Der Markt macht blind

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Interview
Published On:

November 2, 2021

Featuring:
Walter Ötsch
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Ausgabe 32 / 2021:
|
November 2021
Der Markt
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Wege aus der ökonomisierten Gesellschaft

Oft nehmen wir die Mechanismen des Marktes als eine Gegebenheit, die nicht verändert werden kann. Der Ökonom Walter Ötsch hingegen ist der Auffassung, dass der Markt ein Mythos ist. Seine Wirkung hält uns als Menschen und als Gesellschaft davon ab, die Kraft der Imagination zu nutzen, um eine neue Wirtschaft zu gestalten.

»Territory Dress«, detail boat inside stomach cavity. ©Susan Stockwell 2019 Photo: film still Bevis Bowden

evolve: Wenn wir über den Markt sprechen, dann gehen wir unausgesprochen davon aus, dass er eine Tatsache ist, mit der wir leben müssen. Sie aber sprechen davon, dass der Markt keine Tatsache ist, sondern nur ein Mythos, den wir selbst geschaffen haben und der uns jetzt beherrscht. Wie meinen Sie das?

Walter Ötsch: Alle großen Kategorien wie Nation, Staat, Politik oder Gesellschaft sind letztlich Mythen: Sie sind sozial konstruierte Gebilde, die für sich behaupten, Tatsachen zu sein. Das gilt auch für »den Markt« (in der Einzahl), dem »wir uns« angeblich zu unterwerfen hätten. Dieser Mythos hat ungemein schädliche Auswirkungen, man denke nur an Umweltfragen.

»Den Markt« finden wir in der Wirtschaftstheorie in zwei großen Versionen: bei Friedrich August Hayek, gewissermaßen dem Vater des Neoliberalismus, in seiner Vorstellung vom Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, und in den Mainstream Economics, z. B. in den wichtigsten Lehrbüchern der Wirtschaftstheorie. Hier wird »der Markt« im bekannten Angebot-Nachfrage-Modell erklärt. 

Untersucht man nun die Denkfigur »des Marktes« in diesen Modellen genauer, dann sieht man, dass der Begriff in vielen widersprüchlichen Bedeutungen verwendet wird. Man kann gar nicht die institutionellen Regeln angeben, die vorliegen müssen, damit wir vom »Markt« sprechen können. Aber zugleich ist die Rhetorik von »dem Markt« ungemein verbreitet. Die ganze Gesellschaft ist ökonomisiert, sie ist gleichsam zu einer Gesellschaft »des Marktes« geworden.

Verschüttete Quellen der Moral

e: Was bedeutet die Ökonomisierung der Gesellschaft?

WÖ: Ökonomisierung bedeutet, dass die alte Vorstellung, dass unsere Gesellschaft in einzelne Subsysteme unterteilt ist, die nach Regeln, Logiken und Ethiken fungieren, zunehmend ausgehöhlt wird. Heute sind viele gesellschaftliche Bereiche letztlich betriebswirtschaftlichen Kennziffern, einem Rating und einer Logik der Effizienz unterworfen. Wir sehen das z. B. in der universitären Ausbildung, in der Medizin, in der Pflege und im sozialen Bereich. Dabei geht die spezifische Ethik einer Medizinerin, eines guten Juristen, eines gediegenen Handwerkers oder einer Wissenschaftlerin verloren.

Walter Ötsch

e: Die Ökonomisierung aller Lebensbereiche ist Ausdruck eines bestimmten Weltbildes. Unsere Ethik hängt immer davon ab, wie wir die Welt sehen. Sie haben sich eingehend mit der Kulturgeschichte des wirtschaftlichen Denkens beschäftigt. Wenn man hier ein paar Schritte zurücktritt, um den großen Bogen unserer Kulturgeschichte zu sehen, dann zeigt sich, dass unser moderner Blick auf die Wirtschaft alles andere als selbstverständlich ist.

In einer mittelalterlichen Welt hatten die Menschen eine ganz andere Vorstellung von einer guten Wirtschaft. Effizienz spielte damals keine so große Rolle. Die Macht und der Umgang mit Geld fanden damals ihren richtigen Platz in der Beziehung zu einem dogmatisch gesetzten Gott und seiner »göttlichen Ordnung«. Unsere moderne, säkularisierte Welt kann sich in diese gottgewollte Welt gar nicht mehr hineinversetzen und erst recht nicht in die Selbstverständlichkeit dieser Ordnung.

