Das Netz und die Fische

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

February 2, 2021

Featuring:
Prof. Dr. Harald Walach
Thomas Kuhn
C. G. Jung
Wolfgang Pauli
Etzel Cardeña
Peter Götsche
Categories of Inquiry:
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Issue:
Ausgabe 29 / 2021:
|
February 2021
Wissenschaft
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Der Wissenschaftstheoretiker Harald Walach erforscht jene alternativ-medizinischen Verfahren, in denen die Grenzen der naturwissenschaftlichen Dogmatik oft deutlich sichtbar werden. Wir sprachen mit ihm darüber, auf welche Weise Forschungsmethoden Wirklichkeiten ausblenden oder schlicht übersehen.

evolve: Die Wissenschaft ist in Verruf geraten und gleichzeitig erleben wir einen neuen Ruf nach Wissenschaftlichkeit. »Vertraut der Wissenschaft« ist in der Klimakrise, aber auch während der Corona-Pandemie zu einem verbreiteten Slogan geworden. Die Stärken, aber auch die blinden Flecken der Wissenschaft werden heiß diskutiert. Wie siehst du diesen Widerspruch zwischen Wissenschafts­skepsis und einem neuen Ruf nach Wissenschaft?

Harald Walach: Wissenschaft ist ja ein sehr komplexer Prozess. Ihre Erkenntnisse oder Ergebnisse können meistens erst aus einer gewissen Distanz wirklich sicher betrachtet werden. Der Wissenschaftsprozess braucht Zeit. Dazu gehört auch, dass wir uns sozial zunächst auf irgendeine Form von vorläufiger Erkenntnis verständigen müssen. Dann kommen Gegenmeinungen auf, die oftmals nicht gehört werden, bis sie sehr laut werden. Dann wird vielleicht diskutiert. Dieser ganze Prozess kann schon mal zehn oder fünfzehn Jahre dauern.

Gleichzeitig wollen wir Sicherheit. Aber Sicherheit und sorgfältige, wissenschaftliche Erkenntnis können wir nicht gleichzeitig haben. Sorgfältige Wissenschaft löst vorherige Sicherheiten auf und es entstehen neue Einsichten. Wir sehen das auch in der Corona-Krise. Wir brauchen rasch Einsicht. Dabei wird ziemlich schnell das öffentliche und wissenschaftliche Narrativ vom gefährlichen Virus erzeugt und medial verbreitet. An den Daten sehen wir aber, dass diese Befürchtungen auch übertrieben waren. Wahrscheinlich werden wir erst in drei bis fünf Jahren wirklich wissenschaftliche Sicherheit darüber haben, was hier eigentlich geschehen ist. Diese Dynamik kann man nicht künstlich beschleunigen.

Wissenschaftliche Sicherheit erhalten wir eigentlich immer erst aus der Retrospektive. Aber handeln müssen wir meistens mit einer Form von Halbsicherheit oder Teilsicherheit. Wir müssen eine allgemeine Form von Vernunft walten lassen, um Handlungen durchzuführen, und allenfalls bereit sein, sie an neue wissenschaftliche Erkenntnisse anzupassen. Und dann haben wir als Menschen aber die Tendenz, die Wirklichkeit in einer gewissen Form festzuschreiben. Neue Informationen, die diese Festschreibungen hinterfragen, nehmen wir dann nur ungern zur Kenntnis.

Der enge Blick der Methode

e: Vielleicht ist es gut, an diesem Punkt noch einen Schritt zurückzugehen und prinzipiell zu fragen: Was ist eigentlich Wissenschaft im Gegensatz zu Nicht-Wissenschaft?

HW: Wissenschaft ist ein kollektiver Versuch, Erkenntnisse über die Welt zu gewinnen und dabei möglichst wenigen Irrtümern zu verfallen. Das ist eine operationale Definition, die vor allem das Kollektiv der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen ins Zentrum stellt, die Erkenntnisse generieren. Ein häufiges Missverständnis ist die Idee, die Wissenschaft sei ein Korpus von definiertem Wissen. Aber es liegt im Wesen der Wissenschaft, dass dieses Wissen immer wieder verändert und hinterfragt wird.

e: Einer der Vorwürfe an die etablierte Wissenschaft besteht darin, dass sie eine bestimmte Methode entwickelt hat. Man spricht von einer Methode der Quantifizierung und Mathematisierung einer objekthaften Wirklichkeit. Diese Methode zeigt uns einen bestimmten Aspekt der Welt. Was aber nicht in das Raster dieser Methode hineinpasst, existiert entsprechend dieser Weltsicht nicht. Die Wissenschaft war ja mit dieser Methode über Jahrhunderte extrem erfolgreich. Aber mehr und mehr machen sich auch ihre blinden Flecke bemerkbar. Ist es das Problem der Wissenschaft, dass sie darauf besteht, ihre Methode sei die einzige, mit der man Wirklichkeit erkennen kann?

