Das Gewebe des Lebens

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

February 2, 2021

Featuring:
Merlin Sheldrake
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Issue:
Ausgabe 29 / 2021:
|
February 2021
Wissenschaft
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Was die Wissenschaft von den Pilzen lernen kann

evolve: Wie bist du zu deiner Forschungsarbeit über Pilze gekommen?

Merlin Sheldrake: Es hat mich schon immer interessiert, wie Organismen miteinander Beziehungen eingehen. Mich faszinierte das Forschungsfeld der Symbiose, bei dem wir untersuchen, wie Organismen sehr eng nebeneinander koexistieren. Es gibt in der Natur zahlreiche Beispiele für eine solche Symbiose als grundlegendes Merkmal des Lebens. Aber Pilze sind wirklich ganz besondere Symbiose-Genies, denn sie haben Verflechtungen geschaffen, die das Leben auf diesem Planeten entscheidend geprägt haben.

e: Was waren während deiner Forschungsarbeiten über Pilze und Symbiose die beeindruckendsten Erkenntnisse aus dieser Welt wechselseitiger Beziehungen?

MS: Ich finde es erstaunlich, dass die Vorfahren von Mykorrhiza-Pilzen eine sehr wichtige Rolle beim Entwicklungsprozess der Vorfahren der Pflanzen gespielt haben, die sich vor 500 Millionen Jahren an Land ausgebreitet haben. Die gesamte Geschichte der terrestrischen Biosphäre ist das Ergebnis einer sehr alten Beziehung zwischen Algen und Pilzen. Diese Erkenntnis verändert mein Verhältnis zu Pflanzen und Ökosystemen, weil ich diese Organismen als Verbünde von Organismen begreife.

Intelligenz ohne Gehirn

e: Kannst du noch mehr über diese veränderte Sicht auf die Lebenswelten sagen? Was hast du diesbezüglich von den Pilzen gelernt?

MS: Pilze sind sehr unbestimmte Organismen, sie haben keine fest umrissene Körperstruktur wie wir. Sie müssen sich kontinuierlich und flexibel an ihr Umfeld anpassen, indem sie ständig eine neue Gestalt annehmen. Daher existiert kein »Kontrollzentrum«. Die Pilze koordinieren sich überall gleichzeitig und ohne bestimmbare Schaltzentrale. Wir müssen uns an die Vorstellung gewöhnen, dass diese Organismen ihr Verhalten auf eine Weise koordinieren können, die sich sehr von der unsrigen unterscheidet, welche das Gehirn als zentrale Verarbeitungsstelle benötigt.

Ich erforsche, wie Pilze die Welt erkunden, wie sie ihre Körper ausbreiten und dabei einen komplizierten Austausch an Informationen verarbeiten, wie sie sensorische Eindrücke aus unterschiedlichen Teilen ihres Netzwerks integrieren und dann irgendwie zu geeigneten Vorgehensweisen, Wachstumsrichtungen oder metabolischen Wirkungen gelangen. All dies bewerkstelligen sie ohne ein Gehirn. Das erweitert unser Verständnis der Wahrnehmungsfähigkeit dieser Organismen.

e: Inwiefern stellen diese Aspekte deiner Forschung unsere gegenwärtigen Anschauungen über organisches Leben und unsere Rolle als Menschen im Gewebe des Lebens infrage?

MS: Ich denke, in vielerlei Hinsicht können wir unsere Probleme auf unser Selbstverständnis als klar voneinander trennbare Individuen zurückführen – getrennt von anderen Menschen und von der Welt, die uns am Leben erhält. Dieses Getrenntsein ist die Ursache der Ausbeutung der Natur und anderer Menschen. Wenn wir uns als Teil eines Systems verstehen würden, in das wir fest eingebettet sind, dann hätte es für uns keinen Sinn, solche Lebenssysteme so weit zu zerstören, dass eine Regeneration nicht mehr möglich ist. Und weil Pilze und Mikroben unser Verständnis von Individualität grundsätzlich herausfordern, können sie uns dabei helfen, unser Konzept vom Selbst, von Individualität und Identität zu erweitern. Wir sind nicht nur Individuen, sondern in unserem Inneren gibt es Mikroben, ohne die wir uns nicht entwickeln oder so verhalten könnten, wie wir das eben tun. Deshalb müssen wir unsere Vorstellungen von unserem eigenen Körper an diese neuen Erkenntnisse anpassen.