WÖ: Das ist richtig. Im Mittelalter war die Welt die Schöpfung eines moralisch vollkommenen Gottes. Die Natur weist direkt moralische Aspekte auf. Mit der Neuzeit beginnt sich die Ethik dann nicht mehr auf die Welt, sondern auf das Individuum zu beziehen.

In der Nationalökonomie, die ich kritisiere, finden wir weiterhin ein moralisches Reden über das System »des Marktes«. Auch bei Hayek ist dieser Gedanke zu finden. Er versteht den Markt als historisches Produkt einer Entwicklung von Moral. Sie gipfelt darin, dass die höchste Form von Moral die Anerkennung der Regeln des Marktes sei. Damit ist auch jede spirituelle Vorstellung vom Menschen als einer Quelle der Ethik verlorengegangen. 

Der kanadische Philosoph Charles Taylor wirft diesem Denken in seinem Buch »Die Quellen des Selbst« vor, dass in diesen Theorien eine implizite Ethik zu finden ist, ohne dass eine explizite, reflektierte Ethik zur Sprache kommt. Taylor bezeichnet das als »parasitäre Moral«. Sie speist sich aus Quellen der Moral, die aber nicht als solche anerkannt werden. Hayek zum Beispiel kann nicht anerkennen, dass im Menschen selbst Quellen der Moral vorhanden sind, die ihn durch sein Handeln leiten. Aber so wie wir unseren Alltag oder die sozialen Beziehungen zu unseren Liebsten, zu unseren Kindern, zu den Eltern, zu Kollegen, zu Kolleginnen erleben, ist es immer auch moralisch und ethisch gefärbt. 

Einer der größten Vorwürfe an den Marktbegriff ist, dass darin ein völlig reduziertes Menschenbild entworfen wird: der homo oeconomicus als massengesteuerte Maschine. Diese Person hat nicht die Fähigkeit, für sich selbst ein Selbstbild zu entwerfen, also zu sagen: »Ich bin ich«, und aus diesem Selbstbild Handlungen abzuleiten.

Wenn nun dieses Bild so dominant wie heute geworden ist, dann gelten selbstsüchtige und egoistische Handlungen als »natürlich« und erstrebenswert. Alle anderen, die explizit moralisch argumentieren, müssen sich dann rechtfertigen. Wer in einer unbeschränkten Gier die nächste Null hinter seinem Vermögen haben will, genießt soziale Anerkennung und muss sich nicht rechtfertigen. 

Aber diese Orientierungen brechen heute auf. Wir leben in einer Umbruchzeit, wo es viele Menschen gibt, die angesichts der ökologischen Krise eine bewusst moralische Position einnehmen und für ihr Verhalten Verantwortung übernehmen.

Politik ist eigentlich ihrem Wesen nach imaginär.

Die unsichtbare Hand des Marktes

e: Ich würde gerne noch einmal auf diese simple Definition von Hayek zurückkommen, die sehr viel aussagt: Die eigentliche Ethik ist das, was dem Markt entspricht. Auch Ethik definiert sich über Angebot und Nachfrage auf dem Markt. Das heißt aber, dass hier kein Mensch und auch wir gemeinsam nicht mehr das letzte Wort über Ethik haben, sondern ein abstrakter Mechanismus namens Markt, über den wir keine Kontrolle haben, sagt uns immer, wo es langgeht – die unsichtbare Hand des Marktes. In der Marktlogik geht es aber immer um Effizienz und um etwas, das sich allein über Geldwerte definiert. Der Markt basiert ganz auf dem abstrakten Medium Geld. Wenn uns dieser Mechanismus sagt, was Moral und Ethik ist, haben wir als bewusst gestaltende Menschen nichts mehr zu sagen.

WÖ: Ja, Hayek hatte viele Argumente dafür, warum wir den Markt moralisch verstehen müssen. Er sagt zum Beispiel, nur angesichts des globalen Marktes könnten überhaupt so viele Menschen auf der Erde überleben. Die gesamte Entwicklung des globalisierten Kapitalismus in seiner historischen Form wird dabei von ihm als Evolution der Ordnungen »des Marktes« beschrieben. Diese Entwicklung wird immer nur positiv interpretiert. Hayek zieht daraus den Schluss, dass angesichts dieser Tatsache ein einzelner Mensch keinen Anspruch darauf hat, an diesen Markt irgendwelche Ansprüche zu stellen, nicht einmal den Anspruch auf seine eigene Lebenserhaltung.