HW: Ein guter Wissenschaftler weiß eigentlich, dass seine Erkenntnisse nur das Resultat seiner Methode sind. Eddington sagte sinngemäß, Wissenschaft sei wie ein Netz mit einer bestimmten Maschenweite, mit dem man im Meer fischt. Wenn die Maschenweite zwei Zentimeter beträgt und man findet Fische, die größer als zwei Zentimeter sind, dann ist das natürlich der Methode geschuldet. Das heißt aber nicht, dass es im Meer keine Fische gibt, die kleiner sind als zwei Zentimeter. Mit meiner Methode finde ich nur bestimmte Dinge. Wenn wir wissenschaftliche Forschungsmethoden anwenden, wie z. B. ein Experiment, zu dem ein kontrollierter Zugriff auf die Natur nötig ist, der eine gewisse Regelmäßigkeit der Natur voraussetzt, dann finden wir natürlich nur diese Regelmäßigkeiten.

Wenn wir sagen, die Natur ist in mathematischen Kategorien zu beschreiben, dann werden wir nur Sachverhalte finden, die dieser Methode entsprechen.

Ein guter Wissenschaftler weiß das. Wenn wir aber annehmen, dass die Welt so ist, weil die Wissenschaft nur diesen Aspekt der Welt beschreibt, dann gehen wir in die Irre.

e: Es entsteht eine Fixierung auf eine gewisse Blickrichtung. Die Methode der Objektivierung, Quantifizierung und Mathematisierung war eben 300 Jahre lang extrem erfolgreich. Infolgedessen nehmen wir als selbstverständlich an, das sei die Wirklichkeit. Weil wir von ihrem Erfolg so geblendet sind, reduzieren wir die Wirklichkeit auf diesen Blickwinkel.

HW: Das ist eine gute Beschreibung. Wir sehen gerne das, was wir wahrnehmen, als das einzig mögliche Wahrnehmbare an. Ein einfaches Beispiel: Wir Menschen können elektromagnetische Strahlung mit unseren Augen wahrnehmen. Wir sehen keine ultraviolette Strahlung, Bienen schon. Die Welt der Bienen ist für uns nicht real, weil wir keine ultravioletten Strahlen sehen können. Elefanten können Infraschall hören, wir Menschen nicht. Mit Infraschall verständigen sich die Elefanten über weite Distanzen. Da wir ihn nicht wahrnehmen, haben wir keinen Zugang zu ihrer Welt.

Ähnlich ist es mit der wissenschaftlichen Methodik. Es gibt aber in der letzten Zeit, gerade in der Psychologie und in den Sozialwissenschaften, sehr starke Bestrebungen, auch andere Formen der Methoden, beispielsweise qualitative Methoden zu verwenden, die sich auf das Unverwechselbare, das Individuelle, das Nicht-Mathematisierbare richten. In der Öffentlichkeit existiert die Fehlwahrnehmung, Wissenschaftlichkeit sei identisch mit dem naturwissenschaftlichen Vorgehen. Daraus entsteht eine wissenschaftliche Weltanschauung, eine Denkweise über die Welt, die aus den Befunden extrapoliert wird, aber selbst eigentlich nicht Wissenschaft ist. Es ist eher eine Form von Philosophie oder schlechter Weltanschauung, weil sie unreflektiert ist.

Wissenschaft als Weltbild

e: Wissenschaft wird aber in unserer Wahrnehmung mit diesen naturwissenschaftlichen Methoden gleichgesetzt. Wenn wir darüber sprechen, was wissenschaftlich ist, dann meint man sowohl in der wissenschaftlichen Community als auch in der öffentlichen Rezeption fast immer Naturwissenschaft.

