Das Wagnis, zu vertrauen

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

January 30, 2020

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Ausgabe 25 / 2020:
|
January 2020
Ende oder Wende
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Reflexionen zum Diskurs um die »Kriegsenkel«

Die Beschäftigung mit den Folgen der traumatischen Kriegserfahrungen in den nachfolgenden Generationen hat seit einigen Jahren zunehmende Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Michael Schneider war unter den ersten, die dieses Thema der »Kriegsenkel« tiefer reflektierten und ins Gespräch brachten. Heute warnt er davor, es unter dem Diktat der Selbstoptimierung verflachen zu lassen.

Vor fast 13 Jahren begann in unserem Land – damals noch in einer Nische – die Auseinandersetzung mit einem bis dahin völlig neuen und unbekannten Themenfeld: den psychologischen Folgen von Nazi-Vergangenheit und Krieg für die Nichterlebnisgeneration der nach 1960 geborenen Deutschen. Inzwischen haben dazu zahllose Seminare und Tagungen stattgefunden, und eine nicht mehr zu überschauende Anzahl von Büchern ist erschienen

Es hat sich ein Verein gegründet, der sich mit den »Kriegsenkeln« beschäftigt und dessen Mitgliederzahl ständig wächst. Erfolgreich werden hier Betroffene und Akteure beraten und vernetzt. Dieser Verein hat auch die Entstehung von künstlerischen Arbeiten, Bildern, Fotografien, Ausstellungen, Filmen, Texten oder Liedern begleitet und ihnen eine Bühne gegeben. Wichtige Zusammenhänge zwischen dem Verständnis unserer gesellschaftlichen Gegenwart und den von uns im Blick auf die Vergangenheit eingeübten Narrativen sind so auf vielfältige Art deutlich geworden.

Ich war von Anfang an dabei, als um das Kunstwort »Kriegsenkel« herum eine Graswurzelbewegung entstand, und kenne daher ihre Geschichte gut. Zusammen mit Joachim Süss gab ich 2015 das Buch »Nebelkinder« als eine Zwischenbilanz der Entwicklung des Themas heraus. Inzwischen hat es rund um die Angelegenheiten der Kriegsenkel aber viele weitere Entwicklungen, neue wissenschaftliche Erkenntnisse und vor allem auch eine umfangreiche Professionalisierung bei Therapeuten, Coaches, Trainern gegeben. Es ist Zeit für eine weitere Zwischenbilanz.

Von Anfang an hatte der Topos die Tendenz, die Beschädigungen in den Vordergrund zu stellen, die ohne Zweifel mit dem Aufwachsen der Generation der Kriegsenkel und der Weitergabe von Traumata von einer Generation an die nächste verbunden waren. Es ist deshalb auch gut, dass sich eine große Anzahl von Angehörigen der helfenden Berufe inzwischen für dieses Generationsspezifikum sensibilisiert hat und im therapeutischen Setting heute Fragen unter Einbeziehung der zeitgeschichtlichen Perspektive gestellt werden können. Das neue Paradigma hat der seelischen Spurensuche andere Blickweisen eröffnet, die überaus hilfreich waren und sind.

Die Beschäftigung mit dem Thema hat inzwischen aber auch Anschluss gefunden an den überall, auch in der spirituellen Szene, zu beobachtenden breiten Trend von Angeboten zur »Selbstoptimierung«. Hier wie dort geht damit in gewisser Weise auch eine Verflachung einher. So wird ein existenzielles Anliegen, wie die Klärung der eigenen Biografie, zu einem Ansatzpunkt für die persönliche Selbstverbesserung zum Funktionieren in einem leistungsbezogenen System. Dieser Bedarf ruft dann eine entsprechende Fülle von (kommerziellen) Hilfsangeboten hervor. Sehr verständlichen und ernst zu nehmenden Problemen, wie dem Vorankommen auf der Karriereleiter, der Durchsetzungsschwäche in der beruflichen Hierarchie, der Planung des persönlichen Erfolgs, eigentlich allem und jedem kann als Ursache und entsprechende Lösung inzwischen auch das offensichtlich sehr werbewirksame Label »Kriegsenkel« aufgeklebt werden, als eine bisher unbekannte Weltformel für die Erklärung von seelischen Schwierigkeiten und Ärger mit dem Chef. In gewisser Weise sind wir also auch hier in der freien Marktwirtschaft angekommen.