»Der Markt« als effizientes Regelsystem bekommt damit die Rolle einer säkularisierten Gottheit. In diesem Regelsystem agieren roboterhafte Wesen, die in sich selbst keine Quellen von Moral besitzen. Der Mensch kann nach Hayek über das System keine moralischen Bewertungen treffen – auch nicht angesichts des Hungers in der Welt oder möglicher Klimakatastrophen.

e: Man muss sich vergegenwärtigen, was das bedeutet. Egal wie unmenschlich das »freie Spiel« des Marktes vielleicht ist, was zählt, ist die Austauschlogik von Geldwerten. Wenn der Markt der moderne Gott ist, dann droht er unsere eigenen moralischen Kräfte, aber auch unsere imaginativen Kräfte zu ersticken. Wir müssen ihm einfach folgen. Der Marktfundamentalismus, wie Sie den Neoliberalismus ja auch bezeichnen, erstickt mit dieser Ideologie jedes imaginative Denken darüber, wie wir die Zukunft gestalten wollen. Gleichzeitig produziert der Kapitalismus eine ungeheure Flut an kreativen Produkten und neuen Erfindungen. Dabei werden imaginative Kräfte freigesetzt, aber auf der gesellschaftlichen Ebene, bei der Frage, wie wir gemeinsam leben wollen, ist der entscheidende Wert die Markteffizienz.

WÖ: Hayek wollte eine neue Utopie des Kapitalismus formulieren. Es sollte eine ultimative Philosophie des Kapitalismus sein, gegen die es kein Gegenargument mehr gibt. Die Pointe dieser Utopie ist, dass danach keine andere Utopie mehr möglich ist.

Die Imaginationskraft zu dieser Utopie schreibt Hayek nur einigen originären Denkern, wie sich selbst, zu. Er entwickelt dabei eine völlig elitäre Vorstellung: Nur eine kleine Minderheit von akademisch trainierten Menschen habe die Fähigkeit, neue Bilder über das Wirtschaftssystem zu entwickeln. 

Gleichzeitig wird die ungeheure Bilderflut, die die Wirtschaft andauernd produziert, nicht analysiert. Sie dient ja nur dazu, dem Markt zu dienen. 

Aber die Wirtschaft ist immer auch imaginativer Natur. Ein Standardbeispiel sind die Produkte, die man an den Börsen handelt. Börsen sind imaginative Orte, weil es immer auch um Zukunftsvorstellungen geht. Aber das sind Imaginationen für den Markt und nicht über den Markt, diese werden abgelehnt, der Markt ist heilig. Wenn nun die Politik – was seit Jahrzehnten geschehen ist – dieser Denkfigur folgt, muss sie zwingend ihre eigene Fantasie verlieren. Dabei ist Politik eigentlich ihrem Wesen nach imaginär. Bei jeder Wahl wird die Zukunft verhandelt. Aber als Folge des marktfundamentalistischen Denkens, das uns heute dominiert, haben viele in der Gesellschaft keine gestaltenden Bilder mehr über die großen Strukturen der Wirtschaft. Die Folge der marktliberalen Ideologie ist der Verlust der politischen Fantasie. 

Die Kraft der Fantasie

»Territory Dress« front detail of Stomach view©Susan Stockwell2018 All Rights Reserved.©photo Seb Camilleri

e: Dabei bräuchte Politik genau diese Imaginationskraft, diese Fantasie, um herauszufinden, wie wir auch jenseits des Marktzwangs unsere Gesellschaft auf eine bewusste Weise gestalten können. Wenn wir keine entwickelten Vorstellungen darüber haben, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, versiegt die Kraft der Demokratie.

WÖ: Die imaginativen Fähigkeiten des Menschen sind eine anthropologische Gegebenheit. Jeder und jede kann über die Welt nachdenken und neue Bilder über eine gute Zukunft entwerfen. Manche würden dem Menschen auch eine spirituelle Basis zuschreiben, aus der diese imaginative Kraft kommt. Egal, wie man sie denkt: Diese Fähigkeit gilt es wiederzuentdecken. Denn die Zukunft ist offen und sie wird von Menschen mit ihren Zukunftsbildern mitgestaltet.

Wie wirken Zukunftsbilder? Nicht indem sie die Zukunft machen (das wäre sinnlose Magie), sondern indem sie Orientierung für das Handeln heute und Kraft für die Gegenwart geben. 