HW: Das ist ein Weltbild, von dem man meint, es sei durch naturwissenschaftliche Befunde belegt. Und das ist eine gefährliche Schnittstelle, an der man sehr gut unterscheiden muss. Ich unterscheide deswegen zwischen »Wissenschaft 1«, also dem, was Wissenschaftler tun, wenn sie eine wissenschaftliche Methodik anwenden, um irgendetwas über die Welt herauszufinden, und »Wissenschaft 2«. Damit meine ich das, was die Kultur, die Gesellschaft, die Öffentlichkeit aus diesen Befunden macht.

So haben wir zum Beispiel einen wissenschaftlichen Konsens, dass unsere komplexe Welt durch Evolution entstanden ist. Den würde ich auch nicht hinterfragen. Ich glaube, das ist eine sehr kluge Vermutung. Daraus wird aber oft ein Weltbild gebaut, in dem man dann sagt: Daraus ergibt sich, dass es keinen Gott, keine Engel, keinen Sinn und kein Leben nach dem Tod gibt.

Das ist eigentlich eine Übersteuerung der wissenschaftlichen Fähigkeit, unsere Wirklichkeit sinnvoll zu verstehen. Das eine hat mit dem anderen wenig zu tun, wird aber in einem wissenschaftlichen Weltbild häufig überinterpretiert. Die konsequente Denkhaltung und Aussage wäre, dass die Wissenschaft über diese Bereiche keine Aussage machen kann.

e: Aber natürlich besteht die wissenschaftliche Methode auch darin, dass man nur mit Hypothesen arbeitet, die notwendig sind. Deswegen lässt man alles andere weg, inklusive metaphysischer Annahmen wie Gott, Engel und Leben nach dem Tod. Gibt es ein rationales Argument, warum man diese anderen Hypothesen mit einbringen sollte?

HW: Es ist schon sinnvoll, metaphysische Annahmen außen vor zu lassen, um zu schauen, wie weit wir mit diesen sparsamen Annahmen kommen. Der Fehler liegt aber darin, zu sagen: Weil wir mit diesen sparsamen Annahmen bis zu einem gewissen Punkt der Erklärung kommen, ist alles andere irrelevant. Das stimmt eben nicht notwendigerweise. Zumal wir mit der wissenschaftlichen Methodik bestimmte Elemente, die für unser menschliches Leben wichtig sind, überhaupt nicht erfassen können. Und es ist wichtig, dass Wissenschaftler und die wissenschaftliche Gemeinschaft das anerkennen. Es gibt bestimmte Bereiche, die sich dem Zugriff der Wissenschaft entziehen. Dazu gehört zum Beispiel, was Menschen als Sinn empfinden. Dazu gehört der Bereich der Werte und der Moral, was wir als moralisch richtig und ethisch notwendig anerkennen. Das ist alles nicht naturwissenschaftlich fixierbar.

Wir können verstehen, wie die menschlichen Werte durch Evolutionsprozesse entstehen. Das heißt aber noch lange nicht, dass sie dadurch moralisch begründbar werden. Es gibt eine ganze Reihe von Bereichen in unserem Leben, Fragen wie »Woher kommen wir?«, »Was ist der Sinn unseres Lebens?«, »Wie sollen wir handeln?«, die sich naturwissenschaftlich nicht gut untersuchen lassen.

Die Intelligenz der Systeme

e: In einem Teil der Öffentlichkeit gibt es daher die Übereinkunft: Auf der einen Seite gibt es die Naturwissenschaft und auf der anderen Seite gibt es die Wertediskussion und die Philosophie. Da darf man dann auch religiös sein. Beides kann man gut auseinanderhalten. Nun zeigt sich aber, dass sich diese Bereiche zum Teil verschränken, z. B. in der Medizin. Die Medizin hat als naturwissenschaftliche Medizin große Leistungen vollbracht, produziert aber auch vermehrt Probleme. Durch die naturwissenschaftliche Brille gesehen sind Menschen komplexe mechanische Systeme. Allein dieser Blick macht krank.

HW: Ja, die Medizin ist ein gutes Beispiel. Die Modellannahme der modernen Medizin wurde von Descartes eingeführt: Unser Organismus ist ein Automat, eine Maschine. Und dieses Maschinendenken führt dazu, dass wir alles, auch unseren Geist, als Maschine begreifen und so intervenieren, als wäre es nur eine Maschine. Jetzt gibt es aber innerhalb der Medizin Ansätze, dieses Maschinendenken in eine nichtlineare Systemperspektive zu erweitern. Hier steht nicht mehr eine Maschine im Vordergrund, sondern ein sehr komplexes System, das sich selbst reguliert, das Fehler selbst korrigiert und auf Stimuli von außen aktiv reagiert.

