Der globale Kollaps als unser Lehrer

Our Emotional Participation in the World
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Essay
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January 30, 2020

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Ausgabe 25 / 2020:
|
January 2020
Ende oder Wende
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Auf dem Weg zu einem Homo interbeing

Beim Blick auf den Kilmawandel reflektieren wir oftmals nicht, aus welcher perspektive, welchen Annahmen über die Wirklichkeit wir eigentlich schauen. Aber wenn wir die historischen Hintergründe und die Wirkung auf unser Bewusstsein verstehen, öffnet sich unser Horizont für neue menschliche Möglichkeiten, die tiefer reichen als nur simple Problemlösungen.

Vor ein paar Monaten sprach ich auf Radio evolve mit dem Komplexitätsforscher Joe Brewer über den globalen Kollaps. Zwei Bemerkungen, die er machte, haben mich seither nicht mehr losgelassen. Sie beschäftigen mich in manchen persönlichen Augenblicken, manchmal auch nachts. Einerseits meinte Joe Brewer, dass es völlig falsch ist, zu fragen, ob der Kollaps kommen wird. Er ist bereits hier. Wir leben mittendrin! Es gibt nicht den einen besonderen Tag, an dem alles zusammenbrechen wird. Auch die römische, antike Welt, so betonte er, sei nicht an einem einzigen Tag untergegangen. Ihr Zerfall dauerte 300 Jahre und die meisten Menschen, die damals lebten, waren sich dessen nicht bewusst, dass sie Zeitzeugen des Endes einer Zivilisation waren. Joe Brewer erwähnte noch etwas, das mich seither nicht in Ruhe lässt. Er meinte, die wichtigste Fähigkeit, mit der wir dem globalen Kollaps begegnen können, sei unsere Fähigkeit zu trauern. Solange wir nicht in der Lage sind, die vielen Lebensformen zu betrauern, die wir seit langer Zeit Tag für Tag verlieren, haben wir nicht wirklich erkannt, in welcher Realität wir leben. Vielleicht haben wir es intellektuell verstanden, aber erst in der gelebten Trauer ergreift es uns als Menschen. Nur wenn wir wirklich wahrnehmen,was gerade geschieht, kann die Intelligenz und die Liebe für das Leben, die unserer Spezies innewohnt, auch zum Tragen kommen.

Der globale Kollaps lädt uns dazu ein, uns in unserer Identität als Menschen neu auszurichten.

Offensichtlich fällt es uns schwer, uns dem globalen Kollaps zu stellen. Dafür gibt es viele Gründe. Für die meisten von uns sind die Folgen einer Erwärmung von drei bis vier Grad schwer zu erfassen. Ich weiß nicht, was sie tatsächlich für unseren Planeten bedeuten. Aber wir sehen bereits, dass die Wettergeschehnisse weiter außer Kontrolle geraten. Die sozialen Verwerfungen, die uns die Klimakrise bringt, sind oft nicht einmal in der öffentlichen Diskussion. Die Flüchtlingskrisen der vergangenen Jahre sind ja auch eine Folge der Wüstenbildung. Für diejenigen von uns, die das Glück haben, im Zentrum Europas zu wohnen, scheinen die wahren Gefahren anderswo zu liegen: in Australien, Sibirien, dem Amazonas, Nordafrika, Florida oder Texas. Aber das ist eine bequeme Illusion, geboren aus unserer Gewohnheit der Trennung und Abgrenzung.

Der vielleicht gravierendste Grund, warum wir uns mit dem globalen Kollaps so schwertun, ist, dass er uns mit dem Tod konfrontiert. Der ökologische Tod, das mögliche Ende einer Zivilisation, selbst wenn es nur eine Drohung ist, entfaltet seine eigene existenzielle Kraft. Wir Menschen haben schon immer im Angesicht des Todes gelebt. In gewisser Weise bedeutet unser menschliches Selbstbewusstsein, dass wir uns unserer eigenen Sterblichkeit bewusst sind. Aber der vermeintliche Triumph der Moderne war die Entwicklung einer Kultur der technischen, nicht zuletzt der medizinischen Machbarkeit, durch die wir glaubten, den Tod ein Stück weit vergessen zu können. Nun kehrt der Tod als Folge ebendieser technischen Kultur in großem Maßstab zurück. Können wir uns ihm stellen? Wie viel können wir ertragen, ohne dass der zivilisatorische Lack unserer Gesellschaft abblättert und unsere barbarischen Wurzeln offenbart? Die Demokratie ist bereits zerbrechlich geworden. Die Todesdrohung des globalen Zusammenbruchs ist ein Lehrer, der uns mit den wesentlichen Fragen des Lebens konfrontiert. Haben wir den Mut und die Tiefe, von einer solchen Lehrerin zu lernen?

