Das Fest der Lebendigkeit

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

January 30, 2020

Featuring:
Dr. Hildegard Kurt
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Ausgabe 25 / 2020:
|
January 2020
Ende oder Wende
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Wirklich erstaunlich ist weniger, wie die Welt ist, sondern vielmehr, dass sie ist. Tatsächlich: Ganz und gar unabhängig davon, ob es einen Schöpfer gibt oder nicht, stellt die schiere Existenz von Leben auf diesem Planeten eine Art Wunder dar. Wie kann das nur sein, diese überwältigende Vielfalt und Fülle, die faszinierende Schönheit in den Erscheinungsformen und Rhythmen der lebendigen Welt – jenseits jeder Notwendigkeit, weit über alles bloß Funktionale hinaus? Und damit nicht genug. Dieses Lebendige, wie es manifest wird, in der Mikrobe wie in den verborgenen Welten der Tiefsee, im Steinadler des Hochgebirges wie dem Fuchs in der Stadt, in jedem Baum, jedem Menschen, jedem Ökosystem, ist noch dazu in der Lage, sich seiner selbst bewusst zu werden. Spät, hoffentlich nicht zu spät beginnen wir zu begreifen, dass die Intelligenz, die in der Evolution zum Ausdruck gelangt, genau deshalb unsere Gattung hervorgebracht haben dürfte: damit ein Bewusstsein entstehen kann, worin die stets präsente schöpferische Lebendigkeit der Welt sich ihrer selbst gewahr wird.

Wenn in der einstigen Weltsprache Latein colere, das Verb zu cultura – die Worte stammen aus dem Landbau – neben »nutzen« und »pflegen« auch »ehren« bedeutet, mahnt Letzteres Ehrfurcht vor dem Lebendigen an. Das moderne Projekt der Weltbemächtigung indes hat sich einseitig auf »nutzen« verlegt, was zum Vernutzen, Verdinglichen, Vermarkten, Verwüsten von Lebendigkeit führte und führt. Angesichts dessen lancierte der UN-Erdgipfel 1992 in Rio de Janeiro mit dem Leitbild Nachhaltigkeit das Primat des »Pflegens« unserer Lebensgrundlagen. Heute beginnt die Weltgesellschaft namentlich aufgrund der Klimakrise zu erkennen, dass sie – jenseits aller Unterschiede – in ihrer Verbundenheit mit und ihrer Abhängigkeit von der Erde eine Einheit bildet. Hier kann das »Ehren« als praktizierte Ehrfurcht vor dem Lebendigen ein Portal werden hin zu einer Kultur und einer Politik echter Gegenseitigkeit auf und mit der lebendigen Erde. Ist doch lebendig zu sein das, was wir Menschen untereinander wie auch mit allen Mitlebewesen teilen. Dies zu zelebrieren, verhilft überdies zur bitter nötigen Resilienz beim an Rückschlägen so reichen Werk des großen Wandels.

Der »normale« Geisteszustand heute ist oft kaum noch mehr als ein Wust an Konzepten.

Was aber bedeutet Lebendigkeit zu zelebrieren? Es beginnt, indem wir dem Sein die Ehre erweisen, gewärtig zu werden. Denn seit, weit zurück in der Menschheitsgeschichte, das Denken die Oberhand gewann, um fortan zunehmend einseitig vorzuherrschen, fanden und finden unser Wahrnehmen und Spüren sich zusehends überblendet und ausgeblendet. Der »normale« Geisteszustand heute ist oft kaum noch mehr als ein Wust an Konzepten, mentalen Konditionierungen, Wiederholungsschleifen – was uns selbst krank macht, aber auch alle anderen Lebewesen bis hin zur Erde in Mitleidenschaft zieht. Das Zelebrieren von Lebendigkeit beginnt mithin, indem wir innehalten, um von da aus – sei es für einen Moment – unser In-der-Welt-Sein zu ent-automatisieren; indem wir aufmerkend anfangen, die Präsenz des lebendigen Seins zu spüren. Bäume etwa können exzellente Lehrer hierfür sein.

So wenig spektakulär das erscheinen mag, bahnt es doch einer neuen Ära den Weg. Der Eindruck, einen Epochenrand erreicht zu haben, verstärkt sich ja inzwischen fast von Tag zu Tag. Bestürzt, ratlos, erkennen wir, welch schrecklichen Irrtum die einseitige Dominanz des Denkens oder vielmehr eines Denkens, das sich vom Spüren des lebendigen Seins abgetrennt hat, darstellt; welche Desaster daraus resultieren; wie, vom Ganzen aus betrachtet, lächerlich unsere westliche Kultur heute damit dasteht.

Ja, da, wo wir angelangt sind, inspiriert das Zelebrieren von Lebendigkeit zu Demut. Demut ist heilsam. Können wir inmitten der tagtäglichen Lebens- und Arbeitspraxis anfangen, neu die einfache, aber tiefe Freude des Seins zu spüren? Können wir bei allen Aktivitäten, Projekten und Agenden ab und an seinlassen? Das Sein lassen? Sein? Schauen, horchen, was dann geschieht? Dem folgen?

Was für eine Welt würde so entstehen?

Author:
Dr. Hildegard Kurt
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