Diese erweiterte Sichtweise gibt es schon eine Weile, aber es dauert sehr lange, bis sie in die aktuelle Praxis übersetzt wird. Der Grund dafür sind auch ökonomische Zwänge, denn man wird, wenn man in der Medizin forscht, dafür bezahlt, dass man neue Patente anmeldet, neue Interventionen erfindet. So wird dieses überkommene System weitergetragen.

e: Sind diese systemtheoretischen Einsichten wirklich fundamental neu oder sind sie einfach nur eine komplexere mechanische Sichtweise?

WISSENSCHAFT IST EIN KOLLEKTIVER VERSUCH, ERKENNTNISSE ÜBER DIE WELT ZU GEWINNEN. 

HW: Das würde ich auch so sehen. Sie sind aber in dem Sinn neu, dass sie eine bestimmte Veränderung in der Denkweise nahelegen, und zwar auch in der praktischen Denkweise. Das passiert aber nicht, weil die Prozesse, die in der Zwischenzeit installiert worden sind, z. B. Medikamentenentwicklung, diese Innovation aufhalten. Die Wissenschaft entdeckt oftmals sehr innovative Prozesse. Darin wirkt der Forscherdrang. Aber bis eine solche Innovation als wissenschaftliche Erkenntnis ins allgemeine Denken und vor allem ins politische Handeln eingedrungen ist, vergeht sehr viel Zeit.

Ein gewagtes Beispiel: Ich würde behaupten, die Homöopathie ist eine Methode, die eine systemische biologische Perspektive integriert und Impulse setzt, sodass sich ein Organismus selbst wieder neu organisiert. Das dürften aber sehr subtile und sehr komplexe Prozesse sein, die wir mit der relativ simplen Methodik der Forschung nach stabilen Ursachen, wie es z. B. eine randomisierte Studie macht, nicht erfassen können. Deshalb wird dann eine solche Methode als unwissenschaftlich ausgegliedert.

Reizthema Homöopathie

e: Gegen die Homöopathie gibt es ja eine breit angelegte Kampagne, sie als unwissenschaftlich bloßzustellen.

HW: Das Argument, die Homöopathie sei unwissenschaftlich, kommt aber aus einer theoretischen, einer ideologischen Perspektive. Sie passt nämlich nicht in ein simplistisches Modell unserer Welt, ein Lego-Baukasten-Mechanik-Modell – man zieht an einem Hebel und da passiert irgendetwas und das können wir gut verstehen und beschreiben. Das ist eine vereinfachte materialistische Beschreibung der Welt. Da passt die Homöopathie in der Tat nicht hinein, weil sie nicht mit Molekülen operiert. Aber die Tatsache, dass sie nicht mit Molekülen operiert, wie z. B. die konventionelle Pharmakologie, heißt noch lange nicht, dass sie nicht funktionieren kann.

Wenn wir uns die Phänomene anschauen, dass Menschen dadurch von schweren Krankheiten geheilt werden, die sonst nur schwer heilbar waren, dann müssen wir fragen: Was passiert da genau und wie können wir das in das momentan geltende, wissenschaftliche Weltbild einordnen? Das können wir aber nicht. Deswegen wäre die Homöopathie wissenschaftstheoretisch gesehen eine Anomalie. Thomas Kuhn und andere Wissenschaftstheoretiker haben solche Phänomene als Anomalien bezeichnet, die eigentlich dazu dienen sollten, das herrschende Denkmodell zu hinterfragen. Und ich glaube, das ist auch notwendig, und es wäre gute Wissenschaft, diese Anomalien ernst zu nehmen, damit wir zu einem besseren wissenschaftlichen Modell des Menschen kommen.

e: Aber angeblich belegen zahllose Studien, dass die Homöopathie nicht mehr heilt als ein Placebo.

HW: Diese Behauptung kommt oft von Gesundheitsexperten oder Wissenschaftsvertretern, die die Literatur nicht gelesen haben. Wenn man sich die Literatur sorgfältig ansieht, dann gibt es ungefähr 250+ klinische Studien (randomisiert, placebo-kontrolliert), die in der überwiegenden Mehrzahl Effekte erzeugen, die über Placebo hinausgehen. Und allein diese Tatsache ist eigentlich schon eine Anomalie. Die Behauptung, es gäbe keine wissenschaftlichen Beweise, stimmt nicht. Es gibt tatsächlich eine sehr heterogene Datenlage, aber die finden wir in vielen medizinischen Bereichen.