Der Kollaps und die Weisheitstraditionen

Wenn wir beginnen, den globalen Kollaps als Lehrer zu verstehen, wird auch das Ultimative und das Existenzielle des Lebens wieder sichtbar. Dies war schon immer die Domäne aller großen spirituellen Traditionen. Unsere tiefsten religiösen und mystischen Fragen sind Fragen nach der Beziehung zwischen dem Sterblichen und dem Ewigen, dem Endlichen und der Unendlichkeit. Die Weisheitstraditionen verfügen über einen immensen Erfahrungsschatz, wie wir existenziellen Krisen begegnen können. Der globale Kollaps bringt nun in unserem säkularen Zeitalter eine neue Dringlichkeit und Relevanz in diese alten Fragen.

Bemerkenswerterweise ist in den Weisheitstraditionen mit all ihren sehr unterschiedlichen Antworten der Tod nie einfach das Ende. Ja, er ist eine Konfrontation mit dem Nichtwissen. Er ist das Ende aller relativen Gewissheiten. Der Tod zwingt uns, auf eine tiefe Weise loszulassen, wie wir es sonst nicht könnten. Aber es gibt eine Katharsis in diesem Tod: Die Traditionen sprechen von Wiedergeburt, Auferstehung, Neugeburt oder Befreiung, wie auch immer sie diesen »Sieg über den Tod« verstehen.

Die Art, wie wir die Klimakrise wahrnehmen, ist ein Spiegelbild unseres technologischen Blicks auf die Welt.

Der globale Kollaps lädt uns dazu ein, uns in unserer Identität als Menschen neu auszurichten – nämlich auf den Prozess des Lebens selbst. Statt uns obsessiv mit der Frage zu befassen: Was wird aus mir?, kann angesichts der Krise ein neuer Fokus entstehen, indem unsere Sorge dem Erhalt des komplexen und kreativen Lebens auf diesem Planeten gilt. Wir können die Intelligenz unserer Spezies dazu nutzen, um die Lebenssysteme der Erde zu erhalten und die regenerativen Kräfte ihrer Ökosysteme zu fördern. Dies ist keine moralische Aufforderung – auch kein Aufruf, sich gegenseitig zu kritisieren oder zu beschämen. Es ist ein neues Ethos, das aus einer neuen Beziehungsfähigkeit entsteht. Denn es macht einen gewaltigen Unterschied, ob wir uns getrennt oder verbunden fühlen. Die neue Ethik, die sich gerade zeigt, entsteht aus einer neuen Wahrnehmung der Verbundenheit mit allem Leben und nicht aus einem moralischen Druck, Verhalten zu ändern. Und, wenn wir uns dadurch auch wieder von unserer Sterblichkeit berühren lassen, zeigt sich noch etwas, was immer wieder eine Einsicht der großen Weisheitstraditionen war – die Kraft der Ruhe, die sich einstellt, wenn der Tod sein darf. Erst in diesem Sein-Dürfen zeigt sich die Zeitlosigkeit.

Unsere Geschichte, gerade auch unsere abendländische, ist eine Geschichte der Spaltungen. Vieles beginnt mit Platon. Mit der platonischen Trennung zwischen Körper und Geist wurden wir zu Fremden in dieser Welt. Ebenfalls in diese Geschichte gehört der christliche Schöpfergott, der die Welt von außen erschaffen hat und sie von außen ordnet und beherrscht. Und dieser Schöpfergott ist zum Vorbild unserer modernen Identität geworden. In der frühen Neuzeit wurde er zum Uhrmacher und die Welt zu einem mechanischen Uhrwerk. Diesen Gott haben wir aufgegeben und uns teilweise an seine Stelle gesetzt, aber die Welt ist immer noch dieses mechanische Uhrwerk. Es ist jetzt viel komplexer geworden, nicht nur ein mechanisches Getriebe. Es besteht aus kybernetischen Systemwelten, aus quantenmechanischen Chaosräumen, die wir nur statistisch berechnen können, aber berechnen können wir sie. Wir wurden zu den Rechengöttern der technologischen Innovation. Heute wird sichtbar, dass diese technologische Sicht auf die Welt auf Annahmen basiert, die uns jetzt auch daran hindern, auf die eigentlichen Wurzeln der Klimakrise zu sehen.

