Conchita Wurst, Cyborgs und unsere Postgender-Zukunft

Our Emotional Participation in the World
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Essay
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August 1, 2014

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Ausgabe 03 / 2014
|
August 2014
Maschinen meditieren nicht
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Die Wandlung unserer Geschlechteridentität


Leben wir in einer Zeit, in der die Geschlechterpolarität immer unwichtiger wird? Werden die technischen Möglichkeiten zu einer neuen Form von Gender-Befreiung führen? evolve Redakteurin Elizabeth Debold untersucht die Parallelen zwischen Transhumanismus und Transgender und erklärt, warum es so wichtig ist, uns mit einer existenziellen Tiefe jenseits aller Unterschiede zu verbinden.


Als Conchita Wurst im Mai dieses Jahres den Eurovision Song Contest gewann, war ich begeistert. Nicht nur deshalb, weil ihr Sieg ein Triumph für alle Transsexuellen war, sondern mehr noch, weil uns ihre maskuline Weiblichkeit (oder feminine Männlichkeit) auf eine Zukunft verweist, in der die Geschlechterpolarität, die uns „normal“ erscheint, keinen Sinn mehr ergeben wird. Conchita Wurst alias Thomas Neuwirth verlässt die üblichen Pfade von Dragqueens, indem er Vollbart trägt und ohne weibliche Prothesen auskommt, gleichzeitig aber mit falschen Wimpern, langem Haar und glitzerndem Abendkleid auftritt.  Transsexualität fordert das Wesen von Männlichkeit und Weiblichkeit heraus, welche in ihrer Polarität die Grundlage der modernen Kultur bilden. Sie hat das Ziel, die biologischen Grundlagen des Menschen zu transzendieren und betont die Freiheit von den Dualismen der Moderne – männlich/weiblich, Geist/Körper, Kultur/Natur – und trägt somit das Potenzial grundlegender kultureller Veränderung in sich.

Transsexualität fordert das Wesen von Männlichkeit und Weiblichkeit heraus, welche die Grundlage der modernen Kultur bilden.


Die Befreiung von biologischen Vorgaben interessiert nicht nur die Transsexuellen, sondern ist auch ein wichtiger Bestandteil einer anderen kulturellen Strömung: des Transhumanismus. Meines Erachtens ist es kein Zufall, dass beide Trends gerade Fahrt aufnehmen. In der Tat gibt es zwischen ihnen einige faszinierende Ähnlichkeiten. Beide fordern uns dazu auf, die Grenzen unserer Biologie zu überwinden und unser Menschsein neu zu erfinden. Beide sind von Technologien abhängig, die heute erst im Entstehen sind. Sie sind motiviert von einem Wunsch nach Transzendenz, was oft auch ein spirituelles Ziel ist, aber beide  wollen dieses Ziel mit materiellen Mitteln erreichen – mit Operationen, Implantaten und Medikamenten. Und in beiden Strömungen gibt es Vertreter, die eine Postgender-Zukunft im Blick haben.
Wie lange noch werden wir vom Geschlecht und den Voraussetzungen biologischer Fortpflanzung abhängig sein, um unser Menschsein zu bestimmen? Obwohl wir noch weit davon entfernt sind, könnte die Identifikation mit dem Mann- oder Frausein in nicht allzu ferner Zukunft für unser Leben, unser Glück und unseren kreativen Beitrag im Leben fast irrelevant sein. Wie werden wir uns dann innerlich verwurzeln und ein begründetes Gefühl der Selbstidentität, des Sinns und der Lebensorientierung entwickeln? Ich möchte einen Blick auf diese Anzeichen einer Postgender-Kultur werfen, die sich zu zeigen beginnen. Dann möchte ich darüber reflektieren, wie wir unsere Menschlichkeit entwickeln können, damit wir nicht zu Geistern in einer Gesellschaft von Maschinen werden.

