Die Gnade des Berührtwerdens

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

February 2, 2024

Featuring:
Prof. Dr. Claus Eurich
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Issue:
Ausgabe 41/2024
|
February 2024
Leben, Tod
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Sein im Zwischenraum

Wenn wir über das sprechen, was wir als Tod bezeichnen, begeben wir uns in Unsagbares, in Zwischenräume unserer Existenz, in Ungewissheit, in der eine Erfahrungsgewissheit aufscheinen kann. Der Kontemplationslehrer Claus Eurich lotet diese Zwischenräume vorsichtig aus und nähert sich dem großen Geheimnis.

evolve: Wie würdest du das Thema Tod und Leben aus deiner Sicht ansprechen?

Claus Eurich: Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich diesen Widerspruch zwischen Tod und Leben aufbauen würde. Aus meiner Sicht bilden Tod und Leben eine Einheit. Das, was die Menschen Tod nennen, ist ein Teil des Lebens. Für mich ist Tod kein Ende. Es ist sicherlich ein Abschluss in Hinblick auf die Substanzform, die wir evolutionär erlangt haben, für eine ganz bestimmte Phase unseres Seins. Aber dieses gesamte Sein, das man in normalen zeitlichen Dimensionen sowieso nicht messen kann, ist ein Transformationsprozess. Wir wären schon ein ganzes Stück weiter, wenn wir diesen Prozess der Transformation als einen solchen erkennen würden.

Gleichwohl ist es natürlich wichtig für Individuen – also für Menschen, die kulturell so geworden sind, dass sie auf sich selber ausgerichtet sind – mit diesem als Tod bezeichneten Ereignis so umzugehen, dass etwas Bestimmtes zu Ende geht. Wir können aber Tod und Leben nur angemessen betrachten und beides als Einheit würdigen, wenn wir unsere individuelle Binnenperspektive verlassen und uns auf eine metaphysische Ebene begeben. Nur dann werden wir auch dem gerecht, was uns mit dem, was wir Tod nennen, als nicht sichtbare Dimension gegenübersteht. Diese sehen wir nur, wenn wir aus einer übergeordneten Perspektive, die man auch evolutionär oder transzendental nennen kann, auf unser Sein blicken.

Innerliche Erfahrungsgewissheit

e: Was meinst du, wenn du hier von einem Transformationsprozess sprichst?

CE: Der sogenannte Tod ist ein Übergang in eine andere Weise, eine andere Form, eine andere Substanz unseres Seins. In dem Sinne ist es ein Neuanfang. Aber wenn wir den Tod als Neuanfang beschreiben, dann heißt es, dass das Zurückliegende irreversibel zu Ende ist. Davon gehe ich nicht aus. Unsere Leiblichkeit erfährt in dem Prozess natürlich eine Transformation. Wie alles Lebendige ist der Körper dem Werden und Vergehen unterworfen. Aber auf der Ebene des Seelischen und des Geistes, dem also, was den Menschen zum Menschen macht, wirken vollkommen andere Wandlungsprozesse.

»Der sogenannte Tod ist ein Übergang in eine andere Substanz unseres Seins.«

e: Was lässt sich von diesen Prozessen überhaupt ansprechen? Wie sind uns diese Dimensionen zugänglich, so dass wir uns darauf beziehen können?

CE: Es entzieht sich der Sagbarkeit und vor allem dem, was wir, von rationalen Erkenntniszugängen her gedacht, als Wissen formulieren könnten. Gleichzeitig haben wir es hier aber mit einer Dimension zu tun, wo wir mit dem Begriff der Gewissheit arbeiten können. Die Gewissheit nährt sich aus unterschiedlichsten Quellen.