CO2-Berechnungen

Die Art und Weise, wie wir die Klimakrise wahrnehmen, ist ein Spiegelbild unseres technologischen Blicks auf die Welt. Charles Eisenstein macht in seinem Buch »Klima: Eine neue Perspektive« immer wieder darauf aufmerksam, welchen Tunnelblick wir bezüglich der CO2-Emissionen entwickelt haben. Wenn sich unsere Beziehung zur Erde ausschließlich um den CO2-Ausstoß und andere Klimagase dreht, dann wird zum Beispiel die Kernenergie wieder eine mögliche Alternative, denn die CO2-Bilanz von Kernkraftwerken ist hervorragend. Dabei übersehen wir, dass wir uns mit der Kernenergie an eine Technologie binden, die die Illusion von Sicherheit nur in einer hoch militarisierten Sicherheitsgesellschaft erzeugen kann.

Selbst die ökologisch gepriesene Wasserkraft sieht in ihrer industriellen Nutzung anders aus, wenn wir sie aus der Perspektive unserer Beziehungsfähigkeit zur lebenden Natur betrachten. Einer der Geburtsmomente der österreichischen Ökologiebewegung – und auch ein prägendes Ereignis in meinem Leben – war, die Erhaltung der Donauauen östlich von Wien, eine der letzten urtümlichen europäischen Auenlandschaften mit einer beispiellosen Vogelwelt und Artenvielfalt, gegen ein weiteres Großkraftwerk an der Donau durchzusetzen. Sollten wir nicht heute, um unsere CO2-Bilanz zu verbessern, die Donauauen zerstören und dort ein CO2-neutrales Flusskraftwerk bauen? Aus technokratischer Sicht auf unsere CO2-Bilanz ist dies fast ein notwendiger Schritt, um unser Klima zu retten. Genau aus diesem Grund beginnt ein Teil der Klimabewegung, sich für neue Atomkraftwerke auszusprechen. In Frankreich und Finnland werden sie mit diesen Argumenten schon gebaut.

Tragischerweise erlebt die verkürzte, technokratische Sicht auf die Welt, die unsere Kultur in diese gefährliche Situation gebracht hat, unter den jungen Klimaaktivisten heute eine neue unkritische Renaissance. Zur Verteidigung gegen die groben Verschwörungstheorien der Klimaleugner versammeln sich viele »hinter der Wissenschaft«, aber das ist ein zweischneidiges Schwert. Es braucht die Verteidigung der wissenschaftlichen Aufklärung, um den Mythen und Lügen vieler Verschwörungstheorien entgegenzutreten. Aber es braucht auch die Kritik der Wissenschaft, um die Wurzeln des Problems zu verstehen. Ironischerweise sind sowohl viele Klimaaktivisten als auch die Verleugner des Klimawandels tief in unserer europäischen Metaphysik gefangen, egal ob in ihrer christlich-platonischen oder modern-positivistischen Spielart. Die Scheuklappen des materialistischen Reduktionismus haben uns in eine Situation gebracht, in der wir nicht mehr in der Lage sind, das Leben auf diesem Planeten in seinen vielen Formen wahrzunehmen, weil Realitäten, die sich nicht in mathematische Formeln pressen lassen, einfach sowohl Wert als auch Existenz abgesprochen werden.

Es ist nicht so sehr, dass wir die Folgen der CO2-Produktion unterschätzen, sondern vielmehr, dass die Institutionen unserer Gesellschaft nicht in der Lage sind, die lebenden Systeme der Erde wahrnehmen zu können. Im monetarisierten Tunnelblick unserer modernen ökonomisch ausgerichteten Gesellschaft hat das Ökosystem der Donauauen in seiner Schönheit und Vielfalt keinen wirklichen, nachmessbaren Wert. Wir nehmen die Erde nicht mehr in den Dimensionen wahr, in denen sie tatsächlich existiert – als ein großes, lebendiges Beziehungsgeschehen. Vielleicht ist die Klimakrise letztlich eine Beziehungskrise.

