Bewusstsein im Tod

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Essay
Published On:

October 26, 2015

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Ausgabe 8 / 2019
|
October 2015
Eine Welt im Dialog
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»Das Bewusstsein ist ein kleiner und partieller Tod, der Tod ist ein großes und totales Bewusstsein, ein Erwachen des ganzen Wesens in seinen innersten Tiefen.« Wie von innen heraus stülpt sich dieser Gedanke selbst um. Karl Fortlage, ein weitgehend vergessener Philosoph, inspiriert von ­Hegel und Fichte, hat ihn 1869 für eine Reihe psychologischer Vorträge aufgeschrieben. Ihm war aufgefallen, dass die Vorgänge des wachen Bewusstseins mit verbrauchenden und verzehrenden Vorgängen des Organismus und des Gehirns einhergehen. Würden sie sich ununterbrochen immer weiter fortsetzen, könnte der Organismus sein Leben nicht aufrechterhalten, aber so lange wir leben, werden die verbrauchten Lebenskräfte im Schlaf immer wieder erneuert und ermöglichen uns nach dem Erwachen unser normales, alltägliches Bewusstsein. Denken wir aber diesen Gedanken, dass unser Bewusstsein auf zum Tode führenden Vorgängen des Organismus beruht, weiter, so muss im Umkehrschluss der tatsächliche Tod mit einer Vollständigkeit und Umfänglichkeit des Bewusstseins einhergehen, die im Leben nie erreicht wird. Das ständige, aber partielle Sterben ermöglicht uns ein auch nur partielles Bewusstsein. Der Tod ist dann ein totales, ein geradezu kosmisches Bewusstsein.

Aber wie geschieht eigentlich dieser Übergang vom alltäglichen Bewusstsein unseres Lebens zu diesem totalen Bewusstsein im Tod? Fast alle spirituellen Traditionen haben sich diesen Übergang vergegenwärtigt, vom tibetischen Totenbuch bis zum Läuterungsfeuer des Christentums. Menschen, die eine Nahtodeserfahrung hatten, berichten, dass sie ihr ganzes Leben als Gesamtheit und in sich stimmigen Zusammenhang noch einmal vor sich sahen. Ich selbst habe in den Tagen nach dem Tod von Menschen, mit denen ich eng verbunden war, einen Aufriss des eigenen Bewusstseins erlebt, der mich ein Stück in diese Weitung des Bewusstseins mitriss: das Leben als Ganzes wird sinnvoll, verstehbar, gewichtet. Bei allem Schmerz über den Tod ist dies auch eine sehr feierliche Zeit, in der wir zumindest anfänglich den Übergang eines partiellen Bewusstseins zu einem totalen Bewusstsein begleiten können.

¬ WAS EINMAL BEWUSST WAR, HINTERLÄSST SEINE SPUREN UND KANN AKTUALISIERT WERDEN. ¬

Es scheint aber so, dass die Beziehung eines Verstorbenen zu seiner vergangenen Biographie nicht in der Stärke der ersten Zeit nach dem Tode anhält, sondern sich allmählich auflöst. Was bleibt, sind Haltungen, Ideen, Werke, die im Bewusstsein des Verstorbenen lebendig waren und die jetzt geläutert und frei werden von den Beschränkungen des gewöhnlichen Alltags­bewusstseins. Ein Mensch, der zu Lebzeiten starken Anteil an meinem persönlichen Wohlergehen genommen hat, konnte das nur, so weit er überhaupt von dem, was in meinem Leben vorgeht, wusste. Heute, Jahre nach dessen Tod, wird er mir manchmal gegenwärtig in Situationen, die mein persönliches Wohlergehen betreffen, als ob durch eine offene Tür ein Windzug wehte.

Es bedarf einer subtilen Beobachtung, um den Unterschied zwischen dem normalen An-einen-Toten-denken und diesem feinen Windzug wahrzunehmen, der etwas Tatsächliches hat, vielleicht sogar noch viel öfter und umfänglicher da ist, mir aber wenigstens hier und da zum Bewusstsein kommt. In dieser subtilen Beobachtung weitet sich auch mein Bewusstsein und bemerkt, dass es von Bewusstsein umgeben ist. Und dieses umgebende Bewusstsein ist nicht beliebig und auch nicht leer, sondern jeweils ganz konkret und unterschiedlich, je nachdem, wovon mein Bewusstsein gerade erfüllt ist.

Manchmal habe ich in der Beschäftigung mit einem bestimmten Thema Ideen, Einfälle, Inspirationen, von denen ich spüre, dass sie mir zwar neu sind, ich sie aber nicht eigentlich erfinde, sondern eher vorfinde. In dem mich umgebenden Bewusstseinsraum sind sie wie schon vorhanden, ich aktualisiere sie nur. Manchmal hat man Glück und findet die Spuren des Urhebers eines solchen Einfalles in einem Buch und kann leise spüren, wie einem der Einfall zugetragen wurde. Das Bewusstsein der Verstorbenen steht uns zur Verfügung, sie stellen es uns zur Verfügung, wenn wir dafür empfänglich sind.

Bewusstsein ist kein leerer Raum. Was einmal bewusst war, hinterlässt seine Spuren und kann aktualisiert werden. Mag sein, dass sich im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte die Spuren der Persönlichkeit des damaligen Erdenlebens auflösen. Dass sie aber einmal bewusst war, aus dem kosmischen Bewusstsein einen kleinen Teil ausgesondert und zu dem ihren gemacht hat, das hinterlässt seine Spuren im kosmischen Bewusstsein. Dieses wird sozusagen von innen durchleuchtet und erfüllt. Und das verdanken wir den Toten.

Author:
Anna-Katharina Dehmelt
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