Ich träume von Samantha

Postgender-Gesellschaften sind schon seit langem Thema der Science Fiction Literatur. „Die linke Hand der Dunkelheit“ von Ursula Le Guin aus dem Jahre 1968 war eines der ersten Bücher, das dieses Thema aufgriff – ein „Gedankenexperiment“ über eine Gesellschaft, in der die Menschen „ambisexuell“ sind und einmal im Monat zu Fortpflanzungszwecken ein bestimmtes Geschlecht annehmen. In einer neuen Artikelserie auf der Science Fiction Website Tor.com behauptet die Autorin Alex Dally MacFarlane, dass „postbinäre Geschlechter“ ein essentieller Teil jeder Science Fiction Geschichte sein sollten: „Menschen, die nicht in die Zweiteilung der Geschlechter passen, hat es in der Vergangenheit geben, es gibt sie heute und es wird sie auch in der Zukunft geben.“ MacFarlane argumentiert, dass die Zweiteilung der Geschlechter im Science Fiction Genre immer noch weit verbreitet ist. Aber ich möchte anfügen, dass diese Grundannahme gleichzeitig überraschenderweise hinterfragt wird. Hollywood und die Spiele-Industrie schaffen Bilder von Männern und Frauen, die extrem polarisiert und sexualisiert sind. Der Cyborg-Mann ist mit Metallplatten und Muskeln bepackt (Terminator, Robocop oder Roy Batty in „Blade Runner), die Cyborg-Frauen hingegen sind, mit einem Ausdruck aus „Blade Runner“, das „Standardmodell fürs Vergnügen“. Obwohl es die Tendenz gibt, dass weibliche Actionheldinnen nur „kämpfende Sexspielzeuge“ (Caroline Heldman) sind, spielt Sex bei den großen Science Fiction Helden kaum eine Rolle. Männliche Helden (zum Beispiel Mad Max, Han Solo, Neo, Tony Stark, Jean-Luc Picard) zeigen klassisch männliche Attribute: körperliche Stärke, schroffer Individualismus, kluger Intellekt, Erfindungsreichtum, Führungsstärke, Mut, Macht und Aggression. In den Untergangszenarien der Zukunft, die unsere kollektive Vorstellungskraft bevölkern, schützen uns diese Helden und begeben sich an die vorderste Front, um die Frauen und die Welt zu retten. Im Prinzip sind sie Cowboys. Aber hier geht es schon über die Geschlechteridentifikationen hinaus: große Science Fiction Heldinnen – Ellen Ripley in „Aliens“, Sarah Connor in „Terminator“ und Catniss Everdeen in „The Hunger Games“ – wirken auch wie Cowboys, aber mit etwas mehr Komplexität. Über die Rolle als mutige und einsame Kriegerinnen bzw. Führinnen hinaus  werden sie durch klassisch mütterliche Fürsorge motiviert.

Die veränderten Erwartungen an Frauen haben schon begonnen, eine soziale Postgender-Welt zu formen.


Das Problem dabei ist, dass es trotz der Freiheit, die Science Fiction Autoren bei den Entwürfen neuer Welten zur Verfügung steht, kaum wirklich große Heldinnen gibt. Von Barbarella bis zu den Fembots erinnert mich die Darstellung von Frauen in Science Fiction und Fantasy mehr an „Bezaubernde Jeannie“ – jene sexy aussehende magische Begleiterin, die ihrem „Meister“ jeden Traum erfüllt. Die Website „The Escher Girls“ (eschergirls.tumblr.com) dokumentiert die fast schon komisch absurden Verzerrungen und Übertreibungen bei der Darstellung von Comic-Kriegerinnen, die sich mit riesigen, fast entblößten Brüsten und herausgestrecktem Hintern in den Kampf stürzen. Allzu oft werden die Visionen der Zukunft zur Projektionsfläche unreifer Fantasien, die beide Geschlechter hypersexualisieren und extreme Geschlechterunterschiede untermauern.
Und doch gibt es bei diesen pubertären männlichen Fantasien ein subversives Element, das jene Zweiteilung der Geschlechter unterläuft, die diese Bilder eigentlich stärken sollen: Wenn junge Männer in Spielen oder bei Second Life weibliche Avatare annehmen oder junge Frauen männliche Avatare, dann erweitert sich die „Selbst“-Identifikation über die Art von Sexualität und Geschlecht hinaus, mit denen man persönlich oder körperlich identifiziert ist. Selbst Ray Kurzweil, der lautstarke Prophet unserer strahlenden Technozukunft und Director of Engineering bei Google experimentiert mit geschlechterübergreifenden virtuellen Realitäten. Er hat „Ramona“ geschaffen, sein Alter Ego in der virtuellen Realität, die seine Fantasie, ein weiblicher Rockstar zu sein, erfüllt. (Auf seiner Website kann man sogar mit Ramona chatten.) Diese Experimente mit geschlechterübergreifenden Rollenspielen in Räumen der virtuellen Realität könnten im wirklichen Leben zu einer Postgender-Welt führen.

