haben eine Sehnsucht danach, Teil von etwas Größerem zu sein. Aber ein Großteil unseres täglichen Lebens ist so gestaltet, dass wir dem kollektiven Geist keinen Raum geben, sich zu entfalten. Was wir brauchen, um gemeinsam als Gruppe und nicht nur als Einzelne voranzukommen, könnte eine Zeit der Traurigkeit oder der Freude sein. Unsere indigene Kultur bietet uns die Möglichkeit, unseren kollektiven Geist zu leben. Wir werden nicht einfach traurig und gehen unsere eigenen Wege. Selbst wenn jemand einen anderen verletzt, haben wir diese Möglichkeiten, wieder zusammenzukommen und Teil von etwas Größerem zu sein. ■

Author:
Mike Kauschke
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