Aber es geht nicht nur darum, imaginativ zu sein, sondern produktiv-imaginativ. Das heißt, Imaginationen zu entwickeln und sich für ihre Durchsetzung einzusetzen, damit sie neue Realitäten werden. Die heutige ökologische Krise hält viele negative Bilder bereit. Die jungen Leute, die im September wegen des Klimawandels einen Hungerstreik begonnen haben, sehen eine völlig dystopische Welt vor sich. Wir brauchen eine gesellschaftliche Anstrengung, ihre Anliegen ernst zu nehmen und diese Energie in einen produktiv-gestaltenden Prozess umzusetzen.

e: Die Kraft der gesellschaftlichen Utopie, der Utopie im positiven Sinne, ist in Verruf geraten. Aber gemeinsam positive Bilder dessen zu entwickeln, was möglich ist, ist selbst eine Kraft. Es ist eine andere Kraft als die Kraft des Marktes, es ist die Kraft der gemeinsamen Vorstellung, des gemeinsamen Wollens. Solche positiven Bilder zu entwickeln, wäre eigentlich eine wesentliche Aufgabe des demokratischen Prozesses. Aber die radikale Marktideologie der letzten Jahrzehnte versieht uns hier mit einem offenen Denkverbot. Selbst junge Menschen, die als Fridays-for-Future-Initiative gegen das System auftreten, haben eigentlich nur die Kraft der Verzweiflung. Auch in der Klimapolitik fehlt eine Befreiung unserer Vorstellungskraft, damit wir gemeinsam wieder Zukünfte verhandeln können. Das wäre eine Befreiung des Politischen.

WÖ: Meine Hoffnung liegt hier in einer lebendigen Zivilgesellschaft. Es gibt tausende Projekte von Menschen weltweit, die nicht in Resignation verfallen sind. Für viele Menschen stellt sich die Frage, wie sie die dystopischen Bilder aushalten und einen Punkt finden können, der Kraft gibt für eine andere Art von Handeln. Ganz entscheidend ist der Umgang mit den negativen Bildern einer möglichen Klimakatstrophe. Es besteht die Gefahr, sich in diesen Dystopien zu verlieren. Wir sollten es schaffen, den Schock dystopischer Bilder in eine Denkweise zu integrieren, in der zugleich Zukunftsbilder entwickelt werden können. Das heißt, negative Zukunftsbilder auszuhalten und zugleich positive Zukunftsbilder zu entwerfen und handlungsfähig zu bleiben. Dazu braucht es auch eine Gemeinschaft, die Einzelne in dieser Balance bestätigt.

Auf einer psychologischen Ebene ist das vielleicht eine der wichtigsten Fragen der Zukunft: Wie können wir angesichts dieser dystopischen Bilder, die realistisch sind, einen Raum betreten, in dem wir uns kollektiv als handlungsmächtig erfahren und in dem wir aus möglichen positiven Bildern Energie beziehen? Hier stellen sich Fragen wie diese: Wie schaut das gute Leben aus? Wie schaut die gute Gesellschaft aus? Welche realistischen, produktiven, integrativen Schritte können wir in diese Richtung entwickeln? 

Die ganze Gesellschaft ist ökonomisiert, sie ist gleichsam zu einer Gesellschaft »des Marktes« geworden.

e: Allein das wäre ja schon ein politischer Auftrag, die Räume zu schaffen, in denen solche Vorstellungen der guten Zukunft, die durchaus auch heterogen sein dürfen, gemeinsam reifen können, um uns als Gesellschaft wieder handlungsfähig zu machen.

WÖ: Die Gesellschaft wird nicht durch Appelle verändert, sondern sie wird durch eine breite Bewegung verändert, die Einfluss auf die öffentliche Meinung hat. Veränderung geschieht auf vielen Ebenen, auch durch die vielen sozialen und ökologischen Projekte, die eine organisatorische Infrastruktur für eine große Veränderung schaffen könnten. Jeder alternative Laden ist die Stärkung einer solchen Infrastruktur, die Druck aufbauen kann in Richtung Politik. Und nachdem die Klimaprobleme zunehmend auf uns zukommen werden, ist ein Umbruch in der Politik in den nächsten Jahren sehr wahrscheinlich. Dazu wird auch die Kritik des Marktbegriffes gehören und die Suche nach Zukunftsbildern, die den Mythos des Marktes ablösen. 

Das Gespräch führte Thomas Steininger.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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