Und wir müssen auch unser Verständnis der Körper anderer Wesen anpassen. Wir erkennen, dass wir selbst Ökosysteme sind. Indem wir uns als Verkörperungen von Ökosystemen und Ökologien begreifen, wandelt sich unser Verständnis der größeren Ökosysteme und Ökologien, welche uns umgeben und am Leben erhalten. Dieses Verständnis kann uns dabei helfen, unser Narrativ des Getrenntseins aufzugeben zugunsten eines Narrativs des Verbundenseins und der wechselseitigen Abhängigkeit. Und das kann uns wiederum zu einer verantwortungsbewussteren, nachhaltigen und lebenserhaltenden Handlungsweise führen, welche die Organismen, von denen unser Leben abhängt, ebenso wie künftige Generationen der Menschheit nährt.

Die Teile ins Ganze integrieren

e: Hat diese Forschung auch deinen Blick auf die Wissenschaft oder die Aufgabe des Wissenschaftlers verändert?

MS: Ich glaube, wir erleben gerade einen großen Augenblick des Wandels in den Naturwissenschaften, weil Wissenschaftler die Grenzen reduktionistischer Forschungsprogramme erkennen. Seit einigen Jahrzehnten rückt die Frage in den Mittelpunkt: Wie verbinden wir all die Informationen über kleine Teile von Organismen zu einer kohärenten ganzheitlichen Betrachtung? Über alle unterschiedlichen Fachgebiete der Biologie hinweg werden verstärkt Forschungsgelder vergeben, die der Förderung von interdisziplinärer Zusammenarbeit dienen sollen.

Die Erforschung von Pilzen und wissenschaftliche Studien über Symbiose hinterfragt die bisherige Struktur der Naturwissenschaften. Wenn man die wechselseitigen Beziehungen zwischen Pflanzen und Pilzen oder zwischen Pflanzen und Tieren untersuchen will, dann sind für die Erforschung dieser Organismen jeweils die Fakultäten für Zoologie und für Pflanzenbiologie zuständig. Aber wie können wir die Interaktion zwischen diesen verschiedenen Organismen erforschen? Die im 19. Jahrhundert angestoßene Professionalisierung der Wissenschaften führte zu einer Einteilung in viele Expertenfachgebiete, die in verschiedenen Fakultätsgebäuden untergebracht wurden. An solchen auf Forschungsgebiete spezialisierten Universitäten ist es schwierig, die Beziehungen zwischen den Organismen zu erforschen, weil dies einen Sprung über die Grenzen von Wissenschaftsdisziplinen hinweg voraussetzen würde.

WIR ERKENNEN, DASS WIR SELBST ÖKOSYSTEME SIND.

e: Es hat ganz den Anschein, als seist du ein Beispiel für einen Wissenschaftler, der bei seiner Arbeit partizipatorisch vorgeht. In deinem Buch sprichst du davon, dass Wissenschaft nicht nur mit rationalem Bemühen, sondern auch mit Fantasie und Intuition zu tun hat. Zudem führst du interessante Experimente durch, bei denen du durch die Einnahme von LSD versuchst herauszufinden, wie Pilze fühlen. Du scheinst dich also tief einzulassen auf das, was du erforschst.

MS: Wenn man etwas erforscht, befindet man sich bereits in einer Interaktion. Manchmal können wir so tun, als ob das nicht so wäre und als ob wir nur Experimente durchführen würden. Aber es entsteht dabei noch eine andere Beziehungsebene, über die nicht oft gesprochen wird. Ich habe zum Beispiel Wissenschaftler kennengelernt, die verschiedene Tier- und Pflanzenarten im Regenwald erforschen. Sie verbringen viel Zeit damit, diese Organismen zu suchen und sie zu studieren. Dabei gehen sie eine Beziehung mit diesen Lebewesen ein, über die in den Publi­kationen zu ihrer Arbeit nicht gesprochen wird. Ein Grund, warum Menschen überhaupt Biologie studieren, ist diese Faszination an anderen Lebensformen. Natürlich erfordert die biologische Forschung auch Sorgfalt und methodische Korrektheit. Aber ich glaube nicht, dass uns das Eingeständnis unserer leidenschaftlichen Neugier von den eher formalen Aspekten unserer Forschung ablenkt. Ich denke, es ist möglich, beides gleichzeitig umzusetzen.

