Das verlorene Wissen der Imagination

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

July 17, 2023

Featuring:
Gary Lachmann
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Issue:
Ausgabe 39/2023
|
July 2023
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Die Welt neu sehen lernen

Ist Imagination mehr als unsere Einbildungskraft und Fantasie? Für Gary Lachman, der sich intensiv mit den mystischen Denkströmungen beschäftigt hat, ist die Imagination eine Form des Wissens, die wir in der westlichen Kultur vernachlässigt haben bzw. nur in den Bereichen der Kunst und Ästhetik gelten lassen. Was zeigt uns dieses verlorene Wissen? Und warum ist es gerade heute so wichtig?

evolve: Ihr Buch »The Lost Knowledge of Imagination« weist auf etwas hin, was ich gerne mit Ihnen erforschen möchte: dass Imagination eine Form von Wissen enthält. Unser kulturelles Verständnis von Wissen basiert ganz auf dem, was wir wissenschaftliches Wissen nennen. Was ist dieses »verlorene Wissen der Vorstellungskraft, der Imagination« und wie unterscheidet es sich vom Wissen, auf das wir uns normalerweise beziehen?

Gary Lachman: Der englische Dichter ­Samuel Taylor Coleridge trifft eine bekannte Unterscheidung zwischen Imagination und Schwärmerei oder dem, was wir als Fantasie bezeichnen. Er würde sagen, dass eine Fantasie so etwas ist wie ein fliegendes Schwein. Man nimmt Dinge, die schon existieren, und fügt sie in seltsamen Kombinationen zusammen. Postmoderne und Surrealismus tun dies auch – sie nehmen Objekte und Elemente, die nicht unbedingt zusammenpassen und fügen sie zu seltsamen Kombinationen zusammen, die eine gewisse neuartige Wirkung haben. Aber ­Coleridge würde sagen, dass dies keine echte Imagination ist. Wahre Vorstellungskraft reicht bis zum Ursprung der Dinge. Sie ist originell, nicht in dem Sinne, dass sie neuartig ist, sondern in dem Sinne, dass sie tief in die Ursprünge der Dinge vordringt.

»Imagination ist eine Fähigkeit, und es erfordert Übung, um zu lernen, sie zu nutzen.«

Man könnte also sagen, dass uns die Vorstellungskraft selbst ein gewisses Wissen über die Welt und unsere Erfahrung zur Verfügung stellt. Bei der Imagination geht es nicht um Fantasie, sondern um Realität, es ist nicht etwas, das wir glauben, sondern das wir erkennen. Das sagt uns sogar unsere Sprache. Nehmen wir das Wort »erkennen«. Was passiert, wenn wir etwas erkennen? Nun, es wird für uns wirklich, es wird verwirklicht.

Ehrfurcht kann man nicht messen

e: Unser übliches Verständnis von Realität bezieht sich auf etwas, das man objektivieren und messen kann. Sie sagen, dass es andere Sichtweisen der Realität gibt, die wir außer Acht lassen, wenn wir die Realität nur als das Messbare sehen.

GL: Wir können diese anderen Dimensionen der Realität nicht messen. Ehrfurcht ist spürbar, aber es gibt keinen »Ehrfurchtszähler«, bei dem man sagen kann: Ah, ich habe Ehrfurcht in diesem Moment, wenn ich den Sonnenuntergang betrachte und meine Ehrfurcht erreicht auf dem Zähler die Stufe zehn. Genauso können wir nicht sagen, dass eine Beethoven-Klaviersonate genau dies und das bedeutet. Wir akzeptieren auch nicht, dass die Sonate nichts weiter bedeutet, also dass es eigentlich nur hübsche Geräusche und Klänge sind. Dieses Vorstellungsvermögen ist uns nicht fremd und unbekannt, wir erkennen es aber häufig nicht als eine Form von Wissen an. Die Dichterin und Literaturwissenschaftlerin Kathleen Raine sagt es mit diesem wunderbaren Satz: »Die Imagination sieht keine anderen Dinge, sie sieht die Dinge anders.« Das ist der Unterschied zur Fantasie – letztere würde bedeuten, seltsame Kreaturen zu sehen oder was auch immer wir uns mit Fantasie ausdenken.

