»Beim Erwachen geht es nicht nur um uns selbst«

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April 17, 2019

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Ausgabe 22 / 2019:
|
April 2019
Soziale Achtsamkeit
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Spiritualität mitten im Leben

Aus der Tradition des engagierten Buddhismus sieht Joan Halifax inneres Wachstum und spirituelles Erwachen nicht als Selbstzweck, sondern als Ausgangspunkt und Quelle des heilenden Handelns in der Welt. Wir sprachen mit ihr über Achtsamkeit im Kontext einer Spiritualität, die der Welt und den Menschen dient.

evolve: Was bedeutet Achtsamkeit für Sie?

Joan Halifax: Wenn wir den Begriff Achtsamkeit verwenden, sprechen wir meist von der Erfahrung, vollkommen präsent im Entstehen und Vergehen des gegenwärtigen Augenblicks zu sein. Vielleicht ist es hilfreich zu untersuchen, wie Achtsamkeit zu dieser Erfahrung beiträgt. Achtsamkeit kann beispielsweise die Ausgeglichenheit der Aufmerksamkeit stärken, dieses Gefühl, innerlich stabil verwurzelt zu sein. Sie verstärkt auch die Klarheit unserer Wahrnehmung und unsere Fähigkeit, unsere Aufmerksamkeit ohne Ablenkung auf einem Objekt der Wahrnehmung ruhen zu lassen. Achtsamkeitsmeditation kann auch die moralische Ausrichtung und Integrität unterstützen, sowie Einsicht und pro-soziale Haltungen und Handlungen fördern.

Die populäre Form von Achtsamkeit ist manchmal eine Methode, um Stress und Angst zu reduzieren, verschiedene psychosomatische Leiden zu lindern und uns bei der Anpassung an schwierige Situationen zu unterstützen. Das ist in Ordnung. Aber Achtsamkeitspraxis ist, tiefer verstanden, ein Umgang mit der Praxis und dem Leben, der es uns erlaubt, uns dem Urgrund des Seins zu öffnen – dem, wer wir wirklich sind.

Sich dem Leiden stellen

Joan Halifax

e: Sie sprechen davon, dass Achtsamkeit uns für den Urgrund des Seins öffnen kann. Was wird durch diese Öffnung zwischen Menschen möglich?

JH: Diese Öffnung steht mit Gelassenheit in Beziehung, was bedeutet, dass wir allen Menschen gleichermaßen mit Fürsorge begegnen und in einem Zustand der Aufrichtigkeit, Flexibilität und Empfänglichkeit bleiben, selbst in Beziehung zu Menschen und Situationen, die für uns schwierig sind. Ein Beispiel: Vor vielen Jahren kam ich aus meinem Wohnblock in New York und sah einen Mann, der die Antenne von einem Auto abgebrochen hatte und damit auf eine Frau einschlug. Ich ging dazwischen und forderte ihn auf, damit aufzuhören. Er war so überrascht, dass die Frau fliehen konnte. Ich reagiere sehr empfindlich auf Gewalt gegenüber Frauen, mein sofortiger Impuls war, die Frau zu schützen. Nachdem die Gefahr vorbei war und der Mann und die Frau verschwunden waren, fühlte ich die tiefe Erleichterung, eine Frau vor Schaden bewahrt zu haben.

Eine zweite Ebene des Verstehens bezog sich nicht nur auf die Situation der Frau, sondern auch auf den Geisteszustand des Mannes. Nachdem ich mich beruhigt hatte, kam ich zu der Einsicht, dass auch er sich in einem Zustand des Leidens befand. Das war ein Wendepunkt, denn ich verstand, dass auch die Menschen leiden, welche Gewalt ausüben, oder sich in einem Geisteszustand befinden, der zu Gewalt führt. Ich empfand zuerst Empörung und handelte instinktiv, wie eine Mutter, die ihr Kind beschützt, doch dann empfand ich Mitgefühl sowohl für die Frau als auch für den Mann. Es ist wichtig zu verstehen, dass Mitgefühl und Weisheit, Fürsorge und Einsicht miteinander verbundene Eigenschaften sind. Ich war damals in meinen Zwanzigern und hatte gerade erst mit der Meditation begonnen, aber ich bemerkte die Wirkung dieser Praxis nicht nur in diesem Handeln, sondern auch in dem Verstehen, das sich zeigte, nachdem ich (hoffentlich) altruistisch auf Verletzung reagiert hatte.

Einsicht zu haben ist eine Sache, aber mutig und transformierend zu handeln eine andere.

e: Wie kann uns die Praxis der Achtsamkeit darin unterstützen, auf eine solche Weise zu reagieren?

JH: Ich glaube nicht, dass Achtsamkeit eine Garantie dafür ist, dass unser mentales Leiden immer zum Vorschein kommt und transformiert werden kann. Achtsamkeit ist kein Allheilmittel. Aber unter den richtigen Umständen kann sie unserem Leben dienen und vielleicht sogar unser Leben und das Leben anderer retten.