Invasion der Frauen

Nun möchte ich die Welt der Science Fiction Krieger verlassen und zum Planeten Erde zurückkehren, wo die Zweiteilung der Geschlechter seit dem Beginn der Frauenbewegung unter Beschuss geriet. Obwohl es heute schwer zu sehen sein mag, die veränderten Erwartungen an Frauen haben schon begonnen, eine soziale Postgender-Welt zu formen. Seit Frauen aus der privaten weiblichen Sphäre des Heimes in die öffentliche männliche Sphäre der Arbeit (und der Politik usw.) kommen, wird der starke Gegensatz, der die Zweiteilung der Geschlechter aufrechterhalten hat, schwächer. Wenn eine Veränderung zur Norm wird, können wir uns kaum mehr vorstellen, dass das Leben einmal anders war. Wir vergessen, dass im 19. Jahrhundert anerkannte Ärzte der Meinung waren, dass die Gebärmutter schrumpfen würde, wenn Frauen sich zu sehr mit intellektuellen Themen beschäftigten. Heute, wo Frauen in allen Bereichen ihre Fähigkeiten und Kompetenzen bewiesen haben, erscheinen solche Ideen verrückt. In gleicher Weise waren über hundert Jahre Überzeugungsarbeit durch radikale Frauen nötig, bis es für Frauen erlaubt war, in der Öffentlichkeit Hosen zu tragen, die hunderte Jahre lang den Männern vorbehalten waren.
Wir geben Männern heute noch nicht die gleiche Erlaubnis, Frauenkleider zu tragen – und deshalb ist Conchita Wurst so eine Überraschung. Sie zieht sich nicht einfach nur Frauenkleider an, sie gibt dabei ihren Bart und ihre Körperform nicht auf (also ohne Vergrößerung von Brüsten oder Po). Conchita ist vielleicht ein Hinweis darauf, dass es auch für Männer bald normal sein wird, Frauenkleider zu tragen. Und der Trend bei jungen Männern, dies zu tun – einfach, weil sie es wollen –, wäre ein weiterer Schritt in eine Postgender-Welt. Die Befreiung von Frauen und Männer hin zur Entdeckung der ganzen Breite menschlicher Möglichkeiten wird durch neue Technologien noch verstärkt werden. Der biologische Unterschied zwischen Männern und Frauen im Zusammenhang mit menschlicher Fortpflanzung war die Grundlage für die Schaffung einer Kultur der getrennten Geschlechter. Erweiterte Reproduktionstechnologien werden die biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern immer unwichtiger machen. Was wird es bedeuten, biologisch eine Frau zu sein, wenn neue Reproduktionstechnologien es ermöglichen, außerhalb der Gebärmutter gesunde Babys heranwachsen zu lassen? Was wird es bedeuten, ein Mann zu sein, wenn selbst Männer mithilfe technologischer Interventionen Kinder bekommen können? Wenn wir Teile von uns selbst ersetzen oder erweiterte Möglichkeiten der Verkörperung haben, werden wir uns dann weiterhin als eindeutig männlich oder weiblich erschaffen? Warum sollten wir?