Interbeing als neue Identität

Die alte Geschichte, die uns an den Rand des Abgrunds gebracht hat, ist eine Geschichte der Trennung und Quantifizierung. Charles Eisenstein und andere sprechen in Anlehnung an Thich Nhat Hanh von der neuen Geschichte als einer Geschichte des Interbeing. Interbeing ist die Erkenntnis unserer tiefen Verbundenheit und Einheit mit allem Leben. Unsere Körper bestehen aus den Elementen – wie die Erde sind wir zu 70 Prozent aus Wasser; unsere Knochen bestehen aus der gleichen Substanz wie der Kalkstein der Dolomiten. Wir sind Erde – bewegt, bewusst, und reflektierend. Und doch ist es so einfach, auch die neue Geschichte nur aus der Perspektive der alten wahrzunehmen. Wir sind so daran gewöhnt, unsere Welt durch unsere eigene isolierte Brille zu sehen. Wenn es möglich ist, unsere Identität zu verändern und uns nicht mehr als isolierte, nutzenmaximierende getrennte Einzelne zu verstehen, die in einem durch Geld organisierten Weltmarkt den größtmöglichen Nutzen erzielen wollen, dann sind neue gemeinsame Praxisfelder nötig, in denen wir uns in unserer Wirheit wahrnehmen und unsere Wir-heit praktizieren können. Dies ist ein großes Unterfangen in der Geschichte des Bewusstseins, bewusst unsere eigene Transformation zu übernehmen und uns vom Ich zum Wir, von der Entfremdung zur Ganzheit zu bewegen.

Ironischerweise sind sowohl viele Klima-Aktivisten als auch die Verleugner des Klimawandels tief in unserer europäischen Metaphysik gefangen.

Aufgeschlossene, spirituell denkende Menschen können diese Impulse der Verbindung, des Miteinanders und des ko-kreativen Wir in die Debatte um den globalen Kollaps einbringen. Wir können unser modernes Weltbild in einer Weise hinterfragen, wie es andere Beteiligte vielleicht nicht können. Die meisten Beteiligten sind in verschiedenen Varianten der herkömmlichen, europäischen Metaphysik gefangen. Wir sollten, zumindest theoretisch, durch unsere Bewusstseinspraktiken, wie z.B. Meditation, in der Lage sein, eine Praxis des Nicht-Wissens zu kultivieren, eine Praxis, die es uns erlaubt, Vertrauen in die tiefere Ganzheit des Lebens zu bilden. Die buddhistischen Praktiken der Interdependenz sind auch Praktiken, um unsere getrennte Existenz loszulassen, die uns für die immer gegenwärtige Ganzheit, die uns umgibt, blind macht.

Vielleicht besteht unser Beitrag zur Klimakrise darin, diese Perspektive zu eröffnen oder in die Diskussion zu bringen, dass wir ohne eine grundlegend neue Wahrnehmung der Wirklichkeit diese Krise nicht meistern können. Es ist zu einfach, Abkürzungen zu finden, die dann nur neue Sackgassen darstellen. Können wir uns bewusst machen, wie unsere neoliberale Kultur ihre Weltsicht auf bestimmte Wahrnehmungen reduziert und wie tief diese in unser gesellschaftliches Selbstbild eingedrungen sind? Realitäten, die sich nicht in berechenbarem Geldwert ausdrücken lassen, sind irrelevant geworden. Vielleicht ist es dringend notwendig, von anderen Kulturen zu lernen, die in ihrem Kern andere verbindende Normen entwickelt haben.

Eine demütige Neugierde für andere Kulturen, auch gerade für indigene Völker, die seit Jahrtausenden mit der Natur in unmittelbarer Beziehung leben, eine tiefe Anerkennung unserer gegenseitigen Abhängigkeit von allem, ein Sich-Einlassen auf eine offene und gegenwärtige Bewusstheit und das Vertrauen in den Lebensprozess, unsere Fähigkeit, mit anderen Menschen zusammenzukommen, eine Ehrung der Ganzheit und Integrität der Biosphäre, eine Erkenntnis der Heiligkeit der Elemente, ein Loslassen der Angst vor dem Tod – das sind alles Lektionen, die der globale Kollaps uns als Lehrer anzubieten hat. Es könnte uns dazu führen, tief mit dem Leben zu fühlen, das gerade verloren geht, und die Intelligenz und Liebe, aus der wir entstanden sind, durch uns handeln zu lassen. Dies könnte der Beginn der neuen Geschichte des Interbeings sein. Und vielleicht ist es das, wofür wir in dieser Zeit des Kollapses hier sind: alles zu tun, was wir tun müssen, um die menschliche Identität über den Homo oeconomicus hinaus zum Homo interbeing zu transformieren.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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