Seit Jahrtausenden gibt es etwa interkulturelle Hinweise, zum Beispiel aus dem Tibetischen Totenbuch oder den Forschungen zu Nahtoderfahrungen, aus Seelenerfahrungen von Menschen, die über den körperlichen Tod hinausgehen, aus Zeugnissen der großen Offenbarungslehren. Hinter diesen Aussagen steht nicht einfach nur die Sehnsucht des Menschen nach einem ewigen Leben und danach, dass der Tod doch nicht das Ende sei. Oft spricht daraus das Berührt-worden-Sein aus einer Dimension, die uns sinnlich nicht zugänglich ist. Das nehme ich sehr ernst, weil der kontemplative Zugang zum Sein uns immer wieder in die Gnade dieses Berührtwerdens stellt. Da mag man natürlich sagen, das sei nur eine bewusstseinsmäßige Irritation. Aber für mich ist es eine innerlich lebendige Erfahrungsgewissheit.

Der Blick der Seele

e: Was du sagt, erinnert mich an eine Erfahrung, die ich kürzlich hatte. Das Thema betrifft mich ja sehr persönlich, weil ich eine lebensbedrohliche Krankheit habe und operiert werden musste. Nach der Operation hatte ich ein sehr eigentümliches Erlebnis. Als ich zum ersten Mal wieder einkaufen war, habe ich die Situation völlig anders wahrgenommen. Ich hatte das Gefühl, weniger die Menschen, sondern ihre Seelen wahrzunehmen. Ich habe den Leuten zugesehen und spürte, wie sie in ihren Biografien stehen. Aber es war so, als käme mein Blick von der anderen Seite und richte sich von außerhalb der Biografie auf die Biografie. Es war so, als würde ich von einer anderen Seite auf diese Menschen blicken. Das scheint eine Erfahrung zu sein, die mit dem resoniert, was du gerade angesprochen hast.

CE: Ja. Oft, wenn ich Menschen beobachte, im Supermarkt oder die Passanten in der Stadt, dann sehe ich einerseits etwas Vergehendes. Bereits in dem Moment, wo ich es wahrnehme, ist es vergangen – wie ein Fenster, das sich geöffnet hat, nur um sich im selben Moment bereits wieder zu schließen. Und daneben sehe ich sich bewegende Wesenheiten mit einer geistigen Substanz. Manchmal taucht diese Wahrnehmung bei mir automatisch auf, manchmal bewege ich mich ganz bewusst hinein.

Im Grunde liegt darin die Empfindung, vom eigenen Seelenhaften auf das Seelen­hafte des Anderen zu schauen, also auf die Substanz, die in dem Verschwindenden, was in jeder Sekunde liegt, nie erreicht werden kann. Ich würde nicht sagen, dass das ein Blick aus einer anderen Dimension ist, sondern ich glaube, dass wir beides in uns schon immer integriert haben. Es gibt Erfahrungen, in denen das spürbar wird. Ich kenne selber Traumbegegnungen mit Verstorbenen, die wirkliche Begegnungen waren. Oder manche Menschen verfügen über die Fähigkeit, nach dem leiblichen Tod eines Menschen dem Gegangenen im Wachzustand zu begegnen. Das ist mehr als eine gedankliche Illusion, dafür sind die Schilderungen dessen, was sich dort ereignet hat, einfach zu klar.

e: Der Religionsanthropologe Henry Corbin macht eine begriffliche Unterscheidung, die es erlaubt, diese Dinge differenzierter zu denken. Er macht eine Unterscheidung zwischen dem Imaginären und dem Imaginalen. Es geht ihm darum, dass unsere Vorstellungskraft nicht nur eine Vorstellungskraft ist, die sich Dinge vorstellt, sondern die Dinge auch symbolisch wahrnehmbar macht. Dann kann man die Frage, was wirklich ist, auch anders denken als in einer rein rationalen Wahrnehmung von Subjekt und Objekt. Solche Wahrnehmungen, wie wir sie gerade beschrieben haben, sind vielleicht andere Weltwahrnehmungen, die in unserer alltäglichen Definition von Wirklichkeit übersehen werden.