Das „Trans“ denken

Vor Kurzem las ich zwei Berichte von jungen Erwachsenen, die dabei waren, ihr Geschlecht zu wechseln und mittendrin anhielten. Sie unterbrachen den Wechsel, weil sie erkannten, dass es ihnen gar nicht darum ging, das angeblich andere Geschlecht anzunehmen. Einer von ihnen sagte, dass er bzw. sie nicht von einer Schublade in die andere wollte. Indem man die Seiten wechselt, Bestätigung man irgendwie auch die Zweiteilung der Geschlechter und verpasst so das radikale Potenzial des trans-sexuellen Impulses.

Was wird aus uns, wenn Sexualität und Geschlecht nicht länger die Grundlage unseres Selbst und unserer Kultur sind?


Natürlich gibt es Menschen, die das Gefühl haben, im falschen Körper gefangen zu sein. Aber als Entwicklungspsychologin frage ich mich, ob das nicht eher eine Frage der kognitiven Entwicklung ist als eine der Geschlechter-Dysphorie. Unsere Kultur betont die Zweiteilung der Geschlechter, und unser Verstand ist auf einer bestimmten Entwicklungsebene nur in der Lage, in binären Unterschieden zu denken. So könnten Kultur und Kognition zusammen manche in der Annahme bestärken, dass das Geschlecht des eigenen Körpers nicht das richtige ist. Wenn unsere Kultur Raum dafür geben würde, dass Geschlecht und Sexualität ein größeres Spektrum umfassen, wobei „rein“ maskuline Männer und „rein“ feminine Frauen die beiden extremen Pole bilden, gäbe es dann vielleicht weniger Notwendigkeit für Geschlechtsumwandlung? Mit anderen Worten, werden die meisten von uns in Zukunft in Bezug auf die Geschlechterpolarität „trans“ sein, während es an den „Rändern“ den männlichen und den weiblichen Pol gibt?
Unsere Fähigkeit, dieses „Trans“ zu denken und nicht in einem binären Denken verhaftet zu bleiben ist eine neue Möglichkeit, die sich gerade erst entwickelt. Die Struktur der modernen Kultur gründet auf dieser binären Unterscheidung zwischen zwei Geschlechtern: männlich/maskulin und weiblich/feminin. Das ist auch die Grundlage unserer Identität – als was wir uns in der Tiefe verstehen. Was wird aus uns, wenn Sexualität und Geschlecht nicht länger die Grundlage unseres Selbst und unserer Kultur bilden? Wie verankern wir uns in Beziehungen und in einem Sinnzusammenhang, wenn es nicht länger unser Körper ist, der das Geheimnis unseres Menschseins birgt? Denn diese Entwicklung eröffnet uns zwar die Möglichkeit, unser Selbst und unsere Sexualität in unserer eigenen Weise zum Ausdruck zu bringen, aber sie zieht uns auch den Boden unter den Füßen weg. Unsicherheit, Fragmentierung und Entfremdung könnten uns heimsuchen und uns als Menschen trennen. Um uns selbst tiefer zu verankern und Verbundenheit zu schaffen können wir aber die Tiefe unseres Selbst entdecken, vor und jenseits der Art unserer Verkörperung, die Einheit des Bewusstseins, die die Grundlage der Schöpfung ist. Statt uns in binären Unterschieden zu verwurzeln, können wir uns im Grund der Nichtgetrenntheit verankern, aus dem alle Unterschiede erst entstehen. Diese Tiefe, die vor allen Geschlechterunterschieden liegt, kann uns befreien, um eine Postgender-Zukunft zu schaffen, in der die vielfältigen Möglichkeiten des Ausdrucks aus der tiefen Ganzheit unseres gemeinsamen Menschseins entstehen.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
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