Wir sollten beachten, dass Meditation ein Begriff wie Sport ist und sich auf unterschiedliche Ansätze des Geistestrainings beziehen kann. In dem Ansatz, den ich meinen Schülern lehre, werden verschiedene Prozesse unterstützt. Eine Form von Übungen kann ein tieferes Geerdetsein und eine größere Stabilität (Ausgeglichenheit der Aufmerksamkeit) unterstützen sowie die Fähigkeit, die Wirklichkeit klarer zu sehen (Einsicht). Die Kultivierung von Bodhicitta kann pro-soziale Geisteszustände fördern, in denen Fürsorge anwesend ist. Eine andere Phase der Praxis kann eine tiefere Einsicht dafür entstehen lassen, dass in Wahrheit alles unbeständig ist und es keine getrennte Ich-Identität gibt. Eine weitere Praxis unterstützt uns darin, die Integration von Weisheit und Mitgefühl zu verwirklichen, welche die Grundlage jedes sozialen Engagements in der Welt ist. Denn wir werden dadurch weniger verwundbar durch all die Herausforderungen, denen man sich gegenübersieht, wenn man Sterbende begleitet, im Gefängnis oder mit Obdachlosen arbeitet, sich um ein Kind kümmert oder als Lehrer, Menschenrechtsaktivist, Politiker oder Geschäftsführer tätig ist. Wir sind nicht von der Wahrheit des Leidens getrennt, aber wir verfügen über die geistige Stabilität, den tiefen Wunsch und die Einsicht, in solchen Situationen den anderen Menschen zu dienen.

Eine größere Perspektive

e: In der Meditation gibt es auch einen Aspekt, der die Motivation auf eine Weise reinigt, die es uns möglich macht, authentischer für andere da zu sein.

JH: Ich bin mir nicht sicher, ob sie immer reinigt, aber sie gibt uns eine größere Perspektive. Wenn das Ego seinen kleinen (oder großen) Kopf hebt, können wir es vielleicht schneller bemerken. Und infolgedessen können wir von einer vergiftenden Antwort zu einer gesunden Antwort wechseln, weil Meditation eine Geistesübung ist, durch die wir mit unserem mentalen Kontinuum, mit unserer Konditionierung, mit unseren Stressauslösern und unseren unbewussten Reaktionen vertrauter werden können.

Achtsamkeit ist kein Allheilmittel.

e: … und dadurch eine größere Perspektive darauf erlangen, um davon frei zu werden.

JH: Ja, in einer idealen Welt … Aber ich habe wunderbare Lehrer gesehen, die unter starken Ego-Impulsen litten. Es ist wirklich wichtig, dass wir in Bezug zum ganzen Tanz unserer Persönlichkeiten bescheiden bleiben. Schließlich sind wir alle Menschen – egal, ob wir ein bekannter spiritueller Lehrer oder ein Schüler des Dharma sind, dem die Übung schwerfällt; egal, ob wir ein reicher Politiker oder ein zum Tode verurteilter Häftling sind.

Das war es, was ich an meinem Lehrer Roshi Bernie Glassman so geschätzt habe, der Anfang November des vergangenen Jahres gestorben ist. Als er durch den Schlaganfall und den Krebs immer kränker und seine physische Welt immer kleiner und zerbrechlicher wurde, wurde er immer größer, sein Herz wurde größer.

Bei den Straßen-Retreats, bei denen die Teilnehmer wie Obdachlose lebten, oder bei den Bearing Witness Retreats in Auschwitz war er in seinem Element. In Auschwitz waren so viel entsetzliches Leid und so viel Geschichte präsent, auch heutiges Leid, wenn sich Enkel von SS-Offizieren und Enkel von Menschen trafen, die die Lager überlebt hatten. Er saß da, inmitten von all dem, völlig offen, ohne sich auf irgendeine Weise zu schützen. Er verkörperte wahrhaftig diese Integration von Weisheit und Mitgefühl und war fähig, sich inmitten von äußerstem Leiden aufrecht zu halten. Das war eine seiner größten Lehren, die er uns vermittelte.

Mitmensch werden

e: Ich habe Bernie sehr verehrt, er hat unserer Welt so viel gegeben. Wie steht Ihrer Ansicht nach seine Meditations-Praxis mit dieser Fähigkeit in Verbindung?

JH: Aufgrund seiner langjährigen strengen und hingebungsvollen Praxis war seine mentale Struktur sehr stark. Und dann tat er das, was viele erfahrene Praktizierende tun: Man verstärkt die eigene Praxis nicht mehr durch Anstrengung, sondern die Praxis wird mehr und mehr in den Alltag integriert. Bernie wurde ganz einfach Bernie. Er wurde zum »wahren Menschen ohne Rang und Namen«, wie es im Zen heißt. Er berührte einige von uns ganz tief in unserem Innern. Aber er beeinflusste auch viele Tausend Menschen durch seinen Mut, seine Vision und seine Bereitschaft, sein Leben, seine Praxis und seine Schüler für verschiedenste Orte des Leidens öffnen.

e: Das ist Ausdruck einer tiefen und ausgeprägten sozialen Achtsamkeit, die in ihrem tiefsten Kern menschlich ist.

JH: Ja, Bernie hat nicht einfach nur die Wahrheit des Leidens wahrgenommen und darüber nachgedacht. Er war bereit, die Ärmel hochzukrempeln und etwas zu tun. Das ist wichtig, denn Einsicht zu haben ist eine Sache, aber mutig und transformierend zu handeln eine andere.

Wir müssen im Blick behalten, dass der tiefste Grund für die Meditation das Erwachen ist. Aber beim Erwachen geht es nicht nur um uns selbst. Wenn man erwacht, wird man sich nicht vom Klimawandel, von Stammesdenken, Waffengewalt, Sexismus, Krieg, wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und all den anderen Themen trennen, die heutzutage in unserem Bewusstsein mit Leiden in Verbindung stehen. Wenn wir erwachen, tun wir etwas als Antwort auf dieses Leiden. Und das ist nicht nur eine Idee. Wir werden etwas tun, weil es der Natur des Erwachens entspricht, sich am Gelöbnis, das Leiden zu beenden, auszurichten. Wir stehen in einer Beziehung der Allverbundenheit mit der ganzen Welt, so wie sie ist, und wenn wir das verstehen, tun wir unser Möglichstes, um das Leiden zu beenden.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
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