Bewusstsein ist innen

e: Denkst du, dass ein solch erweitertes Verständnis wissenschaftlicher Praxis notwendig oder hilfreich dafür ist, unsere Auffassung von Wissenschaft weiterzuentwickeln?

MS: Es könnte dazu beitragen, die Kommunikation zwischen Wissenschaftlern und Öffentlichkeit zu verbessern. Und es könnte Menschen, die selbst keine praktizierenden Forscher sind, ein wenig besser verständlich machen, was es bedeutet, ein Forschender zu sein. Dann könnte das Erforschen als menschliche Praxis wahrgenommen werden statt als etwas, das hinter verschlossenen Türen in einer geheimnisvollen Welt der technischen Geheimnisse geschieht. Eine solche generelle wissenschaftliche Bildung würde die Kommunikation von Wissenschaft in der Gesellschaft verbessern und zu einem realistischeren Bild dessen beitragen, was Wissenschaftler tun können und was nicht. Denn es ist für jeden wichtig zu verstehen, was für die Wissenschaft möglich ist und was nicht. Nur so lernen wir, mit unserer Ungewissheit und unseren Erwartungen verantwortungsvoller umzugehen.

e: Wo siehst du die Grenzen der Wissenschaft? Was kann Wissenschaft vielleicht nicht so gut?

 BEWUSSTSEIN IST EIN SUBJEKTIVER VORGANG, DEN MAN NICHT EINFACH ZUM GEGENSTAND EINER OBJEKTIVEN UNTERSUCHUNG MACHEN KANN.

MS: Ich denke, da gibt es einige Bereiche. Besonders sticht dabei das sogenannte »schwierige Problem des Bewusstseins« (the hard problem of consciousness) hervor. Es wird uns gesagt, Materie und Energie, die dem Universum zugrunde liegenden physikalischen Prozesse, seien zwecklos, bedeutungslos und gefühllos. Aber irgendwie sind diese Moleküle und energetischen Prozesse – zumindest in unseren Körpern – in der Lage, eine zweckmäßige, sinnvolle, gefühlvolle innere subjektive Welt hervorzubringen. Wie geschieht das? Viele Menschen ringen mit diesem »schwierigen Problem des Bewusstseins«, denn in den wissenschaftlichen Verfahren versucht man, die Dinge objektiv von außen zu betrachten. Man blickt von außen auf das Objekt. Aber der Prozess des Bewusstseins geschieht von Natur aus im Inneren. Es ist ein subjektiver Vorgang, den man nicht einfach zum Gegenstand einer objektiven Untersuchung machen kann.

e: Während der Corona-Pandemie spielt die Wissenschaft eine besondere Rolle in der Gesellschaft. Es hat sich eine Debatte über die »richtigen« Fakten und die »richtigen« Statistiken entfacht. Vermittelt dir diese Zeit neue Erkenntnisse über die Relevanz, die Rolle und die Grenzen der Wissenschaft?

MS: Ich glaube nicht, dass ein neues Verständnis entsteht. Aber die aktuelle Entwicklung verdeutlicht verschiedene bereits existierende Aspekte der Wissenschaft und ihre Rolle in der Gesellschaft in besonderer Weise. Zum Beispiel, wie Ungewissheit kommuniziert wird. Es ist sehr schwierig für uns, mit Ungewissheit umzugehen, und so helfen uns die Statistiken dabei, mit Unsicherheit zurechtzukommen. Aber Wissenschaftler kommunizieren mit einer Öffentlichkeit, die harte Fakten von ihnen erwartet. Die Menschen erhoffen sich Gewissheit von den Wissenschaftlern, aber zwischen dieser Erwartung und der Arbeitsweise der Wissenschaft klafft eine Lücke. Die Kommunikation könnte also verbessert werden.

Das weist auf eine weitere Grenze dessen hin, was Wissenschaft für uns tun kann. Wenn Regierungsvertreter sagen: »Wir halten uns an das, was die Wissenschaft sagt«, ist nicht klar, was damit eigentlich gemeint ist, denn die Entscheidungen, die eine Regierung zu treffen hat, müssen politisch motiviert sein. In diese Entscheidungen können zwar wissenschaftliche Erkenntnisse einfließen, aber die Entscheidungen selbst sind politische und keine wissenschaftlichen Entscheidungen. Viele Politiker verstecken sich hinter der Wissenschaft wie hinter einem Schutzschild und wollen so den öffentlichen Zorn oder die Kritik von sich fernhalten.