CE: Ich würde die Unterscheidungen imaginär und imaginal noch um die Imagination ergänzen, die diese Wirklichkeit zweiter Ordnung mitgestaltet. Alles, worüber wir hier reden, hängt auch von unserer eigenen, sich richtenden Bewusstseinsenergie ab. Die geistigen Wesenheiten etwa, die wir als Engel beziehungsweise engelhafte Erscheinungen beschreiben, würden ohne jene Bewusstseinsenergien, die die Größe aufbringen, sich vom rein empirischen Wirklichkeitsverständnis zu befreien, nicht als Wirklichkeit zweiter Ordnung wahrnehmbar sein.

e: Das bedeutet, dass es hier nicht um den Blick auf eine andere Welt geht, sondern es ist ein anderer Blick innerhalb des Lebens, in dem wir bereits leben.

CE: Das ist, glaube ich, einer der vor uns liegenden wesentlichen evolutionären Sprünge: uns willentlich und wissentlich in diese Wahrnehmungsfähigkeiten, die in uns angelegt sind, hineinzubewegen und eine neue Form und Qualität des Austauschs miteinander zu finden. So kommen wir in eine ganz andere Dimension des Wir.

Die Radikalität des Moments

e: Wie siehst du diese Dimension des Wir, in die wir da hineinkommen?

CE: Wenn ich jetzt dazu etwas sage, wäre es bloß gedacht. Es fällt mir schwer, das Gespürte in Worte zu fassen. Der größte Fehler, den wir im Moment auch bezogen auf den Zustand der Welt und die anstehende Transformation machen können, liegt darin, schon wieder eine Zukunft oder ein Aufblühen zu benennen oder gar zu planen. Dadurch kanalisieren wir unser Bewusstsein gerade da, wo etwas in uns aufbrechen will, das wir noch nicht richtig verstanden haben. Alles, was ich jetzt sagen würde, bezöge sich lediglich auf das, was ich schon kenne oder erfahren habe oder wovon ich vielleicht träume. Deswegen bin ich vorsichtig.

e: Gleichzeitig scheint es dir wichtig zu sein, dass die Wahrnehmungen, die du ansprichst, Teil unseres kulturellen Miteinanders werden, um uns kulturell weiterentwickeln zu können.

CE: Ja, unbedingt. Die äußeren Transformationsprozesse, in denen wir global stehen, werden den Prozess des Neuen, auch des geistigen und transzendentalen Wir beschleunigen. Sicherlich nicht für alle Menschen, aber sicherlich für diejenigen kulturellen Gruppen weltweit, die dafür offen sind und schon in einer entsprechenden Empfindung leben.

Es gibt einen Satz von Martin Buber, der mir lange wichtig war. Er sagt in seinem Buch »Pfade in Utopia«: »Es gibt für uns kein Zurück, es gibt nur ein Hindurch. Hindurch aber werden wir nur kommen, wenn wir wissen, wohin wir wollen.« Heute denke ich: Nein, so ist es eben nicht. Das Wissen, wohin wir wollen, müssen wir aufgeben. Wir müssen uns der Radikalität des Moments und der Offenheit hingeben, die wir nicht durch den Willen neu erschließen können, sondern durch Hingabe und Demut. Durch eine geistige Mitgestaltung in diesem Prozess, durch Präsenz, Offenheit, Wachheit und Integrationsfähigkeit. Das ist der Weg, der vor uns liegt. Viele der Menschen, die mir schreiben, denken und empfinden bereits von dem her, was kommen will, was wir nur noch nicht sehen. Aber auch ohne zu sehen, stehen wir schon im Strom dieser Energie. Das ist etwas Vergleichbares zum Umgang mit Leben und Tod in der eigenen Existenz; hier sprechen wir über Leben und Tod im Hinblick auf kulturelle Räume und geistige Universen.

Leben in der Schwebe

e: Die Konfrontation mit dem Tod fordert uns dazu auf, Gewissheiten loszulassen und sich auf etwas einzulassen, das noch nicht gewusst wird. In dieser Auseinandersetzung ist mir ein Begriff des amerikanischen Denkers Zak Stein sehr wichtig geworden, der von unserer Zeit als einer »Zeit zwischen den Welten« spricht. Offensichtlich stirbt eine Welt, aber wir wissen nicht, was geboren wird. Wir können nicht in eine Vorstellung davon springen, was hier geboren wird, sondern wir müssen diesen Zwischenzustand ertragen, damit das geboren werden kann, was geboren werden möchte.