EIN GUTER WISSENSCHAFTLER WEISS EIGENTLICH, DASS SEINE ERKENNTNISSE NUR DAS RESULTAT SEINER METHODE SIND.

Der Prozess, empirische Befunde und vor allem auch die anomalistischen Befunde zu verwenden, um die Hintergrundtheorien zu hinterfragen, ist eigentlich der Prozess des wissenschaftlichen Diskurses. Würde man die Wirkung der Homöopathie ernst nehmen, dann würde man sehen, dass es offensichtlich auch Wirkungen geben kann, die nicht materiell vermittelt sind. Es ist diese Nicht-Materialität, wie auch immer wir die fassen wollen, die eigentlich der Stein des Anstoßes ist.

Um die Homöopathie zu verstehen, muss man über rein materialistische, molekulare Perspektiven hinausgehen. Ein anderes Beispiel sind intentionale Heilungen, also das, was wir in der Geistheilung sehen. Es gibt immer wieder Prozesse, wo offensichtlich reine Intentionalität, also der sehr direkt gesteuerte Wunsch, heilend zu intervenieren, materielle Konsequenzen hat, indem z. B. Gewebe geheilt wird.

Diese Phänomene deuten darauf hin, dass es Zusammenhänge in unserer Welt gibt, die zwar regelmäßig sind, aber nicht kausal materiell vermittelt. C. G. Jung und Wolfgang Pauli haben es synchronistische Zusammenhänge genannt, ich nenne es akausale Zusammenhänge. Ein gutes Beispiel für solche Zusammenhänge ist das Verschränkungsphänomen in der Quantenphysik. Das ist ein regulärer Zusammenhang, der aber nicht kausal durch Zeichen oder Signale vermittelt wird, sondern durch die Form, die in der Theorie gegeben ist. Ich glaube, solche Zusammenhänge gibt es auch in unserem makroskopischen Bereich. Dafür wäre die Homöopathie ein Beispiel, aber telepathische, telekinetische, Zusammenhänge wie das Remote Viewing sind andere Beispiele dafür.

Die Erweiterung der Wissenschaft

e: Es gibt telepathische Phänomene, die gut gesichert sind?

HW: Wenn man die Daten ernst nimmt, ja. Das hat Etzel Cardeña in einem Überblick­artikel im American Psychologist 2018 gut gezeigt. Es gibt einen starken Forschungsbestand zur Traumtelepathie oder zur Ganzfeldtelepathie. Das ist eine Situation, in der Menschen in einem entspannten Feld liegen, wo sie durch Kopfhörer und verdeckte Augen keine Sinneswahrnehmungen haben. Im Raum daneben oder weit entfernt schauen Menschen, mit denen sie in Beziehung stehen, einen kleinen Film. Die Probanden beschreiben dann, was in ihrem Bewusstsein abläuft. Die geschilderten mentalen Sequenzen werden von externen Ratern miteinander verglichen und auf Übereinstimmung mit dem Filmmaterial geprüft. Hier gibt es einen relativ stabilen Forschungsbestand, der zeigt: Es gibt offensichtlich eine Abweichung über den Zufall hinaus, und das, was die Teilnehmer in ihrem Bewusstsein erleben, ist überzufällig häufig mit dem assoziiert, was andere im Film sehen.

Das sind aber keine Signale im Sinne von molekularen oder physikalischen Wellensignalen. Sie sind nicht in dem Sinne stabil, dass man sie einfach beliebig wie einen Lichtschalter einschalten könnte. Das heißt aber nicht, dass es sie nicht gibt und dass sie nicht unter Umständen verfügbar sind. Das ist eine Kategorie von Regelhaftigkeit, die nicht über physikalische, molekulare Strukturen vermittelt wird. Wenn man diese Phänomene ernst nehmen würde, dann würde sich unser Wissenschaftsbegriff um Dimensionen erweitern, die wir im Moment vielleicht noch nicht verstehen können. Das würde vielleicht auch eine Möglichkeit geben, einen großen Teil dessen, was man als unwissenschaftlich und nicht belegbar ausgegliedert hat, in den Bereich wissenschaftlicher Diskussionen einzubeziehen.