e: Wenn man von der verlorenen Wahrheit des Imaginären spricht und dass unsere Zeit im Grunde den Zugang zu jener »anderen Seite« der Wirklichkeit verloren hat, welche Dichter, insbesondere romantische Dichter, berührten und Menschen wie Goethe und Steiner wiederzugewinnen versuchten: Was ist diese »andere Seite«?

GL: Grundsätzlich kann man sagen: Es ist die Seele. Steiner hat dieses Wort in einem bestimmten Kontext verwendet, und ­Goethe hat nicht wirklich darüber gesprochen. Imagination ist nicht nur eine überbordende Fantasie oder Einhörner oder das Wunderbare. Sie ist eine Fähigkeit, es erfordert Übung und Aufmerksamkeit, um zu lernen, sie zu nutzen.

Goethe ist ein sehr gutes Beispiel. Er entwickelte eine eigene Art der Beobachtung von Phänomenen, die ebenso genau war wie die zu seiner Zeit noch junge experimentelle Beobachtungsmethode. Seine Art zu beobachten war wie die einer Künstlerin, die etwas beobachtet, das sie malen will. Oder wie die eines Dichters, der etwas betrachtet, worüber er schreiben will. Das bedeutet, dass der Anschauung eine gewisse Wärme innewohnt, Goethe bezeichnete es als »zarte Empirie«. Es war nicht die kalte, distanzierte, abstrakte Vorstellung, um die es ursprünglich in der frühen Wissenschaft vielleicht verständlicherweise ging. Damals bot die Wissenschaft die radikal neue Art, Dinge zu betrachten und sie ihres mythologischen Kontexts zu berauben, um einfach zu beobachten und nüchtern zu sehen, was passiert. Als dies vor Jahrhunderten geschah, war es notwendig. Aber wie wir wissen, etabliert sich eine neue Fähigkeit, nimmt aber überhand und übertreibt das, was sie uns geben könnte, und wird damit zu einer verengten Sichtweise.

Goethe sagte, er habe eine Art der Anschauung entwickelt, um Dinge in der phänomenalen Welt tatsächlich wahrzunehmen, die sonst nicht offensichtlich gewesen wären, wenn er nicht diesen sehr präzisen Gebrauch eines bildhaften Denkens entwickelt hätte. Man könnte sagen, dieser Ansatz bezieht sich auf die Vorstellung von »Aletheia«, der Unverborgenheit, die der Philosoph Martin Heidegger anspricht. In der Unverborgenheit wird die Wahrheit so offenbar, wie sie erscheint. Das ist das Wesen der Phänomenologie als Erkenntnisform der Wirklichkeit. Sie lässt das Phänomen so erscheinen, wie es ist, ohne es zu manipulieren. Es bedeutet nicht, einfach wegzulassen, was ich nicht sehen will, das wäre Tagträumerei. Das ist nicht das bildhafte Wahrnehmen als das präzise Beobachtungsinstrument, welches Goethe entwickelt hat.

»Wahre Vorstellungskraft reicht bis zum Ursprung der Dinge.«

Diese ganz andere Seite von uns, die wir in der rechten Gehirnhälfte finden können oder die wir das Unbewusste nennen, wurde an den Rand gedrängt und vernachlässigt. In gewisser Weise war die Religion in der Lage, diesen Bereich, den der Tiefenpsychologe C. G. Jung das Archetypische nannte, in sich zu bewahren und auszudrücken, damit die Menschen eine Möglichkeit hatten, ihn in ihr Leben zu integrieren. Aber mit dem Aufkommen von Wissenschaft und Rationalismus gab es keinen Platz mehr dafür. Ich spreche nicht gegen die Vernunft, von der wir mehr bräuchten; ich beziehe mich auf die enge, auf den Materialismus reduzierte Wissenschaft.