CE: Im Zwischenraum leben wir in der Schwebe. Und wir könnten in der Dichotomie, die sich schnell aufbaut, wenn wir von Tod und Leben sprechen, einen Schritt weiterkommen, wenn wir einfach sagen würden: Sein im Zwischenraum.

»Das Wissen, wohin wir wollen, müssen wir aufgeben.«

Ich würde das, was du eben gesagt hast, durch einen mir sehr wichtigen Begriff ergänzen: Vertrauen. Jenes Vertrauen, in dem wir zwar nicht-wissend, aber doch in Gewissheit gehen beziehungsweise unterwegs sind. Wie Hilde Domin das ausgedrückt hat: »Ich setzte den Fuß in die Luft, und sie trug.« Diese Radikalität, den Abgrund vor mir zu sehen und doch den nächsten Schritt zu gehen in der Gewissheit, dass die Flügel der Sehnsucht tragen. Das ist natürlich ein radikales Wagnis. Es stellt infrage, wie wir kulturell sozialisiert sind. Das zeigt die gigantische Herausforderung und gleichzeitig die unglaubliche Schönheit dieses Prozesses. Die Gnade, uns auf Räume zubewegen zu dürfen, die sich im Gehen öffnen und die wir nicht vorher schon definiert haben nach unseren kleinen Plänen, Träumen und Sehnsüchten. Wobei es dabei durchaus zu einer existenziellen Erschütterung kommen kann.

Ich denke da an ein Ereignis in der Nikolausnacht vom 6. Dezember 1273, also vor 750 Jahren. Thomas von Aquin, der Großmeister der Scholastik und Erschaffer eines gewaltigen geistigen Universums, der mit seinem Biografen und Schüler Reginald von ­Piperno in die Heilige Messe gegangen war, machte dort eine solche Erfahrung, über die wir hier sprechen. Er war zutiefst existenziell erschüttert: »Alles, was ich geschrieben habe, kommt mir vor wie Spreu im Vergleich zu dem, was ich geschaut habe und was mir offenbart worden ist.« Das Geschaute erwies sich als größer als alle Formulierungen, die menschliche Sprache zu formen in der Lage ist. Das Unsagbare widersteht auch den Versuchen von Thomas, sich dem großen Geheimnis denkend und sprachlich erklärend zu nähern. Fassungslosigkeit resultiert daraus. Bei klarem Verstande brach Thomas die Arbeit an seinem Werk ab.

e: Das hat sehr mit dem zu tun, was du vorher angesprochen hast, mit der Luft, die trägt. Vielleicht liegt darin auch die Schönheit des Todes. Denn das, was ich bis jetzt als sicher wahrgenommen habe, trägt nicht mehr. Es ist ein unsägliches Vertrauen angefragt, dass die Luft trägt. Das Verstummen von Thomas von Aquin hat dabei etwas Archetypisches, wenn der Philosoph der christlichen Metaphysik am Ende seines Lebenswerkes sein eigenes Werk verstummen lässt, um dem anderen zu vertrauen. Das hat eine Kraft.

CE: Eine unglaubliche Kraft. Darin liegt eine geradezu metaphysisch zu nennende Faszination und Schönheit. Und die damit einhergehende Größe, in der Empfindung leben zu können, dass das keine Hirngespinste sind, als die Thomas das ja hätte abtun können, um sein Werk unbeschädigt zu halten und zu retten. Aber er war so von dem Blick in diese Wirklichkeit erschüttert, dass er seine bisherigen Gedanken als Illusion erkennen und verwerfen musste.

»Das Geschaute erwies sich als größer als alle Formulierungen.«

Author:
Dr. Thomas Steininger
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