Ich bin überzeugt, dass diese Entwicklung in die Sackgasse führen wird, in der alle Versuche der Selbstoptimierung landen, nämlich in der Einengung unserer Existenz auf ihre Ausrichtung auf Zwecke und Ziele. Die Klärung der eigenen Biografie im Zusammenhang mit der Familiengeschichte dient aber keinem Zweck, sondern ist eine zwingend notwendige, klärende Arbeit im Bewusstseinsraum! Diese Arbeit hat eine existenzielle und spirituelle Dimension und möglicherweise sogar einen evolutionären Sinn. Das ist ein ernstes Geschäft, das nichts mit modischen Lifestyle-Themen und einem nach Gewinnen schielenden Markt zu tun hat, der ungeniert irgendwann die nächste Sau durchs Dorf treiben wird. Es ist wichtig, das im Auge zu behalten. Ob die Klärung der eigenen Biografie und Familiengeschichte zu Zielen und Ergebnissen führen wird, wie sie sich der Mainstream wünscht, ist völlig offen und muss auch völlig offen bleiben.

Die Klärung der eigenen Biografie dient keinem Zweck, sondern ist eine zwingend notwendige, klärende Arbeit im Bewusstseinsraum!

In der Erarbeitung dieses Beitrags habe ich mich an die Worte des Philosophen und Psychiaters Karl Jaspers zum Thema Grenzsituationen und -erfahrungen erinnert. Jaspers formulierte schon vor Jahrzehnten Maßgebendes, was den Modus und die Würde der Auseinandersetzung mit äußerer und innerer Not beschreibt: »Auf Grenzsituationen reagieren wir daher sinnvoll nicht durch Plan und Berechnung, um sie zu überwinden, sondern durch eine ganz andere Aktivität, das Werden der in uns möglichen Existenz; wir werden wir selbst,indem wir in die Grenzsituation offenen Auges eintreten. Sie werden dem Wissen nur äußerlich kennbar, als Wirklichkeit nur für Existenz fühlbar.« Komplexe Gedanken, mit denen uns Jaspers sagen will: Auf dem Weg zu sich selbst stößt der Mensch an Grenzen, ererbte oder erfahrene, aber auch eingebildete. Er lernt, dass er mit den Mitteln der praktischen Weltorientierung, aber auch mit denen der Beschwichtigung, Verharmlosung, Selbsttäuschung und Ablenkung nicht weiterkommt. Nur im »Annehmen« dieser Situation kann der Mensch zu seiner »eigentlichen« Existenz transzendieren. Der Weg führt immer hindurch und nicht daran vorbei. Ohne sich aufs Spiel zu setzen, gibt es keine Aussicht auf Gewinn.

70 Jahre Frieden und kulturelle Veränderung hat es gebraucht, bis unsere Gesellschaf mit den in ihr verankerten kollektiven Traumata aus Krieg und Gewalterfahrungen anfangen konnte, sich auch mit ihrem Innersten auseinanderzusetzen. In der Geschichte Europas ist es das erste Mal, dass genügend unbelasteter Raum dafür zur Verfügung steht, um aus dem Schatten des Traumas herauszutreten und sich über seine Last und die Notwendigkeit seiner Überwindung bewusst zu werden. Das Trauma ist ein durchaus sinnvoller, jahrtausendealter biologischer Schutzmechanismus, der in lebensbedrohlichen Situationen der Seele einen Ausweg anbietet, ihrer eigenen Vernichtung zu entgehen. Statt aber durch immer neue Kriege und Nöte wieder neu aufgeschichtet zu werden, kann er jetzt daraufhin befragt werden, zu was hin er eigentlich überwunden werden könnte

Das Trauma beschädigt Urvertrauen. Seine Überwindung und neues Vertrauen sind mögliche Entwicklungsoptionen. Das braucht aber das existenzielle Wagnis, dem Glauben daran den Vorzug zu geben, dass nicht zu Ende ist, was noch nicht gut geworden ist. Dieses Wagnis kann man üben. Es ist der Kern jeder spirituellen Praxis. Wenn diese Form der Übung in Kultur und Erziehung dann auch in der Politik immer mehr Raum bekommt, werden wir uns weiterentwickeln. Das verdient unser ganzes Engagement als Generation, solange wir uns noch engagieren können.

Der Horizont ist weit, der sich da in der Vorstellung auftut, was das für eine Zivilisation der Zukunft bedeuten könnte. Das Kriegsenkelthema ist in Deutschland eine kleine, wichtige Facette dieses Prozesses. Bitte lasst sie nicht flach und blind und unbedeutend werden, indem ihr sie als Mittel zum Zweck verdunsten lasst!

Author:
Michael Schneider
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