Wissenschaft und Spiritualität

e: Dein Vater Rupert Sheldrake beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den Grenzen unseres Wissenschaftsverständnisses und seiner möglichen Weiterentwicklung. Wie sehr hat sein Denken deine Arbeit beeinflusst?

MS: Mein Vater ist ein außergewöhnlicher Erforscher der lebendigen Welt und er hat viel dafür getan, meine Neugier für biologische Phänomene zu wecken. Für meine wissenschaftliche Bildung hat er also eine wichtige Rolle gespielt. In seiner eigenen Arbeit beschäftigt er sich mit den Gefahren eines Reduktionismus um jeden Preis und möchte die Lebewesen in einem größeren Kontext und auf einer ganzheitlicheren Ebene betrachten. Das hat mein Denken und meine Entscheidung für ein Studium der Ökologie beeinflusst, in der wir die Beziehungen von Lebewesen untereinander und zu ihrer Umwelt erforschen. Wenn man Ökologie studiert, muss man diese größere Perspektive einnehmen und nach Erklärungen auf der Ebene von Ökosystemen suchen, anstatt auf der Ebene der Moleküle innerhalb von Zellen.

e: Heute gibt es viele Bemühungen, Wissenschaft mit Spiritualität zu verbinden und so eine Brücke zwischen der wissenschaftlichen Erforschung von Phänomenen und der Erfahrung einer spirituellen Innerlichkeit zu schlagen. Wie schätzt du diese Möglichkeit einer Begegnung von Wissenschaft und Spiritualität ein?

MS: Auf diesem Gebiet sehe ich sehr faszinierende Ansätze. Zum Beispiel die wissenschaftliche Untersuchung von spirituellen Praktiken. Wenn Menschen in einer großen Gruppe gemeinsam singen, verringern sich ihre Stresshormone. Fasten, eine sehr alte spirituelle Praxis, hat viele positive Auswirkungen auf die Gesundheit. Der Nutzen von Meditation bei Stress, Angst und Depressionen ist gut untersucht worden. Das gilt auch für die unterstützende Kraft des Gebets bei der Heilung von Krankheiten. Dann gibt es die psychedelische Forschung, wo Menschen unter ärztlicher Begleitung tiefe mystische Erfahrungen machen, die ihnen dabei helfen, ihre Depressionen oder Süchte zu überwinden. Diese Forschung zeigt uns, dass Praktiken, die die Menschen seit sehr langer Zeit praktizieren, wichtig für die Gesundheit von Individuen und Kulturen sind.

e: Die Ausübung der Wissenschaften und Naturwissenschaften basiert auf einer materialistischen Weltsicht. Wie du schon im Zusammenhang mit dem »schwierigen Problem des Bewusstseins« angedeutet hast, gibt es Fragen, die die Wissenschaft nicht beantworten kann. Zum Beispiel hinsichtlich der Entstehung von Leben aus Materie oder der Entstehung von Bewusstsein aus einem materiellen Universum. Andererseits gibt es spirituelle Traditionen, die den subjektiven Einblick in Bewusstsein als menschliche Fähigkeit betrachten, was aber auch ein Merkmal der Realität sein könnte. Siehst du eine Möglichkeit, dass diese scheinbar so gegensätzlichen Auffassungen von Realität auf eine tiefere Weise in eine Interaktion oder einen Dialog treten können?

MS: Ja, ich denke schon. Und ich kenne keinen Grund dafür, sie auf diese Weise zu trennen. Es gibt so viele Dinge, die die Wissenschaft und die Naturwissenschaftler nicht ohne weiteres erklären können. Zum Beispiel: Warum ist überhaupt etwas und nicht etwa nichts? Das ist eine große Frage. Wenn wir nur an die Gesamtheit der physischen natürlichen Welt glauben – die materiellen und energetischen Phänomene des Universums –, zu der allein wir empirisch Zugang haben, dann setzen wir uns enge Grenzen. Aus dieser materiellen Welt kann man nicht beweisen, dass alles auf Materie reduziert werden kann. Denn wie ist es überhaupt möglich, dass wir erklären können, warum es Etwas statt Nichts geben sollte? Das ist eine ganz andere Frage, die wir durch experimentelles Forschen nicht beantworten können.

Author:
Mike Kauschke
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