Als Folge dessen haben wir diese Dimension unserer Psyche oder Kultur nicht in Harmonie gebracht. Deshalb ist sie verloren. Aber das Wissen ist immer noch da. Es ist nicht in dem Sinne verloren, dass wir unter den Pyramiden graben müssten, um es zu finden, wie es eine romantische Vision sehen könnte. Es ist verloren in dem Sinne, dass wir es nicht in unser Selbstverständnis integriert haben. So erleben wir die Entstehung von regressiven Mythen wie die Verschwörungsmythen von QAnon oder das Trump-Phänomen, welche mythischem Junk-Food entsprechen. Wenn du hungrig bist und nirgendwo eine wirklich gesunde, gute Mahlzeit bekommen kannst, dann isst du alles, was verfügbar ist, weil du etwas zu essen brauchst.

Suche nach Sinn

e: Sie haben den Begriff mythologisches Junkfood verwendet. Was ist der Unterschied zwischen mythologischem Junkfood und echter Mythologie?

GL: Es geht um die Qualität unserer Nahrung. Beides kann unseren Appetit stillen, aber das eine ist nahrhafter als das andere. Jemand wie Trump oder eine andere demagogische Figur kann sehr, sehr beliebt werden, wenn sie das Bedürfnis der Menschen nach Sinn im Leben stillt. Sinn im Leben ist dieses sehr seltsame, mehrdeutige, aber allgegenwärtige Etwas, das wir erahnen, wenn wir es nicht haben und von dem wir nicht genau sagen können, was es ist, wenn wir es haben. Durch Trump und auch QAnon hatten sehr viele Menschen das Gefühl, einen Sinn gefunden zu haben, weil die Welt um sie herum sehr fremd und verwirrend geworden ist. Selbst einfachste Dinge können heute irritieren wie zum Beispiel die Frage, welche Toilette jemand benutzen sollte oder welches Pronomen man verwendet, um jemanden anzusprechen. Auch wenn diese fast trivialen Manifestationen mit wichtigen gesellschaftlichen und ethischen Fragen verbunden sein mögen, für den durchschnittlichen Menschen wurden sie zunehmend verwirrend.

Gewahrwerdung des Wirklichen

e: Wie können wir diese Erkenntnisformen entwickeln?

GL: Wichtiger als herauszufinden, welchen Weg wir dabei gehen wollen, ist die grundlegende Tatsache, dass dieser Bereich der Imagination real ist. Dieser Bereich der Vorstellungskraft, des bildhaften Denkens oder des Imaginalen, wie es der Philosoph Henry Corbin bezeichnete, ist nicht nur eine nette Idee, er ist grundlegend real. Es geht nicht um eine bestimmte Praxis, sondern darum, die Wirklichkeit der Vorstellungskraft wirklich anzuerkennen, so wie wir wissen, dass die Sonne 93 Millionen Meilen entfernt ist, oder wie wir wissen, dass zwei plus zwei gleich vier ist. Die Welt des Imaginativen ist genauso real. Sie eröffnet uns Zugang zu einer Form von Wissen.

Es ist eine Form des Wissens und wir müssen begreifen, was das bedeutet. Wissen bedeutet, dass man etwas tatsächlich erkennt und aufnimmt. Der Philosoph Alfred North Whitehead hat den wunderbaren Begriff »prehension« (Gewahrwerdung) geprägt, wo wir uns der Dinge gewahr werden, sie also vollständig in unser Wesen aufnehmen. Wie machen wir das? Sehen Sie sich ein Gemälde an, hören Sie sich eine Symphonie an, gehen Sie im Garten spazieren, hören Sie den Vögeln zu. Versuchen Sie, sie wirklich zu hören und zu sehen.

e: Warum betonen Sie, dass es so wichtig ist, das als etwas Wirkliches zu erkennen?