WENN MAN DIESE PARTIZIPATIVE FORM DER NATURWISSENSCHAFT ERNST NEHMEN WÜRDE, DANN WÜRDEN WIR DIE WELT NICHT ALS TOTES OBJEKT BETRACHTEN.

Ich bezeichne es als »naturalising religion«, »spiritualising science«. Bereiche, die man im Moment der Religion oder Spiritualität zurechnet, würden im Sinne einer wissenschaftlichen Diskussion zugänglich werden. Das würde wohl dazu führen, dass sich die Naturwissenschaft stärker in den nicht-materiellen, spirituellen Bereich entwickeln würde, aber sich vermutlich auch die Religion stärker in den Bereich einer wissenschaftlichen Diskussion entwickeln würde.

e: Ist eine solche Erweiterung der Wissenschaft wirklich zu erwarten?

HW: In der Medizin sieht man doch sehr deutlich, dass das momentane Modell und der Versuch, Probleme vor dem Hintergrund dieses Modells zu lösen, eigentlich zur Vermehrung der Probleme führt. Das momentane Modell geht davon aus, dass unser Körper eine passive Maschine ist. Ich kann intervenieren, indem ich ein bestimmtes Arzneimittel gebe, und wenn Probleme auftauchen, gebe ich noch ein Arzneimittel. Das führt dazu, dass wir mit einer absoluten Übertherapie viel mehr Probleme erzeugen. Beispielsweise sagt der dänische Medizinforscher Peter Gøtzsche mit guten Argumenten: »Arzneimittelnebenwirkungen sind die Todesursache Nummer 3 in der westlichen Welt nach Herzinfarkt und Krebs.«

Ein anderes Beispiel ist die Antibiotika­resistenz. Wir gehen davon aus, dass Bakterien schlimme Erreger sind und Krankheiten hervorbringen. Damit fokussieren wir uns nur auf die Erreger. Wir bekämpfen sie mit Antibiotika und erzeugen damit resistente Stämme. Antibiotika-resistente Stämme in Krankenhäusern führen zu mehr Todesfällen, als derzeit durch Corona erzeugt werden. Das ist eine direkte Konsequenz unseres Denkmodells. Wir könnten auch sagen: Erreger gibt es überall. Wir müssen mit ihnen leben. Wir können sie nicht vernichten – außer in ganz schweren Fällen von Sepsis und großen Problemen. Ansonsten müssen wir uns darauf konzentrieren, den Wirt, den betroffenen Menschen zu stärken. Das wäre eine Stärkung des lebendigen Systems, das sich selbsttätig gegen diesen Erreger wehrt.

e: Eine Erweiterung der wissenschaftlichen Sichtweise würde unsere offizielle Weltsicht sprengen. Aus unserer jahrhundertelangen naturwissenschaftlichen Praxis ist ja die Wahrnehmung von Natur in ihrer Dinghaftigkeit erst entstanden. Indigene Weltwahrnehmungen sehen die Natur, den Wald, die Berge, die Erde als beziehungsfähig. Dafür belächeln wir sie. Ist unsere verdinglichte Sichtweise auf alles im Gegensatz zu einer beziehungsorientierten Sichtweise nicht eines der eigentlichen Probleme unserer Zeit?

HW: Ich würde noch einen Schritt weitergehen. Wenn man diese partizipative Form der Naturwissenschaft, wie ich sie eigentlich im Blick habe, ernst nehmen würde, dann würden wir die Welt nicht einfach nur als totes Objekt betrachten, das zum Zwecke unserer Ausbeutung für uns da ist. Wenn wir davon ausgehen, dass wir letztlich in sehr vielfältigen Verschränkungssituationen mit unserer Umwelt und mit anderen Menschen stehen, dann leben wir in einer Partner-Wirklichkeit, dann gehen wir in einer partnerschaftlichen Art und Weise mit allem um.

Wenn wir nicht beginnen, das zu tun, dann graben wir uns selbst das Wasser ab und zerstören die Basis, auf der wir und unsere Kinder stehen. Das ist keine Romantik. Das ist konsequentes Denken, das von einer erweiterten Paradigmatik ausgeht. Eine erweiterte Paradigmatik ist nicht nur möglich, sie ist sinnvoll und nötig, wenn wir die Anomalien in ein naturwissenschaftliches Modell einfügen wollen. Dann müssen wir die Paradigmatik erweitern und das be­inhaltet auch die Subjekthaftigkeit der Welt.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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