GL: Die Realität ist so komplex und so überwältigend bedeutungsvoll, dass unser Gehirn darauf ausgelegt ist, 99 Prozent davon auszublenden, damit wir uns ungehindert fortbewegen können. Um über das präzise, genaue Wissen zu verfügen, das für unser Überleben absolut notwendig ist, müssen wir den größten Teil der Wirklichkeit ausblenden. Mystische Erfahrungen geschehen, wenn ein Mehr an Wirklichkeit zu uns durchdringt. In der Kunst und in der Poesie sind wir damit bereits vertraut. Dort lassen wir das zu. Aber aufgrund der kulturellen Betonung der Überlegenheit und des ontologischen Primats des expliziten Wissens der Wissenschaft nehmen wir die Bedeutung, die durch die Kunst zu uns gelangt, nicht als Wissen wahr.

»Wissen bedeutet, dass man etwas tatsächlich erkennt und aufnimmt.«

Dies ist keine Form des Wissens, für die wir uns anstrengen müssen. Wir müssen nur lernen, sie zu erkennen. Sie vollzieht sich bereits in unserer Erfahrung. Wir müssen eine Sprache entwickeln, um darauf Bezug nehmen zu können – und nicht versuchen, ­eine Sprache zu entwickeln, die nur ein kleiner Kreis versteht. Das wird Zeit brauchen. Dieses Wissen sollte nicht einer bestimmten Gruppe oder Elite vorbehalten sein. Es muss die Kultur langsam durchdringen. Keine Revolutionen, kein »New Age«, kein Auslöschen von dem, was vorher war, um in einem fehlgeleiteten Versuch eine »bessere Welt« zu schaffen. Nein. Es ist ein Prozess, der in Individuen vor sich geht. Das bedeutet, dass Menschen unabhängig voneinander auf ihre eigene Art und Weise zu dieser Erkenntnis gelangen, während andere es vielleicht nicht so verstehen, wie sie es tun. Ich glaube an das, was ich die »kreative Minderheit« nenne, ein von Henri Bergson und, glaube ich, auch von Arnold Toynbee verwendeter Begriff. Colin Wilson spricht von »Außenseitern« und meint das Gleiche. Dahinter steckt die Vorstellung, dass es überall Menschen gibt, die nicht unbedingt miteinander in Kontakt stehen müssen, sondern auf ihre eigene Art und Weise alle instinktiv, intuitiv auf etwas hinarbeiten, das die notwendigen Veränderungen herbeiführen wird. Es erinnert an die Nichtlokalität von Elementarteilchen: Obwohl sie nicht miteinander in Verbindung sind, wissen sie trotzdem, was jedes einzelne tut. Wir verstehen nicht ganz, wie das geschieht. Sogar im Gehirn gibt es verschiedene neuronale Gruppen, die gleichzeitig aktiv sind, obwohl sie nicht zusammenhängen, nicht miteinander verbunden sind, aber sie sind dennoch an ähnlichen im Gehirn ablaufenden Vorgängen beteiligt.

Ich würde sagen, dass es global auf unserem Planeten sehr wohl viele Menschen gibt, die nicht unbedingt miteinander in Kontakt stehen, aber auf die gleiche Art und Weise »aktiv sind«. Sie erforschen und erkunden diese neuen Bereiche auf ihre Weise. Dieses Terrain wird immer ein wenig seltsam, zweideutig und gefährlich sein, weil man dabei in Bereiche vordringt, die wir nicht kennen und über die niemand etwas weiß. Natürlich haben Menschen vor uns dies auf unterschiedliche Weise erforscht und wir orientieren uns an ihrer Arbeit. Aber wenn es um wirklich Neues geht, ist das unerforschtes Gebiet – und deshalb ungewiss.

Das Gespräch führte Thomas Steininger für die Ausgabe 31/2021 – das gesamte Interview finden Sie auf evolve-world.org

Author:
Dr. Thomas Steininger
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